TE Bvwg Beschluss 2021/8/27 W207 2243169-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.08.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

27.08.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W207 2243169-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Vorsitzender und die Richterin Mag. Ivona GRUBESIC sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX , vertreten durch Dr. Christian BURGHARDT, Rechtsanwalt in Wien, als Erwachsenenvertreter, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landstelle Wien, vom 30.04.2021, OB: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

Im Rahmen eines Verfahrens nach den Bestimmungen des Familienlastenausgleichsgesetzes (FLAG) wurde der Beschwerdeführer im Jahr 2013 einer medizinischen Begutachtung unterzogen. In dem entsprechenden Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 20.02.2013 wurde die Funktionseinschränkung „Schizoide Persönlichkeitsstörung“, bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 40 von Hundert (v.H.) nach der Positionsnummer 03.07.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung, sowie ein Gesamtgrad der Behinderung von 40 v.H. festgestellt.

Am 29.05.2020 stellte der Beschwerdeführer im Wege seines Erwachsenenvertreters einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses beim Sozialministeriumservice (in der Folge auch als „belangte Behörde“ bezeichnet). Dem Antrag wurde die Urkunde über die Bestellung zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter vom 02.10.2019 sowie ein Bescheid des XXXX , vom 27.06.2019 betreffend Zuerkennung der Mindestsicherung beigelegt.

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 04.06.2020 wurde der Beschwerdeführer um Vorlage von aktuellen Befunden ersucht.

Mit E-Mail vom 15.06.2020 wurden an die belangte Behörde eine chefärztliche Stellungnahme vom 25.10.2019 und ein ärztliches Gutachten vom 23.10.2019 übermittelt, welche im Auftrag der Pensionsversicherungsanstalt nach den Bestimmungen des Mindestsicherungsgesetzes erstellt wurden.

Die belangte Behörde holte in der Folge ein neurologisches Sachverständigengutachten jenes Facharztes für Neurologie, welcher bereits das Gutachten aus dem Jahr 2013 erstellt hatte, unter Anwendung der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung vom 24.03.2021 ein, in welchem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 24.03.2021 sowie dem vom Beschwerdeführer vorgelegten medizinischen Befund Folgendes, hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben, ausgeführt wurde:
„…

Anamnese:

Seit Jahren habe er psychische Beschwerden, kann wenig Angaben machen, traumatisierende Kindheit hat AHS abgebrochen, keine Berufsausbildung, er stehe im XXX in Behandlung seit 2a (kein Befund vorliegend)

Derzeitige Beschwerden:

er höre Stimmen,

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

keine Med Liste

Sozialanamnese:

wohnt in WG (Lok teilbetreut), Mindestsicherung, Erwachsenenvertretung

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

23.10.19 Dr. M. PVA: Kombinierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung / traumatisierender Hintergrund

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

Ernährungszustand:

Größe: cm Gewicht: kg Blutdruck:

Klinischer Status – Fachstatus:

Die Hirnnerven sind unauffällig, die Optomotorik ist intakt.

An den oberen Extremitäten bestehen rechtsseitig keine Paresen, linksseitig bestehen keine Paresen. Die Muskeleigenreflexe sind seitengleich mittellebhaft auslösbar.

Die Koordination ist intakt.

An den unteren Extremitäten bestehen rechtsseitig keine Paresen, linksseitig bestehen keine Paresen,

Fersen/ Zehenspitzen/ Einbeinstand bds. möglich,

die Muskeleigenreflexe sind seitengleich mittellebhaft auslösbar.

Die Koordination ist intakt.

Die Pyramidenzeichen sind an den oberen und unteren Extremitäten negativ.

Die Sensibilität wird allseits als intakt angegeben.

Das Gangbild ist ohne Hilfsmittel unauffällig

Gesamtmobilität – Gangbild:

Status Psychicus:

Zeitlich, örtlich zur Person ausreichend orientiert, Auffassung reduziert, Antrieb ausreichend, subjektiv kognitive Einschränkungen, Stimmung dysthym, keine Ein- und Durchschlafstörung, gibt akkustische Halluzinationen an, nicht suizidal eingeengt

Es ist kein Grad der Behinderung zu ermitteln.

