TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/25 W216 2197581-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.06.2021
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Entscheidungsdatum

25.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a

Spruch


W216 2197581-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU), Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.05.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz (in Rechtskraft erwachsen):

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.05.2016 erstmalig einen Antrag auf internationalen Schutz.

Anlässlich seiner Erstbefragung nach dem Asylgesetz im Polizeianhaltezentrum (PAZ) St. Pölten vom 04.05.2016 gab der Beschwerdeführer neben seinen Angaben zum Reiseweg im Wesentlichen an, dass er am XXXX geboren worden sei und die Grundschule 10 Jahre lang in Kabul besucht habe. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, dass seine beiden Brüder XXXX und XXXX als Dolmetscher für die Amerikaner gearbeitet hätten. Vor ca. fünf Monaten seien 5 bis 6 bewaffnete Taliban zu ihnen nach Hause gekommen und hätten einen weiteren Bruder, nach diesen beiden Brüdern und sodann auch nach dem Beschwerdeführer selbst gefragt, jedoch seien sie (alle drei) nicht zu Hause gewesen. Als er nach Hause gekommen sei, hätten XXXX und er beschlossen auszureisen, der Bruder XXXX sei nach Amerika gereist. Er, der Beschwerdeführer, sei mehrmals bedroht worden, weshalb er Angst um sein Leben habe.

1.2. Da der Beschwerdeführer im österreichischen Bundesgebiet – anders als noch in Ungarn, wo er den XXXX als Geburtsdatum angegeben hatte – als minderjährige Person auftrat und zudem augenscheinliche Zweifel an der behaupteten Minderjährigkeit bestanden (vgl. AV vom 10.05.2016, AS 65), wurde ein Handwurzelröntgen durchgeführt und festgestellt, dass in Bezug auf seine Hand links, FFA 76, zur Bestimmung des Knochenalters das Ergebnis "GP 31, Schmeling 4" vorliegt.

In weiterer Folge wurde ein multifaktorielles Altersgutachten eingeholt, welches unter Abwägung mehrerer Teilgutachten zum Ergebnis gelangte, dass das höchstmögliche Mindestalter des Beschwerdeführers zum Untersuchungszeitpunkt (am 14.07.2016) 19,6 Jahre betrage, was dem XXXX als spätestmöglichen fiktiven Geburtsdatum entspreche. Das vom Beschwerdeführer berichtete Lebensalter sei mit dem festgestellten höchstmöglichen Mindestalter nicht vereinbar, die Differenz betrage 2,06 Jahre. Zum Zeitpunkt der Antragstellung am 03.05.2016 habe der Beschwerdeführer ein Mindestalter von 19,4 Jahren aufgewiesen.

1.3. Nach zunächst erfolgter Zurückweisung seines Antrags auf internationalen Schutz gemäß § 5 AsylG 2005 (wegen ungarischer Zuständigkeit) seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und Behebung dieser Entscheidung durch Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.03.2017, XXXX , wurde der Beschwerdeführer im zweiten Rechtsgang am 03.04.2018 niederschriftlich einvernommen und brachte er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen Folgendes vor:

Er habe vom 7. bis zum 17. Lebensjahr die Schule in Kabul besucht. Er habe in Kabul bei seinem Onkel mütterlicherseits gelebt, zu dieser Zeit seien seine Eltern und seine Geschwister in Parwan aufhältig gewesen. Seit ca. 18 bis 19 Monaten würden jedoch auch seine Eltern und Geschwister in Kabul leben. Im Bundesgebiet lebe der Beschwerdeführer nunmehr von der Grundversorgung. Er habe hier Deutschkurse besucht, auch einen Erste-Hilfe-Kurs. Familienangehörige oder sonstige Verwandte habe er in Österreich nicht. Er sei in keinen Vereinen oder Organisationen Mitglied.

