Entscheidungsdatum
22.09.2021Norm
Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1Spruch
W201 2239060-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF als Vorsitzende und die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER sowie den fachkundigen Laienrichter Franz GROSCHAN als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 08.09.2020, OB XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Dem Inhaber des Passes ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar“ in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 Bundesbehindertengesetz (BBG) in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung vom 04.01.2021, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben.
Die Voraussetzungen für die Eintragung des Zusatzvermerkes "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung " in den Behindertenpass liegen vor.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG .
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin hat am 06.02.2020 beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung; Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) unter Vorlage eines Befundkonvolutes einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gem. § 29b StVO gestellt, welcher auch als Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses gilt, sofern die Antragstellerin noch nicht im Besitz eines solchen ist.
1.1. Dem, durch die belangte Behörde eingeholten Sachverständigengutachten
Dris. XXXX Facharzt für Orthopädie, basierend auf persönlicher Untersuchung der Beschwerdeführerin am 19.06.2020, ist im Wesentlichen Folgendes zu entnehmen:
„Klinischer Status, Fachstatus:
Allgemein: Guter Allgemeinzustand, guter Ernährungszustand. Rechtshändig. Kopf, Brustkorb, Bauch unauffällig. Haut normal durchblutet, reizlose Operationsnarbe beide Kniegelenke, beide Großzehen.
Wirbelsäule gesamt: Im Lot, Becken- Schultergeradstand, physiologische Krümmungen, leichte teilfixierte Skoliose, asymmetrische Taillendreiecke, symmetrische, abgeschwächte, seitengleiche Muskulatur. HWS: S 35-0-10, R je 40, F je 20, keine Blockierungen, Nackenmuskulatur nicht druckschmerzhaft. BWS: R 10-0-10, Ott 30/31. LWS: FBA + 30 cm, Reklination 0, Seitneigen 10-0-10, R 10-0-10, Plateaubildung L4-S1. Schober 10:13. SI Gelenke nicht druckschmerzhaft, keine Blockierung.
Grob neurologisch: Hirnnerven frei. OE: MER mittellebhaft, seitengleich, Sensibilität seitengleich, Kraft seitengleich. UE: MER mittellebhaft, seitengleich, Sensibilität seitengleich, Kraft seitengleich. Keine Pyramidenzeichen.
Obere Extremität: Allgemein: Rechtshändig, normale Achsen, plumpe Handgelenkskontur beidseits, seitengleiche Muskulatur, Durchblutung seitengleich, Handgelenkspulse gut tastbar. Seitengleiche Gebrauchsspuren. Schulter bds: S 40-0-180, F 180-0-30, R(F0) 60-0-60, (F90) 80-0-80. Kein schmerzhafter Bogen. Ellbogen bds: S 0-0-135, R 80-0-80, bandstabil. Handgelenk bds: S 50-0-50, Radial-, Ulnarabspreizung je 20. Z- Daumen beidseits, sonst Langfingergelenke nicht bewegungseingeschränkt. Schürzengriff: Nicht eingeschränkt, seitengleich. Nackengriff: Nicht eingeschränkt, seitengleich. Kraft seitengleich, Faustschluss komplett, seitengleich. Fingerfertigkeit seitengleich.
Untere Extremität: Allgemein: Keine Beinlängendifferenz, plumpe Gelenkkonturen, Beinachse normal, abgeschwächte Oberschenkelmuskulatur links, Durchblutung seitengleich, Fußpulse gut tastbar, seitengleiche Gebrauchsspuren. Hüfte bds: S 0-0-110, R 20-0-20, F 20-0-20, kein Kapselmuster. Knie rechts: S 0-0-120, bandstabil, kein Erguss, Patellaspiel nicht eingeschränkt, Zohlenzeichen negativ. Knie links: S 0-0-120, bandstabil, kein Erguss, Patellaspiel nicht eingeschränkt, Zohlenzeichen negativ, abgeschwächte Kniestreckung gegen Widerstand. SG bds: S 10-0-30, bandfest, kein Erguss. Fuß bds: Rückfuß gerade, Längsgewölbe abgeflachte Krümmung, Spreizfuß mit metatarsaler Schwielenbildung und mäßiger Großzehenfehlstellung mit Schuhkonflikt beidseits. Zehen endlagig Bewegungseingeschränkt.