Begründung:

Auf Grund fehlender rezenter Befunde kann kein GdB erhoben werden

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zu Vorgutachten:

[X] Dauerzustand“

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 24.03.2021 wurde der Beschwerdeführer über das Ergebnis der Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt und ihm mitgeteilt, dass aufgrund fehlender Befunde kein Grad der Behinderung erhoben werden habe können. Dem Beschwerdeführer wurde in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben. Das eingeholte Gutachten vom 24.03.2021 wurde dem Beschwerdeführer zusammen mit diesem Schreiben übermittelt.

Der Beschwerdeführer brachte innerhalb der dafür vorgesehenen Frist keine Stellungnahme ein.

Mit Bescheid vom 30.04.2021 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 29.05.2020 auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab, da die Voraussetzungen nicht vorliegen würden, und stellte fest, dass der Grad der Behinderung 0% betrage. In der Begründung verwies die belangte Behörde auf das im Ermittlungsverfahren eingeholte Gutachten, wonach kein Grad der Behinderung erhoben werden habe können, sowie auf die vom Beschwerdeführer nicht genützte Stellungnahmemöglichkeit zu den Ermittlungsergebnissen. Das medizinische Sachverständigengutachten vom 24.03.2021 wurde dem Beschwerdeführer als Beilage zum Bescheid übermittelt.

Mit Schreiben an das Sozialministeriumservice vom 03.05.2021 monierte der Erwachsenenvertreter des Beschwerdeführers das Verhalten des von der belangten Behörde beigezogenen Gutachters im Zuge der persönlichen Untersuchung und bemängelte weiters, dass keine ausführliche Untersuchung des Beschwerdeführers stattgefunden habe und der Beschwerdeführer auch zu keinen weiteren – im Falle des Beschwerdeführers notwendigen – Untersuchungen angehalten worden sei.

Mit Schriftsatz vom 02.06.2021 brachte der Beschwerdeführer schließlich Im Wege seines Erwachsenenvertreters fristgerecht eine Beschwerde gegen den Bescheid vom 30.04.2021 folgenden Inhalts, hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben, ein:

„…

Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.

Geltend gemacht wird Mangelhaftigkeit des Verfahrens.

Bei Herrn L. findet sich im Langzeitverlauf eine neuropsychiatrische Symptomatik im Sinne einer Persönlichkeitsstörung. Er wird im Rahmen einer Förderbewilligung des FSW (Behindertenhilfe für Tagesstruktur incl. Mobilitätskonzept) vom Verein LOK betreut. Herr L. kann - krankheitsbedingt - Termine (wenn überhaupt) nur in Begleitung einer Betreuerin des Vereines LOK wahrnehmen.

So wurde er auch zu einer Untersuchung in der Landesstelle Wien am 02.03.2021 von einer Betreuerin begleitet, wobei sich die nachfolgende Untersuchung (Befundaufnahme?) durch den Amtssachverständigen als fragwürdig und jedenfalls mangelhaft dargestellt hat.

Die Befundaufnahme erfolgte dergestalt, dass der Amtssachverständige - abgesehen davon, dass er sich in äußerst unsachlicher Weise über diverse Betreuungsorganisationen und Erwachsenenvertreter geäußert hat - Herrn L. ohne jede Rücksichtnahme auf dessen Zustand mit Fragen bombardiert und ihm bei jedem Versuch, zu antworten, sofort das Wort abgeschnitten hat. Von einer Anamnese kann somit keine Rede sein.

Hinzu kommt, dass sich der Amtssachverständige - wie sich auch aus seinem „Gutachten“ ergibt - im Wesentlichen auf ein von Herrn L. vorgelegtes Gutachten der PVA gestützt hat und im Übrigen ausführt, dass aufgrund fehlender rezenter Befunde kein GdB erhoben werden kann. Auf das von Herrn L. angeführte „Stimmenhören“ wird überhaupt nicht eingegangen.