Sein Vater habe vor ca. 20 Monaten einen in Pashtu verfassten Drohbrief erhalten, den er in Kopie vorlege. Zwei unbekannte Männer hätten diesen Brief seinem jüngeren Bruder übergeben. Warum der Vater nicht das Original geschickt habe, wisse er nicht. Seine Familie lebe in Kabul, in der Heimatregionen Parwan könnte diese nicht mehr leben. Der Familie gehe es gut, der Vater sei im Ruhestand und sein Bruder arbeite als ehemaliger Schneider in einem Textilgeschäft. In Parwan habe die Familie Grundstücke, welche ein weitschichtiger Verwandter betreue. Im Heimatland habe er noch Angehörige, konkret seine Eltern, drei Brüder und fünf Schwestern, alle würden in Kabul leben. Zudem lebe ein Onkel in Kabul, fünf Onkel mütterlicherseits würden nach wie vor in Parwan aufhältig sein. Er habe keine wirtschaftlichen Gründe gehabt, seine Heimat zu verlassen. In Kabul könnte er im Falle einer Rückkehr nicht leben, dort sei sein Leben in Gefahr. Seine Brüder XXXX und XXXX hätten als Dolmetscher für die Amerikaner gearbeitet; XXXX 6 Jahre lang, XXXX ein Jahr lang; er wisse nicht, in welchem Jahr dies gewesen sei. Eines nachts habe es an der Tür geklopft und sein jüngerer Bruder habe geöffnet. Dies sei in Parwan gewesen. Unbekannte bewaffnete Männer, vermutlich Taliban hätten nach diesen beiden Brüdern gefragt. Sein jüngerer Bruder habe geantwortet, dass diese nicht zu Hause seien, und hätten die Männer in der Folge nach ihm, dem Beschwerdeführer selbst gefragt. Er sei in Kabul gewesen. Die Männer hätten das Haus wieder verlassen. Sein Vater habe noch in derselben Nacht seinen Onkel in Kabul angerufen und habe ihn der Onkel am nächsten Tag nach Hause zu seinem Vater gebracht. Sie hätten in der Folge den Bruder XXXX in Kabul angerufen, der ihm geraten habe, das Land zu verlassen. Noch am selben Tag nächtens sei er mit dem Onkel zurück nach Kabul gefahren, sei dort noch ca. zwei Tage und zwei Nächte verblieben und in der Folge mit dem Bruder XXXX von Kabul aus aus Afghanistan ausgereist. In Kabul selbst habe es keine Bedrohung gegeben, jedoch sei der Drohbrief in Kabul zugestellt worden, sie seien zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr im Heimatland gewesen. Der Drohbrief seit dem jüngeren Bruder in Kabul an der Haustüre übergeben worden. Der andere Bruder, XXXX , sei nach Amerika ausgereist. Er wisse nicht, warum seinem jüngeren Bruder, welcher die Männer getroffen habe, nie etwas passiert sei. Die ganze Familie sei bedroht. Nach Vorhalt, dass seine Familie doch nach wie vor in Afghanistan lebe, erklärte der Beschwerdeführer, dass die Familie heimlich dort lebe. Wenn jemand für die Amerikaner gearbeitet habe, dann werde diese Person getötet. Nach Vorhalt, dass er selbst jedoch nicht für die Amerikaner gearbeitet habe, gab der Beschwerdeführer an, dass oft auch Angehörige von Dolmetschern getötet werden würden. Nach Nachfrage könne er nicht angeben, wo genau sein Bruder XXXX gearbeitet habe, es sei in Kandarhar gewesen. Der Bruder habe eine Prüfung abgelegt, er wisse nicht wie. Nach Vorhalt, dass die Familie nicht heimlich in Kabul leben könne, wenn der Bruder ein Textilgeschäft in Kabul betreibe, gab der Beschwerdeführer an, dass der Bruder Textilien verkaufe, er wisse jedoch nicht, wo sich das Geschäft befinde bzw. wie dieses heiße. Außerdem übernachte der Bruder oft im Textilgeschäft und nicht zu Hause.