Gesamtmobilität – Gangbild: Kleinschrittig, langsam, Hinken links, ohne Gehhilfe sehr unsicher. Zehen-Fersenstand, Einbeinstand und Hocke gut möglich. Transfer auf die Untersuchungsliege selbständig, langsam, Aufstehen aus dem Sitzen langsam und mit Abstützen. Wendebewegungen rasch. Kommt alleine, aufrecht gehend, normale Straßenkleidung, normaler Konfektionsschuh. Schuheinlagen werden getragen. 1 UA Krücke. Aus- und Ankleiden langsam im Sitzen, ohne Fremdhilfe.
Status Psychicus: Orientiert, freundlich, kooperativ. Langsam.
Ergebnis der durchgeführten Untersuchung:
Lfd. Nr.
Funktionseinschränkung
Position
GdB
01
Knietotalendoprothese beidseits
Fixer Richtsatz, berücksichtigt den guten Bewegungsumfang und den rekonstruierten Oberschenkelmuskelriss mit Kraftabschwächung links
02.05.21
40 vH
02
Mehrsegmental abnützungsbedingter Bandscheibenschaden mit belastungsabhängiger Schmerzhaftigkeit
Unterer Rahmensatz dieser Positionsnummer, da mehrsegmentale
Abnützungszeichen jedoch Fehlen einer neurologischen Symptomatik.
02.01.02
30 vH
03
Polyarthralgien, operierter Hallux valgus beidseits
Oberer Rahmensatz, berücksichtigt den Mehrgelenksbefall mit abnützungsbedingter Achsfehlstellung mit jedoch geringer Bewegungseinschränkung.
02.02.01
20 vH
04
Diabetes mellitus
Mittlerer Rahmensatz, da mit Medikation stabil.
09.02.01
20 vH
Gesamtgrad der Behinderung
50 vH
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung: Es besteht zwischen den Leiden eine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung die eine Erhöhung um eine Stufe erfordert. Leiden 4 – es ist ein unterschiedliches Organsystem betroffen – erhöht nicht.
Aufgrund der vorliegenden funktionellen Einschränkungen liegen die medizinischen Voraussetzungen für die Vornahme nachstehender Zusatzeintragungen vor: Die Untersuchte ist Prothesenträgerin. Folgende Gesundheitsschädigung im Sinne von Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung liegt vor: Zuckerkrankheit:
Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum? Keine höhergradigen Funktionsbehinderungen am Bewegungsapparat. Die Bewältigung einer kurzen Wegstrecke (300m bis 400m), das Überwinden von Niveauunterschieden, das sichere Aus- und Einsteigen und der sichere Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel sind gegeben.
1.2. Im Rahmen des gemäß § 45 Abs. 3 AVG durch die belangte Behörde am 23.07.2020 erteilten Parteiengehörs hat die Beschwerdeführerin ohne Vorlage weiterer Beweismittel im Wesentlich zusammengefasst vorgebracht, dass sie sich bei einem Sturz eine Fractura transsubcapitalis humeri comminuta sin zugezogen habe. Im Rahmen der erforderlichen OP sei eine Stabilisierung mittels 5-Loch-Philosplatte erfolgt. Sie trage seither einen Gilchristverband. Zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wolle sie festhalten, dass sie nur Niederflurgarnituren benützen könne, da die Stufen der Bahnen für sie zu hoch seien. Das Betätigen des Haltewunschknopfes während der Fahrt sei ihr aufgrund des erhöhten Sturzrisikos nicht möglich. Mit Linienbussen sei aufgrund der häufigen Lenkbewegungen der sichere Transport nicht möglich.
1.3. Zur Überprüfung der Einwendungen wurde von der belangten Behörde eine auf der Aktenlage basierende ergänzende medizinische Stellungnahme vom bereits befassten Sachverständigen Dr. XXXX eingeholt, welcher Folgendes zu entnehmen ist:
„Bei der Untersuchung und in Zusammenschau mit den Befundvorlagen ist der Bewegungsumfang der großen Gelenke der unteren Extremitäten an der unteren Normgrenze. Das ermöglicht das Überwinden von Niveauunterschieden. Der erlittene Oberarmbruch am 05.08.2020, der operativ stabilisiert wurde, erfordert eine durchschnittliche Nachbehandlungszeit von 3 bis 4 Monaten. Eine maßgebliche über 6 Monate ununterbrochen andauernde Funktionsbehinderung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten.“
2. Am 10.09.2020 hat die belangte Behörde der Beschwerdeführerin einen unbefristeten Behindertenpass ausgestellt, einen Grad der Behinderung von 50 vH eingetragen und die Zusatzeintragungen „Die Inhaberin des Passes ist Trägerin einer Prothese“ und „Gesundheitsschädigung gem. § 2 Abs. 1 erster Teilstrich VO 303/1996 liegt vor“ vorgenommen.