Eine eigene (ausführliche) Untersuchung und somit Befundaufnahme hat nicht stattgefunden. Im Übrigen wäre es im Sinne der Einschätzungsverordnung durchaus angezeigt gewesen, allenfalls eine Expertise aus einem anderen Fachbereich heranzuziehen. Das ist deshalb problematisch, wo es - wie etwa bei Herrn L. - krankheitsbedingt (besser: mangels Krankheitseinsicht) keine laufende medizinische Betreuung (und daher auch keine Befunde) gibt. In diesem Falle wäre es unbedingt notwendig, dass der begutachtende Arzt die Anamnese selbst ausführlich vornimmt (auch mit Hilfe von betreuenden Personen) oder eben zu Untersuchungen weiterschickt. Andernfalls würde es ja genügen, wenn man einen Automaten aufstellt, der mit den Befunden gefüttert wird und dann (etwa anhand eines Algorithmus) einen Befund erstellt.

Aus der mangelhaften Befundaufnahme ergibt sich in der Folge die Unschlüssigkeit des Gutachtens und ist daher der darauf basierende Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet.

Es wird daher beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Beweisaufnahme und daran anschließend Entscheidung zurückzuverweisen.

Mit freundlichen Grüßen

Unterschrift des Erwachsenenvertreters“

Die belangte Behörde legte am 08.06.2021 dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde und den Bezug habenden Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu Spruchteil A)

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

?        der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

?        die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:

"§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpass auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.

...

§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familiennamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

...

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.

…“

Der Bescheid der belangten Behörde vom 30.04.2021, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen und festgestellt wurde, dass der Grad der Behinderung 0 v.H. beträgt, erweist sich in Bezug auf ein ordnungsgemäß durchgeführtes Ermittlungsverfahren als mangelhaft, und zwar aus folgenden Gründen:

Beim Beschwerdeführer wurde im Jahr 2013 im Rahmen eines nach den Bestimmungen des Familienlastenausgleichsgesetzes (FLAG) geführten Verfahrens durch den damals beigezogenen Gutachter, einem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, eine „Schizoide Persönlichkeitsstörung bei mittelgradiger Beeinträchtigung im Alltag ohne medikamentöse Therapie“ diagnostiziert, welche mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 40 v.H. nach der Positionsnummer 03.07.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung bewertet wurde, sowie ein Gesamtgrad der Behinderung von 40 v.H. festgestellt.

Die belangte Behörde holte im nunmehr nach den Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) geführten Verfahren wiederum ein medizinisches Sachverständigengutachten jenes Facharztes für Psychiatrie und Neurologie, welcher auch das Vorgutachten aus dem Jahr 2013 erstellt hatte, unter Anwendung der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung ein. Der beigezogene Gutachter führte in seinem nunmehrigen Gutachten – unter Hinweis auf das Fehlen von rezenten Befunden – allerdings lediglich aus, dass kein Grad der Behinderung ermittelt werden habe können.

In der oben wiedergegebenen Beschwerde wird dazu u.a. ausgeführt, dass die gegenständliche Untersuchung, insbesondere die Befundaufnahme, durch den beigezogenen Facharzt für Neurologie mangelhaft durchgeführt worden sei. Der Gutachter habe ausgeführt, dass aufgrund fehlender rezenter Befunde kein Grad der Behinderung erhoben werden habe können, eine (ausführliche) Untersuchung durch den Gutachter oder durch weitere Sachverständige habe nicht stattgefunden.

Die Behörde hat ein Gutachten nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf seine Vollständigkeit (also, ob es Befund und Gutachten im engeren Sinn enthält) und Schlüssigkeit zu überprüfen. In Bezug auf die Beurteilung der Frage des Grades der Behinderung des Beschwerdeführers, die den Verfahrensgegenstand des gegenständlichen Verfahrens bildet, wird das nunmehr eingeholte Sachverständigengutachten vom 24.03.2021 den Anforderungen an die Vollständigkeit und die Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens allerdings nicht gerecht.

