TE Bvwg Beschluss 2021/9/27 W261 2244607-1

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Veröffentlicht am 27.09.2021
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Entscheidungsdatum

27.09.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W261 2244607-1/5E

BESCHLUSS!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER sowie die fachkundige Laienrichterin Dr.in Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 31.05.2021, betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses zu Recht beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 24.12.2020 einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b Straßenverkehrsordnung (StVO) (Parkausweis), der entsprechend dem von der belangten Behörde zur Verfügung gestellten und vom Beschwerdeführer ausgefüllten Antragsformular auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gilt und legte einen klinisch-psychologischen Befund der Autistenhilfe vom 09.10.2020 vor, wonach bei diesem ein Asperger-Syndrom, ICD-10 F84.5, diagnostiziert werde. Es würden Auffälligkeiten in allen drei mit Autismus assoziierten Symptombereichen (Soziale Interaktion, Kommunikation, Stereotype und repetitiven Verhaltensweisen und Interessen) vorliegen.

2. Die belangte Behörde holte in der Folge ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 05.02.2021 erstatteten Gutachten vom 16.02.2021 stellte der medizinische Sachverständige die Funktionseinschränkungen Aspergersyndrom mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 30 v.H. fest.

3. Die belangte Behörde übermittelte dem Beschwerdeführer dieses Sachverständigengutachten mit Schreiben vom 24.02.2021 im Rahmen des Parteiengehörs und räumte diesem eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ein.

4. Der Beschwerdeführer gab am 31.05.2021 eine Stellungnahme ab, wonach er am 18.05. beim Psychiater gewesen sei, damit dieser ihm bei der Erstellung des Parteiengehörs helfe. Dieser habe von ihm ergänzende Informationen verlangt, wobei es für den Beschwerdeführer nicht möglich gewesen sei, diese termingerecht zur Verfügung zu stellen. Das Thema sei nicht einfach, er könne phasenweise nicht formulieren und habe oft längere Phasen der Defokussiertheit, in denen er im Automatikmodus seinem gewohnten Tagesmodus folge. Er bemühe sich das baldmöglichst zu Ende zu bringen, er bitte den Akt derweil noch etwas anstauben zu lassen, damit er die Ergänzungen nachreichen könne. Er hoffe, damit nicht zu große Umstände zu machen und bedanke sich für die Zeit.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.05.2021 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab und führte begründend aus, dass das medizinische Beweisverfahren einen Grad der Behinderung von 30 v.H. ergeben habe, und somit die Voraussetzungen zur Ausstellung eines Behindertenpasses nicht gegeben seien. Die belangte Behörde übermittelte mit dem Bescheid das ärztliche Sachverständigengutachten an den Beschwerdeführer.