Gegen die Ausstellung des Behindertenpasses mit einem eingetragenen Grad der Behinderung in Höhe von 50 vH wurde keine Beschwerde erhoben.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.09.2020 hat die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ abgewiesen.
Die Abweisung wurde mit dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung begründet.
4. Gegen diesen Bescheid wurde von der Beschwerdeführerin unter Vorlage medizinischer Beweismittel fristgerecht Beschwerde erhoben. Begründend wurde im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass im Rahmen des stationären Aufenthaltes wegen Oberarmbruches festgestellt worden sei, dass eine hohe Sturzgefahr bestehe. Es seien eine Polyneuropathie und eine vaskuläre Leukenzephalopathie festgestellt worden, welche die Gangunsicherheit erklären könnten. Die Schmerzmedikation hinsichtlich der Schmerzen des Bewegungsapparates sei erhöht worden und sie trage zur Stütze der Wirbelsäule ein Mieder. Sie könne derzeit nur sehr kurze Strecken von max. 100 m mit der UA-Stützkrücke zurücklegen, darüber hinaus benötige sie einen Rollator auch in der Wohnung. Dies sei dem Entlassungsbrief des KH zu entnehmen.
4.1. In der Folge hat die belangte Behörde zur Überprüfung des Beschwerdevorbringens ein medizinisches Sachverständigen von Dr. XXXX Facharzt für Orthopädie, basierend auf der Aktenlage am 21.12.2020, eingeholt in welchem im Wesentlichen Folgendes festgehalten wird:
„Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
? 22.9.2020 Interne Abteilung Akut XXXX , Aufenthalt von 25.8.-16.9.2020. Ursache: Trümmerbruch des linken Oberarmes mit Operation und Stabilisierung mit 5-Lochplatte 10.8.2020. Osteochondrose, Spondylarthrose LWS, Diabetes mellitus Typ II, mäßige Coxarthrosen bds., diskrete Zeichen einer vaskulären Leukenzephalopathie, Z. n. KTEP rechts, KTEP links plus Quadrizepsruptur links, Hallux OP beidseits. Entlassungsmedikation: schmerzstillend Novalgin Filmtabletten, schmerzadaptiert reduzieren. Diclobene-Gel für die Knie beidseits bei Bedarf. Weitere Medikamente: Nomexor 5mg, Urosin 300mg, Sortes 20mg, Sertralin 100mg, Pradaxa Hartkapseln, Fosamax jeden Mittwoch. Weitere Empfehlungen: neurologische Kontrolle in vier Wochen bei milden extrapyramidalen Symptomen. Anamnese: Verdacht auf Polyneuropathie, Wattegefühl, Gangunsicherheit, Untersuchungen der NLG wegen Corona nicht durchgeführt.
? Schädel-CT vom 7.9.2020: diskrete Zeichen einer vaskulären Leukenzephalopathie.
? Neurologisches Konzil vom 7.9.2020 Diagnose: Gangstörung mit rezidivierenden Stürzen. Polyneuropathie bei Diabetes mellitus Typ II. Weitere Empfehlungen im Status: neben einer Polyneuropathie auch milde extrapyramidale Symptome.
? Kontrolle 10.9.2020: Patientin fühlt sich subjektiv sehr gut, im Status heute keine klaren extrapyramidalen Symptome. Verlaufs-Kontrolle ca. in einem Monat bei Bedarf empfohlen.
Lfd. Nr.
Funktionseinschränkung
01
Knietotalendoprothese beidseits.
02
Mehrsegmental abnützungsbedingter Bandscheibenschaden mit belastungsabhängiger Schmerzhaftigkeit.
03
Polyarthralgien, operierter Hallux valgus beidseits.
04
Diabetes mellitus.