Wie bereits erwähnt, führte der beigezogene Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in seinem Gutachten vom 24.03.2021 – unter Hinweis auf das Fehlen von rezenten Befunden – lediglich aus, dass beim Beschwerdeführer kein Grad der Behinderung erhoben werden habe können. Mit Blick auf das Vorgutachten ebendieses Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 20.02.2013 fehlt im gegenständlich eingeholten Sachverständigengutachten aber eine nachvollziehbare gutachterliche (und anschließende behördliche) Auseinandersetzung mit den Ergebnissen dieses Vorgutachtens im Zusammenhang mit der Frage, warum im Vergleich zu diesem Vorgutachten – auch wenn nun keine neuen Befunde vorgelegt wurden – nunmehr von einer maßgeblichen Änderung der vormals bereits rechtskräftig festgestellten Funktionseinschränkung „Schizoide Persönlichkeitsstörung“ im Sinne einer maßgeblichen Verbesserung des Leidenszustandes des Beschwerdeführers auszugehen ist.

In diesem Zusammenhang nimmt der beigezogene Sachverständige aber auch auf die vom Beschwerdeführer im Rahmen der Begutachtung vorgebrachten akustischen Halluzinationen („Derzeitige Beschwerden: er höre Stimmen“) keinen Bezug und setzt sich – unter Hinweis auf das Fehlen von aktuellen Befunden – in seinem Gutachten daher weder mit diesem Vorbringen des Beschwerdeführers noch mit dem vorgelegten – im Auftrag der Pensionsversicherungsanstalt erstellten – Gutachten, in welchem die Diagnose „Kombinierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung/traumatisierender Hintergrund“ gestellt wurde, in nachvollziehbarer Weise auseinander. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sowie die gestellte Diagnose im vorgelegten Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt blieben in der Folge im Verfahren vor der belangten Behörde bisher unberücksichtigt.

Die Unvollständigkeit bzw. die Unschlüssigkeit des Sachverständigengutachtens vom 24.03.2021 hätte von der belangten Behörde bereits bei Erlassung des angefochtenen Bescheides, spätestens aber nach Beschwerdeeinbringung im Rahmen der Möglichkeit zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung berücksichtigt werden können. Die belangte Behörde machte aber von der ihr gemäß § 14 VwGVG iVm § 46 BBG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung keinen Gebrauch.

Das gegenständliche im angefochtenen Verfahren eingeholte medizinische Sachverständigengutachten wird aber – insbesondere im Zusammenhang mit der offenkundig angenommenen maßgeblichen Verbesserung des Leidenszustandes des Beschwerdeführers im Vergleich zum Vorgutachten aus dem Jahr 2013 – den Anforderungen an Vollständigkeit und Schlüssigkeit nicht gerecht und ist daher im gegebenen Zusammenhang nicht geeignet, zur ausreichenden Sachverhaltsklärung beizutragen und ist insofern in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig.

In dieser entscheidungserheblichen Hinsicht hat die belangte Behörde den Sachverhalt nur ansatzweise ermittelt bzw. die Ermittlung des Sachverhaltes in entscheidungswesentlichen Fragen an das Bundesverwaltungsgericht delegiert. Auf Grundlage des von der belangten Behörde bisher eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens ist es aktuell nicht möglich, die Anforderungen an die Sachverhaltsfeststellung zur Beurteilung der Frage nach dem Gesamtgrad der Behinderung des Beschwerdeführers zu erfüllen.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch, dass mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren ein höherer Aufwand verbunden ist.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde sohin unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens ein medizinisches Sachverständigengutachten zu den oben dargelegten Fragestellungen einzuholen und die Ergebnisse bei der Entscheidungsfindung und der Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung des Beschwerdeführers zu berücksichtigen haben.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid der belangten Behörde gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf die oben zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W207.2243169.1.00

Im RIS seit

02.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten