Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. M***** S*****, vertreten durch Dr. Walter Reichholf, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S***** GesmbH, *****, vertreten durch Dr. Stephan Duschel, Mag. Klaus Hanten und Mag. Clemens Kurz, Rechtsanwälte in Wien, wegen Aufkündigung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 5. Mai 2021, GZ 40 R 293/20i-15, womit das Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 1. Oktober 2020, GZ 17 C 298/20m-9, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 335,64 EUR (darin enthalten 55,94 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Eine Rechtsvorgängerin des Klägers mietete 2011 von der Beklagten die verfahrensgegenständliche Wohnung auf unbestimmte Zeit an. Deren Rechtsnachfolger traten ihre Hauptmietrechte an der Wohnung per 1. 7. 2017 an den Kläger ab. Die Beklagte nahm dies zur Kenntnis und schloss am 24. 5. 2017 mit dem Kläger eine Zusatzvereinbarung, in der dieser zum einen auf die Aufkündigung des Mietverhältnisses bis 1. 7. 2022 verzichtet und zum anderen vorgesehen ist, dass das Mietverhältnis von beiden Vertragsteilen unter Einhaltung einer jährlichen Kündigungsfrist zum Ende eines jeden Quartals gerichtlich aufgekündigt werden kann, sofern einer Kündigung nicht zwingende gesetzliche Gründe entgegenstehen.
[2] Das Erstgericht erklärte die gerichtliche Aufkündigung des Klägers – der im Prozess die Ansicht vertrat, die am 24. 5. 2017 vereinbarten Kündigungsbeschränkungen verstießen sowohl gegen § 6 Abs 1 Z 1 KSchG als auch § 879 Abs 3 ABGB – vom 26. 6. 2020 als zum 31. 8. 2020 rechtswirksam und die Beklagte für schuldig, die näher bezeichnete Wohnung vom Kläger geräumt von Fahrnissen binnen 14 Tagen zu übernehmen. Die Bindungsfrist von fünf Jahren und die vereinbarte einjährige Kündigungsfrist unter Einhaltung eines Kündigungstermins zum Ende eines Quartals seien gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB und die betreffenden Klauseln daher unwirksam.
[3] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Der Kündigungsverzicht biete dem Mieter in einem unbefristeten Mietverhältnis keinerlei erhöhte Planungssicherheit und auch sonst keinen wie immer gearteten Vorteil. Der Vorteil des Vermieters, während der Unkündbarkeit des Vertrags mit gesicherten Mieteingängen rechnen zu können und Gewissheit über die Mindestintervalle für allenfalls erforderliche Investitionen vor einer Neuvermietung zu haben, sei berücksichtigungswürdig, müsse aber in einem angemessenen Verhältnis zur Bindung des Mieters an den Vertrag stehen. In oberstgerichtlichen Entscheidungen sei sogar die Vereinbarung eines Kündigungsverzichts in Trainingsverträgen mit einem Fitnesscenter in der Dauer von 24 bzw 36 Monaten als unangemessen lang iSd § 6 Abs 1 Z 1 KSchG erachtet worden. Bei einem Wohnungsmietvertrag komme hinzu, dass die monatliche Zahllast des Mieters um ein Vielfaches höher liege. Der Fitnesscenterbetreiber sei im Gegensatz zum Wohnungsvermieter bei der Kündigung des Vertrags zwar nicht mit allenfalls notwendigen Aufwendungen belastet, weshalb dem Vermieter bei einem Wohnungsmietvertrag durchaus eine längere Frist für einen Kündigungsverzicht als angemessen zuzugestehen sei. Allerdings schlage die Interessenabwägung zwischen der Absicherung des Vermieters gegen häufige Mieterwechsel und der Beschränkung des Mieters, für lange Zeit seinen Wohnort nur wechseln zu können, wenn er eine doppelte Mietzinsbelastung auf sich nimmt, im vorliegenden Fall eindeutig zugunsten des Klägers aus. Ein Kündigungsverzicht für fünf Jahre sei auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Beklagten unangemessen lang und für den Kläger gröblich benachteiligend, die Vereinbarung daher unwirksam. Gleiches gelte für die vereinbarte Kündigungsfrist von einem Jahr zum Quartalsende. Auch hier sei dem Vermieter zwar zuzugestehen, dass allenfalls notwendige Adaptierungen und die Suche nach einem neuen Mieter gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Aber auch dieses Interesse an der Vermeidung eines Mietausfalls sei der Doppelbelastung des Mieters im Falle einer unvorhergesehenen Veränderung seiner Lebensumstände und eines dadurch notwendigen Wohnungswechsels gegenüberzustellen. Es erscheine daher auch die vereinbarte Kündigungsfrist als unangemessen lang und gröblich benachteiligend, weshalb auch diese Vertragsbestimmung unwirksam sei.
[4] Das Berufungsgericht erklärte die Revision für zulässig, weil eine gesicherte oberstgerichtliche Judikatur zur Angemessenheit einer vereinbarten Kündigungsfrist und der Frist für einen vereinbarten Kündigungsverzicht im unbefristeten Mietverhältnis nicht vorliege.
[5] Die gegen das Berufungsurteil erhobene Revision der Beklagten ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.
Rechtliche Beurteilung
[6] In einem gegen sie angestrengten Verbandsklageverfahren wurde die Beklagte mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 20. 1. 2021, 3 R 69/20v, schuldig erkannt, die Verwendung (auch) der hier gegenüber dem Kläger von ihr ins Treffen geführten Klauseln, wonach das auf unbestimmte Zeit geschlossene Mietverhältnis von beiden Teilen unter Einhaltung einer jährlichen Kündigungsfrist zum Ende eines jeden Quartals gerichtlich aufgekündigt werden kann (dort Klausel 4) und der Mieter auf die Kündigung des Vertrags für die ersten fünf Bestandsjahre verzichtet (dort Klausel 5b), in allgemeinen Geschäftsbedingungen und Vertragsformblättern im geschäftlichen Verkehr mit Verbrauchern zu unterlassen und es zu unterlassen, sich auf diese oder sinngleiche Klauseln zu berufen, soweit diese bereits Inhalt der von ihr mit Verbrauchern abgeschlossenen Verträge geworden sind. Die gegen dieses Urteil von der Beklagten erhobene Revision wurde vom Obersten Gerichtshof mit Beschluss vom 27. 5. 2021, 9 Ob 13/21h, zurückgewiesen. Der 9. Senat führte in dieser Entscheidung rechtlich wie folgt aus:
„1. Der Oberste Gerichtshof ist auch zur Auslegung von AGB-Klauseln nicht ?jedenfalls?, sondern nur dann berufen, wenn die zweite Instanz Grundsätze höchstgerichtlicher Rechtsprechung missachtete oder für die Rechtseinheit und Rechtsentwicklung bedeutsame Fragen zu lösen sind (RS0121516). Demnach genügt für die Anrufbarkeit des Obersten Gerichtshofs nicht schon der Umstand, dass es an einer höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu gleichen oder ähnlichen Klauseln mangelt (RS0121516 [T4]). Auch die bloße Häufigkeit der Verwendung strittiger Klauseln vermag die Zulässigkeit der Revision nicht zu begründen (1 Ob 224/06g; RS0121516 [T38]).
2. Gemäß § 6 Abs 1 Z 1 zweiter Fall KSchG sind für den Verbraucher besonders solche Vertragsbestimmungen iSd § 879 ABGB jedenfalls nicht verbindlich, nach denen sich der Unternehmer eine unangemessen lange oder nicht hinreichend bestimmte Frist ausbedingt, während deren der Verbraucher an den Vertrag gebunden ist. Bei der Prüfung, ob eine unangemessen lange Vertragsbindung gemäß § 6 Abs 1 Z 1 zweiter Fall KSchG vorliegt, ist eine Gesamtwertung aller einschlägigen Vertragsumstände vorzunehmen. Die Interessen des Unternehmers auf Durchführung des Vertrags sind gegen die Interessen des Verbrauchers auf angemessene und feststellbare Erfüllungszeit abzuwägen. Die Angemessenheit der Frist richtet sich nach der Art des Geschäfts und den von redlichen Vertragsparteien üblicherweise vereinbarten Fristen. Die sachliche Rechtfertigung einer längeren Bindung des Verbrauchers an den Vertrag kann sich etwa auch aus dem Interesse des Unternehmers ergeben, aufgrund des Umfangs seiner Investitionen und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Risiko für länger klare Verhältnisse zu schaffen, um [sein] kaufmännisches Risiko durch eine sachgerechte Kalkulation beschränken zu können (9 Ob 69/11d Pkt. 3.1. = ecolex 2012, 965 [Graf]; 7 Ob 73/15h Pkt. 3.2.; 4 Ob 110/17f Pkt. 2.; vgl RS0123616). Dem gegenüber steht das Interesse des Verbrauchers an einer nicht allzu langen Bindungsfrist, weil sich nicht nur die gesellschaftlichen Lebensgewohnheiten, sondern auch die persönlichen Lebensumstände des Verbrauchers im Verlauf eines längeren Zeitraums erheblich ändern können (Mayrhofer/Tangl in Klang³ § 6 Abs 1 Z 1 KSchG Rz 18; vgl 3 Ob 132/15f Pkt 4.5.). Diese Interessenabwägung kann naturgemäß immer nur aufgrund der Gesamtumstände des konkreten Vertragswerks beantwortet werden. Die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.
3. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung hat das Berufungsgericht den wirtschaftlichen Nachteilen des Vermieters bei Mieterwechsel (etwa Suche nach einem neuen Mieter oder Kosten für notwendige Arbeiten am Mietgegenstand vor Neuvermietung) die wirtschaftlichen Nachteile des Mieters bei einem Wohnungswechsel (etwa Kosten für Übersiedlung oder Makler) gegenüber gestellt. Dabei hat es berücksichtigt, dass ein Mietvertrag für den Verbraucher typischerweise von hoher wirtschaftlicher Bedeutung ist. Dem Mieter, der die Wohnung wegen einer Änderung seiner persönlichen Lebensverhältnisse nicht weiter benötigt, droht bei einer langen Bindung eine finanzielle Doppelbelastung, weil der alte Mietvertrag noch aufrecht ist, während ein neues Mietverhältnis bereits begründet ist. Eine längerfristige Bindung an den Mietvertrag, die den Verbraucher im Ergebnis zur Zahlung doppelten Mietzinses verpflichten könnte, kann sehr rasch zu einer existenziell bedrohenden Einschränkung seiner wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit führen. Im Regelfall kommt dem Mieter bei Veränderung seiner Lebensumstände, die eine Änderung seiner Wohnsituation erfordern, auch kein außerordentliches Kündigungsrecht nach § 1117 ABGB zu (vgl RS0102015). Hingegen ist eine sachliche Rechtfertigung für die nicht weiter nach erfolgten Investitionen oder anderen Parametern differenzierende Vereinbarung eines dreijährigen/fünfjährigen Kündigungsverzichts nicht zu erkennen. Abgesehen, dass die Beklagte nach den bindenden Feststellungen auch unsanierte Wohnungen vermietet, kann die bloße Sanierung einer Wohnung vor der Vermietung eine derart lange Bindung des Mieters nicht rechtfertigen. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, das Interesse des Mieters, auf massive Veränderungen in seiner eigenen Sphäre in zeitlich angemessener Frist reagieren und die für ihn oft existenziell bedeutsame Wohnungsfrage nach seinen Bedürfnissen regeln zu können, überwiege nach Lage des Falls das wirtschaftliche Interesse des Vermieters am langjährigen Bestand von Mietverhältnissen, ist daher – insbesondere auch unter Heranziehung der aus § 29 Abs 2MRG hervorgehenden Wertungen (vgl Lovrek in Fasching/Konecny³ IV/1 § 560 ZPO Rz 66 mwN; Bresich, Die Zulässigkeit des mietrechtlichen Kündigungsverzichts, RdW 2008/338 Pkt 2.4.; RV 1268 BlgNR XVIII. GP 14) – nicht zu beanstanden. Die Beklagte zeigt in ihrer Revision keine konkreten Umstände auf, die zu einer anderen Beurteilung dieser Interessenlage führen müssten.
4. Die Entscheidung 9 Ob 141/06k (vgl RS0121742), auf die die Revisionswerberin ihre weitere Rechtsansicht stützt, dass im Anlassfall gar keine Interessenabwägung vorzunehmen sei, weil dies bereits der Gesetzgeber durch § 29 Abs 2 MRG getan habe, ist nicht einschlägig. Darin wurde bloß ausgesprochen, dass eine analoge Anwendung der Kündigungsmöglichkeit befristeter Mietverträge des § 29 Abs 2 MRG auf einen unbefristeten Bestandvertrag mit fünfjährigem Kündigungsverzicht des Mieters nicht in Betracht kommt. Mit der Angemessenheit der sich aus dem Kündigungsverzicht ergebenden Vertragsbindung vor dem Hintergrund des § 6 Abs 1 Z 1 KSchG setzte sich der Oberste Gerichtshof nicht auseinander.“
[7] Die angefochtene Entscheidung steht mit dem Ergebnis des Verbandsprozesses im Einklang.
[8] Die für § 879 Abs 3 ABGB (sowie für § 6 Abs 1 Z 1 KSchG) notwendige Interessenabwägung ist als solche einzelfallabhängig (vgl RS0121007 [T2]; RS0016914 [T46]). Eine Einzelfallentscheidung ist für den Obersten Gerichtshof nur dann überprüfbar, wenn im Interesse der Rechtssicherheit ein grober Fehler bei der Auslegung der anzuwendenden Rechtsnorm korrigiert werden müsste (RS0044088 [T8]).
[9] Das Berufungsgericht hat die Interessen beider Parteien abgewogen. Dabei gelangte es mit nicht zu beanstandender Begründung zum Ergebnis, dass der fünfjährige Kündigungsverzicht den Kläger erheblich in seiner Lebensplanung beschränkt und lediglich der beklagten Vermieterin Planungssicherheit bietet, weshalb es den Kündigungsverzicht als gröblich benachteiligend (iSd § 879 Abs 3 ABGB) und folglich unwirksam einstufte. Das Berufungsgericht hat ebensowenig korrekturbedürftig dargelegt, dass die Interessenabwägung auch in Hinsicht auf die vereinbarte Kündigungsfrist von einem Jahr zum Quartalsende zu Gunsten des Klägers ausfällt und gleichfalls hier eine gröbliche Benachteiligung (iSd § 879 Abs 3 ABGB) und somit Unwirksamkeit der betreffenden Klausel vorliegt.
[10] Dass die Abwägung der Interessen unrichtig erfolgte oder gewisse Interessen der Beklagten unberücksichtigt blieben, wird in der Revision nicht dargetan. Wenn sich die Beklagte im Rechtsmittel wiederholt auf die Entscheidung 9 Ob 141/06k bezieht ist ihr zu erwidern, dass sich der Oberste Gerichtshof damals nicht mit dem Einwand, der für fünf Jahre abgegebene Kündigungsverzicht verletzte § 879 Abs 3 ABGB, zu befassen hatte, sondern allein mit der Rechtsansicht, § 29 Abs 2 MRG sei auf unbefristete Mietverträge, in denen der Mieter einen Kündigungsverzicht erklärt hat, analog anzuwenden. Der dortige Kläger zielte auf eine Gesetzwidrigkeit der vereinbarten Kündigungsbeschränkungen iSd § 879 Abs 1 ABGB ab. Die hier unstrittig vorliegende Konstellation einer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern enthaltenen Vertragsbestimmung und damit die Frage von deren Gültigkeit nach § 879 Abs 3 ABGB war nicht Gegenstand der genannten Entscheidung.
[11] Der Oberste Gerichtshof ist – wie bereits in 9 Ob 13/21h ausgeführt – zur Auslegung von AGB-Klauseln nicht jedenfalls, sondern nur dann berufen, wenn die zweite Instanz Grundsätze höchstgerichtlicher Rechtsprechung missachtete oder für die Rechtseinheit und Rechtsentwicklung bedeutsame Fragen zu lösen sind. Die angefochtene Entscheidung bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.
[12] Da es der Beklagten nicht gelingt, eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen, ist die Revision zurückzuweisen.
[13] Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
Textnummer
E132970European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00094.21P.0914.000Im RIS seit
03.11.2021Zuletzt aktualisiert am
20.12.2021