6. Mit E-Mailnachricht vom 15.07.2021 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid fristgerecht die gegenständliche Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass er sich für die Untersuchung beim medizinischen Sachverständigen sehr gut vorbereitet habe, er habe sich alles aufgeschrieben, da er in freier Rede relevanten Sachen oft vergesse, weil eine derartige Situation sehr fordernd für ihn sei. Er habe die Liste vor Ort erwähnt, es sei jedoch nicht dazu gekommen, dass er diese vortrage. Er habe sich darauf verlassen, dass der Arzt wisse, was er tue. Die Untersuchung habe am Morgen stattgefunden, was nicht seinem Schlaf-Wachrhythmus entsprochen habe, da er seinen Tagesrhythmus komplett in die Nacht verlegt habe. Der Arzt hätte bemerken müssen, dass er massive Probleme in der Alltagsbewältigung habe. Der Sachverständig habe den Beschwerdeführer nicht konkret nach seinen Einschränkungen gefragt, sondern habe eine allgemeine Untersuchung vorgenommen, wo ihm offene Fragen gestellt worden seien. Menschen mit Autismus würden jedoch konkrete Fragen benötigen. Autisten ohne Intelligenzminderung seien durchaus in der Lage sich „normal“ zu verhalten, um nicht aufzufallen. Seiner Recherche nach werde der Grad der Behinderung bei Autismus nach dem Schwergrad von schulischer, beruflicher und sozialer Einschränkung festgelegt. Der Beschwerdeführer könne trotz eines IQ von 135 keinen Schulabschluss vorweisen. Er sei ein guter Schüler in Mathematik und Latein gewesen, sei jedoch in der 5. Klasse wegen des Fachs Französisch sitzen geblieben. Es habe einen wirren Unterricht gegeben und zu Hause habe ihm die Unterstützung fürs Lernen gefehlt. Bei der Wiederholung der 5. Klasse sei er in Englisch durchgefallen. Leider habe er mangels Unterstützung die Schule nicht bestehen können, er habe die Schule dann verlassen. Es habe auch berufliche Einschränkungen zeit seines Lebens gegeben. Der Beschwerdeführer habe mangels eines Abschlusszeugnisses keine Chance gehabt, eine halbwegs passende geistige Aufgabe für sich zu finden. Bei seinen bisherigen Arbeitsstellen habe es sich um mehr oder minder ungelernte Arbeiten mit hohen körperlichen und/oder sozialen Anforderungen gehandelt, was angesichts seiner geistigen Begabung und seiner körperlichen und sozialen Defizite niemals angemessene und langfristig zumutbare Berufe gewesen seien. Er habe bei keinem dieser Jobs lange durchgehalten. Er habe drei Jahre lang beim XXXX durchgehalten, um ein Selbsterhalterstipendium zu erhalten, und weil er ein Zimmer über dem Markt gehabt habe, und sein Chef ihn anrufen habe können, wenn er mal wieder nicht zur rechten Zeit bei der Arbeit erschienen sei, und der Beschwerdeführer sei dann innerhalb von fünf Minuten zur Arbeit angetreten. Es sei für den Beschwerdeführer sehr anstrengend, sich zu bewerben. Er habe Schwierigkeiten, Schriftstücke zu verfassen, weil sein Hirn ihn laufend etwas Anderes tun lasse. Er habe massive Widerstände. Er halte sich nicht für allgemein erwerbsunfähig, habe Interessen im Bereich IT und Design. Das AMS sei für ihn ein Verhinderungsfaktor für seinen beruflichen Erfolg. Anstelle ihm passende Jobs zu vermitteln, werde er laufend für Hilfsarbeiterjobs eingeladen, was für den Beschwerdeführer sehr belastend sei und ihm viel Energie koste. Zudem müsse er laufend völlig sinnbefreite Kurse besuchen. Der Beschwerdeführer leide auch an sozialen Einschränkungen. Er sei von Kindheit an eher mit seiner Umwelt beschäftigt gewesen, als mit Menschen. Er habe sich für das Verhalten von Asseln, Ameisen und anderen Insekten weit mehr interessiert als für Menschen. Er finde es sehr mühsam, Freundschaften zu pflegen. Er passe in keine soziale Nische und telefoniere nicht gerne. Er habe auch mit seiner Familie nur selten Kontakt. Er sei in der Schule ein Außenseiter gewesen und sei in der Volksschule gemobbt worden. Er habe Menschen als Jugendlicher interessanter gefunden und habe diese beobachtet und deren Verhaltensweisen kopiert. Für einen Kontakt mit Mädchen habe er einen Ratgeber gebraucht, welcher ihm Schritt für Schritt erkläre, wie er vorgehen solle. Er habe aktuell so gut wie keine sozialen Kontakte. Er treffe sich täglich mit seiner Mitbewohnerin, dies sei eine Zweckgemeinschaft. Sie respektieren seine Eigenheiten und lasse ihn Großteils in Ruhe. Nun wolle sie, dass er ausziehe, wovor er sich fürchte, weil sie dafür sorgen würde, dass er seine Rechnungen bezahle. Bevor er in dieser WG gewesen sei, habe er regelmäßig Probleme mit seinen Rechnungen gehabt, was dazu geführt habe, dass ihm schon der Strom abgedreht worden sei, er sei zwei Mal delogiert worden und sei dann obdachlos gewesen. Er halte an seinem fixen Tagesablauf fest, alles, was ihn rausbringe, empfinde er als extrem störend. Der Beschwerdeführer sei sehr geräusch- und lärmempfindlich. Als Kind habe der Beschwerdeführer mehrfach explosive Ausbrüche gehabt, bei welchen er vor Wut schreiend auf andere Personen losgegangen sei. Es passiere dem Beschwerdeführer öfter, dass er in Stresssituationen sein Gegenüber beleidige. Das bringe ihn in schwierige Situationen, weswegen er Menschen meide. Einkaufen sei für ihn per se sehr stressig. Er wolle auch die Eintragung, dass er einen Begleithund benötige, dann könne er seinen Hund ins Einkaufszentrum mitnehmen. Er dürfe dann seinen Hund darauf trainieren, dass die Leute Abstand zu ihm halten würden, was ihm ohne diese Eintragung nicht erlaubt sei. Der Beschwerdeführer verlasse ohne Anreiz nicht die Wohnung, was dazu führe, dass er sich zu wenig bewege. Er habe sich nun den Hund angeschafft und gehe mit ihm in der Nacht spazieren. Der Hund helfe dem Beschwerdeführer auch dabei, seinen Alltag zu strukturieren. Der Beschwerdeführer listete in weiterer Folge seine Spezialinteressen auf. Wenn der Beschwerdeführer unter Stress stehe, würden seine Muskeln in Brust- und Bauchbereich zu zittern anfangen, ihm werde teilweise übel, er bekomme dann Angst und müsse sich beruhigen. So etwas habe er alle Monate mal stärker, ab und an als leichtes Muskelzucken. Er habe herausgefunden, dass es sich dabei wahrscheinlich nicht um Symptome von Autismus handle, sondern dass er sehr wahrscheinlich an einer andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung leide, dies angesichts seiner verkorksten Kindheit, Jugend und überwiegend schlechten Erfahrungen mit Arbeitgebern und Ämtern. Mit einem GdB von mehr als 50 % könne er endlich entsprechende Kurse machen bzw. könne er versuchen, sich für eine Lehrstelle im Bereich der IT zu bewerben, da das Unternehmen dann günstigere Konditionen für ihn habe. Das wäre einen Versuch wert, damit er am Arbeitsmarkt Fuß fasse. Er könnte sich dann dank der Zulage in der Sozialhilfe eine Wohnung leisten, welche besser schallgedämmt sei, was seinen allgemeinen Stresspegel enorm senken würde, und damit auch einen Erfolg in anderen Bereichen leichter möglich machen würde.