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten: Verdacht auf Polyneuropathie, derzeit in Abklärung, ob durch die diabetische Grunderkrankung oder durch eine extrapyramidale Symptomatik bedingt. Im Rehabilitationsbefund angegebenen Einschränkungen der Gehstrecke sind, die im Rahmen des Aufenthaltes festgestellten, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht über 6 Monate vorliegend.
Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum? Es liegen keine höhergradigen Funktionsbehinderungen des Bewegungsapparates vor. Der Bewegungsumfang der Gelenke der unteren Extremität, Kraft und Koordination sind ausreichend kurze Wegstrecke von 300-400m zu bewältigen, Niveauunterschieden zu überwinden.
Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor? Keine vorliegend.“
5. Am 04.01.2021 erließ die belangte Behörde eine Beschwerdevorentscheidung, mit welcher die Beschwerde gegen den Bescheid vom 08.09.2020, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass abgewiesen wurde.
Als Beilage zum Bescheid wurde das Aktengutachten Dris. XXXX vom 21.12.2020 übermittelt.
6. Mit Email vom 25.01.2021 hat die Beschwerdeführerin fristgerecht die Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht beantragt, wobei ausgeführt wurde, dass die Beschwerdeführerin erneut in der Wohnung gestürzt sei. Auf Grund des hohen Sturzrisikos sei es ihr unmöglich, Wege außerhalb der Wohnung ohne Rollator zurückzulegen. Sie fühle sich viel zu unsicher. Zwischenzeitlich sei ihr auch Pflegestufe 1 genehmigt worden.
6.1. Die gegenständliche Beschwerde samt Verwaltungsakt langte der Aktenlage nach am 27.01.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
6.2. Im Zuge der Ladung zur persönlichen Untersuchung vom 29.01.2021 wurde die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass gemäß § 46 BBG neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden dürfen.
6.3. Im zur Überprüfung des Beschwerdegegenstandes durch das Bundesverwaltungsgericht eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten
DDr. XXXX , Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin, wird basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 18.03.2021 im Wesentlichen Folgendes festgestellt:
„Status:
Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut. Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen.
Thorax: symmetrisch, elastisch. Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA. HAT rein, rhythmisch.
Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz.
Integument: unauffällig
Schultergürtel und beide oberen Extremitäten: Rechtshänder. Der Schultergürtel steht links ggr. Höher. Bemuskelung der linken Schulter herabgesetzt, sonst symmetrische Muskelverhältnisse. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden. Schulter links: Narbe ventral 15 cm nach Verplattung einer Humeruskopftrümmerfraktur, Schulter verkürzt, verbacken, Bewegungsschmerzen. Rhizarthrose links mehr als rechts, Subluxation des linken Daumensattelgelenks. Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig. Aktive Beweglichkeit: Schultern rechts F und S je 0/170, links je 0/70, IRIAR bei F 00 rechts 80/0/20, links 70/0/10, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig. Nacken- und Schürzengriff sind rechts uneingeschränkt, links bis annähernd zum linken Ohr bzw. ISG durchführbar.
Becken und beide unteren Extremitäten: Freies Stehen kurz möglich, Zehenballenstand und Fersenstand beidseits kurz mit Anhalten und ohne Einsinken durchführbar. Der Einbeinstand ist nicht möglich. Die tiefe Hocke ist nicht möglich. Die Beinachse ist im Lot. Symmetrische Muskelverhältnisse. Beinlänge ident. Die Durchblutung ist ungestört, keine Ödeme, keine Varizen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Kniegelenk beidseits: Narbe bei Knietotalendoprothese beidseits median, mäßige Umfangsvermehrung und Konturvergröberung, geringgradige Überwärmung, endlagige Beugeschmerzen, links Verschmächtigung der Oberschenkelmuskulatur, das Abheben der linken unteren Extremität aktiv gestreckt nicht möglich, das abgehobene Bein kann gestreckt gehalten werden. Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig. Aktive Beweglichkeit: Hüften SO/90, IRIAR 10/0/30, Knie rechts 0/5/120, links 0/5/115, Sprunggelenke und Zehen sind seitengleich frei beweglich.
Wirbelsäule: Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, regelrechte Krümmungsverhältnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, mäßig Hartspann, Klopfschmerz über der unteren LWS. Aktive Beweglichkeit: HWS: in allen Ebenen frei beweglich. BWS/LWS: FBA: Wegen Angst vor Sturz nicht durchgeführt, Rotation und Seitneigen im Sitzen 200 Lasegue bds. negativ.
Gesamtmobilität — Gangbild: Kommt selbständig gehend mit Halbschuhen mit Rollator, das Gangbild ohne Anhalten nicht möglich, mit Rollator deutlich verlangsamt, etwas breitspurig und kleinschrittig, vorsichtig. Das Aus- und Ankleiden wird zum Großteil mit Hilfe im Sitzen durchgeführt.
Status psychicus: Allseits orientiert; Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb unauffällig• Stimmungslage ausgeglichen.
Diagnoseliste:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktions-einschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
01
Knietotalendoprothese beidseits
02
Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie, Osteoporose
03
Polyarthralgien, Rhizarthrose beidseits
04
Diabetes mellitus, nicht insulinpflichtig
05
Posttraumatische Funktionseinschränkung linkes Schultergelenk bei Zustand nach Oberarmtrümmerfraktur 08/2020
06
Polyneuropathie bei Diabetes mellitus
07
Vaskuläre Leukencephalopathie
? Liegen erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten bzw. des sonstigen Stütz- und Bewegungsapparates vor? Ja. Eine erhebliche Gangbildbeeinträchtigung und Gangleistungsminderung konnte anhand vorgelegter Befunde und durchgeführter Untersuchung festgestellt werden. Insbesondere führen die orthopädischen Leiden mit Knietotalendoprothese beidseits und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und die neurologischen Leiden mit Polyneuropathie und Leukencephalopathie zu einer maßgeblichen Gangunsicherheit.
? Liegen erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit vor? Nein. Eine maßgebliche cardiopulmonale Funktionseinschränkung ist nicht dokumentiert.
? Liegen erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen vor? Die dokumentierte Polyneuropathie und Leukencephalopathie führt zu einer Gangunsicherheit und Gangbildbeeinträchtigung, welche bei der aktuellen Begutachtung nachvollzogen werden kann, siehe Gangbildbeschreibung.
? Liegt eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems vor? Nein
? Stellungnahme zu Anforderungen bei der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel: das Zurücklegen einer Wegstrecke von etwa 300-400 m ist, allenfalls unter Verwendung einer einfachen Gehhilfe, erheblich erschwert. Ggf. ist ein Rollator zum Zurücklegen einer Wegstrecke von 300-400 m erforderlich. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wird durch die Verwendung des Rollators in hohem Maß erschwert. Das Einsteigen und Aussteigen ist durch die Gangunsicherheit und dadurch erforderliche Verwendung eines Rollators maßgeblich eingeschränkt. Der sichere gefährdungsfreie Transport im öffentlichen Verkehrsmittel ist aufgrund der Gangbildbeeinträchtigung und Gangunsicherheit erheblich beeinträchtigt.
? Stellungnahme zu Befunden und Einwendungen: Vorgebracht wird, dass eine hohe Sturzgefährdung bei Polyneuropathie und vaskulärer Leukencephalopathie bestehe, sie Schmerzmittel und ein Mieder benötige. Anhand der aktuellen Begutachtung ist, unter Beachtung sämtlicher vorgelegter Befunde, eine erhöhte Sturzgefährdung nachvollziehbar, sodass eine Verschlechterung objektivierbar ist.
? Begründung einer eventuell vom bisherigen Ergebnis abweichenden Beurteilung Anhand der aktuellen Begutachtung konnte eine maßgebliche Verschlimmerung der orthopädischen und neurologischen Erkrankungen mit Zunahme der Gangunsicherheit festgestellt werden, welche sich in neuerlichen Stürzen im November und Dezember 2020 manifestiert hat. Daher ist eine Neubeurteilung erforderlich.“
6.4. Im Rahmen des vom Bundesverwaltungsgericht gemäß § 17 VwGVG iVm § 45 Abs. 3 AVG am 22.07.2021 erteilten Parteiengehörs wurden weder von der Beschwerdeführerin noch von der belangten Behörde Einwendungen erhoben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Beschwerdeführerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz im Inland. Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin eines unbefristet ausgestellten Behindertenpasses.
1.2. Der Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ ist am 06.02.2020 bei der belangten Behörde eingelangt.
1.3. Bei der Beschwerdeführerin liegen folgende Funktionseinschränkungen vor:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
01
Knietotalendoprothese beidseits
02
Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie, Osteoporose
03
Polyarthralgien, Rhizarthrose beidseits
04
Diabetes mellitus, nicht insulinpflichtig
05
Posttraumatische Funktionseinschränkung linkes Schultergelenk bei Zustand nach Oberarmtrümmerfraktur 08/2020
06
Polyneuropathie bei Diabetes mellitus
07
Vaskuläre Leukencephalopathie
1.4. Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel:
Die bei der Beschwerdeführerin vorliegende Knietotalendorothese beidseits, die degenerativen Veränderungen, die Polyneuropathie und die Leukencephalopathie führen im Zusammenwirken zu einer maßgeblichen Gangunsicherheit und Gangbildbeeinträchtigung aufgrund welcher der sichere und gefährdungsfreie Transport im öffentlichen Verkehrsmittel erheblich beeinträchtigt ist.
Die festgestellten Funktionseinschränkungen wirken sich im Gesamtbild in erheblichem Ausmaß negativ auf die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel aus.
1.5. Der Beschwerdeführerin ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar.
1. Beweiswürdigung:
Zu 1.1.) Die Feststellungen zu den allgemeinen Voraussetzungen ergeben sich aus dem diesbezüglich widerspruchsfreien und unbestrittenen Akteninhalt.
Zu 1.2.) Die Feststellungen zu Art und Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin gründen sich - in freier Beweiswürdigung - auf das durch das Bundesverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten Dris. XXXX sowie auf die von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Beweismittel.
Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten
Dris. XXXX ist vollständig, schlüssig, nachvollziehbar und frei von Widersprüchen. Es wurde auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen. Auch wurde zu den Auswirkungen der festgestellten Funktionsbeeinträchtigung auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel umfassend Stellung genommen. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf dem im Rahmen persönlicher Untersuchung der Beschwerdeführerin erhobenen klinischen Befund, entsprechen unter Berücksichtigung der vorgelegten Beweismittel den festgestellten Funktionseinschränkungen.
Die vorgelegten Beweismittel sind in die Beurteilung eingeflossen. Diese stehen nicht im Widerspruch zum Ergebnis des eingeholten Sachverständigenbeweises, es wird betreffend die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel kein aktuell anderes Funktionsdefizit beschrieben als gutachterlich festgestellt wurde, und sie enthalten auch keine neuen fachärztlichen Aspekte, welche unberücksichtigt geblieben sind. Die Krankengeschichte der Beschwerdeführerin wurde umfassend und differenziert nach dem konkret vorliegenden Krankheitsbild auch im Zusammenwirken zueinander berücksichtigt.
Dr. XXXX erläutert nachvollziehbar, dass bei der Beschwerdeführerin auf Grund der Knietotalendoprothesen beidseits im Zusammenwirken mit den Wirbelsäulenproblemen, der Polyneuropathie und der Leukencepahlopathie eine erhebliche Gangunsicherheit mit Gangbildbeeinträchtigung besteht, welche zu einer maßgeblich erhöhten Sturzgefahr führt.
Sie erläutert schlüssig und auch im Einklang mit den vorliegenden Beweismitteln, dass durch die maßgebliche Gangunsicherheit und die dadurch erforderliche Verwendung eines Rollators die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in hohem Maß erschwert wird und damit auch der sichere und gefährdungsfreie Transport im öffentlichen Verkehrsmittel erheblich beeinträchtigt ist.
Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte auf persönlicher Untersuchung basierende Sachverständigengutachten Dris. XXXX steht mit den Erfahrungen des Lebens, der ärztlichen Wissenschaft und den Denkgesetzen nicht in Widerspruch. Auch war dem Vorbringen sowie den eingeholten und vorgelegten Beweismitteln kein Anhaltspunkt zu entnehmen, die Tauglichkeit der befassten Sachverständigen oder deren Beurteilung beziehungsweise Feststellungen in Zweifel zu ziehen. Auch haben die Verfahrensparteien den Inhalt des eingeholten Sachverständigengutachtens im Rahmen des vom Bundesverwaltungsgericht erteilten Parteiengehörs unbeeinsprucht zur Kenntnis genommen.
Die Abweichung zur Beurteilung im der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Sachverständigengutachten resultiert aus der nunmehrigen Neubeurteilung der Funktionseinschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates.
Die Angaben der Beschwerdeführerin waren sohin geeignet, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Sachverständigengutachten zu entkräften und eine geänderte Beurteilung herbeizuführen.
Zur Erörterung der Rechtsfrage, ob der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist, siehe die rechtlichen Erwägungen unter Punkt II 3.1.
2. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Zu A)
Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten. (§ 1 Abs. 2 BBG)
Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familiennamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen. (§ 42 Abs. 1 BBG)
Der Behindertenpaß ist unbefristet auszustellen, wenn keine Änderung in den Voraussetzungen zu erwarten ist. (§ 42 Abs. 2 BBG)
Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen. (§ 45 Abs. 1 BBG)
Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu. (§ 45 Abs. 2 BBG)
Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist u.a. jedenfalls einzutragen:
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d
vorliegen.
(§ 1 Abs. 4 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen auszugsweise)
Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktions-beeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(§ 1 Abs. 5 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen)
In den Erläuterungen zur Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II 495/2013 wird Folgendes ausgeführt:
Zu § 1 Abs. 2 Z 3 (auszugsweise):
Mit der vorliegenden Verordnung sollen präzisere Kriterien für die Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel festgelegt werden. Die durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bisher entwickelten Grundsätze werden dabei berücksichtigt.
Grundsätzlich ist eine Beurteilung nur im Zuge einer Untersuchung des Antragstellers/der Antragstellerin möglich. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht des Menschen mit Behinderung sind therapeutische Möglichkeiten zu berücksichtigen. Therapierefraktion – das heißt keine therapeutische Option ist mehr offen – ist in geeigneter Form nachzuweisen. Eine Bestätigung des Hausarztes/der Hausärztin ist nicht ausreichend.
Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.
Nachfolgende Beispiele und medizinische Erläuterungen sollen besonders häufige, typische Fälle veranschaulichen und richtungsgebend für die ärztlichen Sachverständigen bei der einheitlichen Beurteilung seltener, untypischer ähnlich gelagerter Sachverhalte sein. Davon abweichende Einzelfälle sind denkbar und werden von den Sachverständigen bei der Beurteilung entsprechend zu begründen sein.
Die Begriffe „erheblich“ und „schwer“ werden bereits jetzt in der Einschätzungsverordnung je nach Funktionseinschränkung oder Erkrankungsbild verwendet und sind inhaltlich gleich bedeutend.
Unter erheblicher Einschränkung der Funktionen der unteren Extremitäten sind ungeachtet der Ursache eingeschränkte Gelenksfunktionen, Funktionseinschränkungen durch Erkrankungen von Knochen, Knorpeln, Sehnen, Bändern, Muskeln, Nerven, Gefäßen, durch Narbenzüge, Missbildungen und Traumen zu verstehen.
Zusätzlich vorliegende Beeinträchtigungen der oberen Extremitäten und eingeschränkte Kompensationsmöglichkeiten sind zu berücksichtigen. Eine erhebliche Funktionseinschränkung wird in der Regel ab einer Beinverkürzung von 8 cm vorliegen.
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH vom 23.05.2012, Zl. 2008/11/0128, und die dort angeführte Vorjudikatur sowie vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/11/0242, vom 27.01.2015, Zl. 2012/11/0186).
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Zusatzeintragung ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel dann unzumutbar, wenn eine kurze Wegstrecke nicht aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe, allenfalls unter Verwendung zweckmäßiger Behelfe ohne Unterbrechung zurückgelegt werden kann oder wenn die Verwendung der erforderlichen Behelfe die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in hohem Maße erschwert. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist auch dann nicht zumutbar, wenn sich die dauernde Gesundheitsschädigung auf die Möglichkeit des Ein- und Aussteigens und die sichere Beförderung in einem öffentlichen Verkehrsmittel unter Berücksichtigung der beim üblichen Betrieb dieser Verkehrsmittel gegebenen Bedingungen auswirkt.
Betreffend das Kalkül "kurze Wegstrecke" wird angemerkt, dass der Verwaltungsgerichtshof von einer unter Zugrundelegung städtischer Verhältnisse durchschnittlich gegebenen Entfernung zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel von 300 - 400 m ausgeht. (vgl. u.a. Ro 2014/11/0013 vom 27.05.2014, 2012/11/0186 vom 27.01.2015)
Auf den Beschwerdefall bezogen:
Wie unter Punkt II. 2. bereits ausgeführt, ist das Beschwerdevorbringen geeignet darzutun, dass die der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegte gutachterliche Beurteilung hinsichtlich der Beurteilung der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt nicht dem tatsächlichen Leidensausmaß der Beschwerdeführerin entspricht.
Die Einschränkungen des Funktionsumfanges des Stütz- und Bewegungsapparates der Beschwerdeführerin wirken sich maßgeblich negativ auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aus.
Durch die maßgebliche Gangbildbeeinträchtigung und die Gangunsicherheit welche zu erhöhter Sturzgefahr führen und welche die Verwendung eines Rollators erforderlich machen, sind das gefahrlose Erreichen, das Be- und Entsteigen und der sichere Transport im öffentlichen Verkehrsmittel nicht gewährleistet.
Die bei der Beschwerdeführerin festgestellten Funktionseinschränkungen wirken sich auf somit maßgeblich negativ auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aus.
Da festgestellt worden ist, dass der Leidenszustand der Beschwerdeführerin ein Ausmaß erreicht, welches die Vornahme der Zusatzeintragung „Der Inhaberin des Passes ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar“ rechtfertigt, war spruchgemäß zu entscheiden.
Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Die Verhandlung kann entfallen, wenn
1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder
2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.
Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden. (§ 24 Abs. 3 VwGVG)
Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen. (§ 24 Abs. 4 VwGVG)
Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden. (§ 24 Abs. 5 VwGVG)
Maßgebend für die gegenständliche Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen für den beantragten Zusatzvermerk sind die Art, das Ausmaß und die Auswirkungen der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.
Zur Klärung des Sachverhaltes wurde daher ein ärztliches Sachverständigengutachten eingeholt. Wie unter Punkt II.2. bereits ausgeführt, wurde dieses als nachvollziehbar, vollständig und schlüssig erachtet.
Im Rahmen des Parteiengehörs hatten die Verfahrensparteien die Möglichkeit sich zu äußern. Das Ergebnis des verwaltungsgerichtlichen Ermittlungsverfahrens wurde jedoch nicht bestritten. Es liegen keine Beweismittel vor, welche mit der gutachterlichen Beurteilung der Funktionseinschränkungen nicht in Einklang stehen. Das Beschwerdevorbringen war – wie unter Punkt II.2. bzw. II.3.1. bereits ausgeführt geeignet, relevante Bedenken an den Feststellungen der belangten Behörde hervorzurufen. Die vorgebrachten Argumente und vorgelegten Beweismittel wurden im eingeholten Sachverständigengutachten berücksichtigt und resultiert daraus die geänderte Beurteilung. Sohin ist der Sachverhalt geklärt und unbestritten. Daher konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben. Der Anspruch einer Partei auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist auch kein absoluter. (VfGH vom 09.06.2017, E 1162/2017)
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung einerseits von Tatsachenfragen abhängt. Maßgebend sind die Art des Leidens und das festgestellte Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen. Andererseits sind Rechtsfragen zu lösen, welchen keine grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Es handelt sich um eine einzelfallbezogene Beurteilung, welche im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
In den Erläuterungen zur Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II 495/2013 wird ausgeführt, dass ausgehend von den bisherigen durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Beurteilungskriterien zur Frage „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ Funktionseinschränkungen relevant sind, die die selbstständige Fortbewegung im öffentlichen Raum sowie den sicheren, gefährdungsfreien Transport im öffentlichen Verkehrsmittel erheblich einschränken. Als Aktionsradius ist eine Gehstrecke von rund 10 Minuten, entsprechend einer Entfernung von rund 300 bis 400 m anzunehmen. Es war sohin keine – von der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abweichende – Neuregelung beabsichtigt.
Vielmehr wird in den Erläuterung ausdrücklich festgehalten, dass im Hinblick auf die ab 01.01.2014 eingerichtete zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeit, um Rechtssicherheit zu gewährleisten und die Einheitlichkeit der Vollziehung der im Behindertenpass möglichen Eintragungen sicherzustellen, die Voraussetzungen, die die Vornahme von Eintragungen im Behindertenpass rechtfertigen, in einer Verordnung geregelt werden sollen.
Es handelt sich um eine einzelfallbezogene Beurteilung, welche im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde.
Schlagworte
Behindertenpass Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W201.2239060.1.00Im RIS seit
02.11.2021Zuletzt aktualisiert am
02.11.2021