Der Beschwerdeführer legte der Beschwerde keine medizinischen Befunde bei.

7. Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 22.07.2021 vor, wo dieser am selben Tag einlangte.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.07.2021 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach der Beschwerdeführer österreichischer Staatsbürger ist, und seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A)

Gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (in der Folge VwGVG) hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

1.       wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, ist vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auszugehen. Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.

Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Wie der Verwaltungsgerichtshof im oben angeführten Erkenntnis ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Der Beschwerdeführer leidet unter einem Asperger-Syndrom, welches der von der belangten Behörde beigezogene Sachverständige aus dem Fachbereich der Neurologie nach Position 03.04.01 der Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung von 30 % einstufte. Begründend führte der medizinische Sachverständige aus, dass die Einstufung eine Stufe unter dem oberen Rahmensatz dieser Position erfolgt sei, da Schwierigkeiten im sozialen Bereich bestehen würden und der Beschwerdeführer ohne fachärztliche oder psychotherapeutische Betreuung sei.

Diese Ausführungen des medizinischen Sachverständigen sind im Lichte des im Akt aufliegenden klinisch-psychologischen Befundes der Autistenhilfe vom 09.10.2020 weder schlüssig noch nachvollziehbar. Laut diesem Befund, welcher auf ausführlichen Testungen beruht, leidet der Beschwerdeführer an drei – und nicht nur an einem – mit Autismus assoziierten Symtombereichen.

Dies ist aus dem Grund von Relevanz, weil entsprechend der Einschätzungsverordnung nach Position 03.04.01 „Persönlichkeit- Verhaltensstörung mit geringer sozialer Beeinträchtigung“ von einem Grad der Behinderung von 30% bis 40 % dann auszugehen ist, wenn leichte bis mäßige andauernde Beeinträchtigungen in ein oder zwei sozialen Bereichen vorliegen. Bei einem Vorliegen von Einschränkungen in drei oder mehr sozialen Bereichen wäre die Position 03.04.02 der Einschätzungsverordnung heranzuziehen gewesen, welche einen Grad der Behinderung von 50% bis 70% bei ernsthaften und durchgängigen Beeinträchtigungen in den meisten Bereichen vorsieht.

Der medizinische Sachverständige gab in seinem Gutachten weder an, in welchem „sozialen Bereich“ beim Beschwerdeführer eine Einschränkung besteht, noch berücksichtigte er bei dieser Einschätzung den in sich schlüssigen und nachvollziehbaren klinisch-psychologischen Befund der Autistenhilfe vom 09.10.2020, nach welchem beim Beschwerdeführer dauerhaft Einschränkungen in drei sozialen Bereichen diagnostiziert werden.

Gegenständlich ist die vom medizinischen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Neurologie vorgenommene Beurteilung des Leidens des Beschwerdeführers offensichtlich sachwidrig erfolgt. Das Vorbringen und die bereits bisher vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel enthalten konkrete Anhaltspunkte, dass die Einholung von Gutachtens der Fachrichtungen Psychiatrie erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.

Im fortgesetzten Verfahren wird von der belangten Behörde im ergänzenden Ermittlungsverfahren ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen sein, wobei die Gutachtenserstellung auf Grundlage einer eingehenden persönlichen psychiatrischen Untersuchung des Beschwerdeführers zu erfolgen haben wird. Dabei wird konkret festzustellen sein, in welchen sozialen Bereichen eine dauernde Einschränkung beim Beschwerdeführer vorliegt. Sollte dieses Gutachten zum Ergebnis kommen, dass in nicht mehr als zwei sozialen Bereichen derartige Einschränkungen vorliegen, so möge dies ausführlich – auch unter Berücksichtigung des klinisch-psychologischen Befundes der Autistenhilfe vom 09.10.2020 begründet werden. Nach dieser Untersuchung wird eine Neueinschätzung des Leidens des Beschwerdeführers entsprechend den Kriterien der Einschätzungsverordnung vorzunehmen sein.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der Beschwerdeführer mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat, und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Von der Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wird gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen, zumal aus dem Beschwerdeakt ersichtlich ist, dass eine mündliche Erörterung der Rechtssache mangels ausreichender Sachverhaltserhebungen und Feststellungen der belangten Behörde eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2244607.1.00

Im RIS seit

02.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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