1.4. Mit Bescheid vom 27.04.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG) idgF (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. ab (Spruchpunkt II.). Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idgF gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) idgF erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte IV und V.), und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde zusammengefasst zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen sei, den vorgebrachten Fluchtgrund glaubhaft zu machen. In Bezug auf Spruchpunkt II. wurde sinngemäß festgehalten, dass es dem Beschwerdeführer möglich sei, die existenziellen Grundbedürfnisse zu sichern, zumal er auch Verwandtschaft in Afghanistan habe und er auch in Mazar-e-Sharif oder Herat eine Ansiedlungsalternative finden würde; es sei in Afghanistan keine landesweite extreme Gefahrenlage vorhanden. Zu Spruchpunkt IV. wurde erwogen, dass sich die Aufenthaltsdauer von rund 2 Jahren gemessen an der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als zu gering erweise, um von einer nachhaltigen Integration ausgehen zu können und er kein Familienleben im Bundesgebiet führe. Es überwiege das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung, weshalb eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

1.5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher er im Wesentlichen darauf hinwies, dass laut Berichterstattung Zivilisten, die verdächtigt würden mit internationalen Streitkräften zusammenzuarbeiten, in erhöhtem Maße gefährdet seien, ebenso wie Zivilisten, die vermeintlich die Regierung oder die internationalen Gemeinschaften unterstützen würden. Der Beschwerdeführer habe Drohbriefe vorgelegt, wobei ebenfalls bekannt sei, dass Taliban zuweilen Drohbriefe verteilen. Das Verfahren, insbesondere die Beweiswürdigung sei mangelhaft geblieben und würde aufgrund der Allgemeinsituation auch keine innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul oder Herat bestehen. Verwiesen wurde auf einen Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom März 2016 bezüglich Drohbriefe der Taliban, sowie auf einen Lagebericht von Stahlmann zur Allgemeinsituation in Afghanistan.

1.6. Der Beschwerdeführer wurde am 10.01.2019 von seiner Unterkunft abgemeldet und war seitdem unbekannten Aufenthalts.

Am 07.02.2019 langte ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 1d Dublin III-VO der italienischen Behörden ein. Aus dem Schreiben geht hervor, dass der Beschwerdeführer in Italien am 08.01.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Am 07.02.2019 stimmte Österreich dem Ansuchen der italienischen Behörden zu.

Am 29.12.2020 langte ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 1d Dublin III-VO der französischen Behörden ein. Aus dem Schreiben geht hervor, dass der Beschwerdeführer in Frankreich am 13.11.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sodass ein Verfahren nach der Dublin-III-VO geführt wurde.

1.7. Die gegen den Bescheid vom 27.04.2018 eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.01.2020, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des Beschwerdeführers als unbegründet abgewiesen.

Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft gewesen sei. Selbst bei Wahrunterstellung des angegebenen Fluchtgrundes habe nicht erkannt werden können, dass der Beschwerdeführer landesweit einer maßgeblich wahrscheinlichen Bedrohung ausgesetzt wäre. Da der Beschwerdeführer selbst keine Dolmetschtätigkeit verrichtet habe und nicht darzulegen vermocht habe, ein "high-profile"-Ziel zu sein, und die Städte Mazar-e Sharif sowie Herat unter Regierungskontrolle stehen würden, sei im Rahmen einer prognostischen Beurteilung nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in eine dieser Städte Verfolgungshandlungen seitens der Taliban ausgesetzt wäre.

Dieses Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.

1.8. Am 22.01.2021 stimmte Österreich dem Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 1d Dublin III-VO der französischen Behörden vom 29.12.2020 zu.

2. Verfahren über den zweiten Antrag auf internationalen Schutz:

2.1. Nach erfolgter Rücküberstellung des Beschwerdeführers von Frankreich nach Österreich brachte der Beschwerdeführer am 18.03.2021 den nunmehr gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz in Österreich ein (Folgeantrag).

Im Zuge der Erstbefragung zum Folgeantrag am selben Tag gab der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine neuerliche Antragstellung wörtlich an:

"Die alten Fluchtgründe bleiben aufrecht. In Österreich habe ich ein negativ abgeschlossenes Verfahren. Ich bin aber sofort über Italien nach Frankreich gereist. In beiden Ländern habe ich um Asyl angesucht, die Behörden sagten zu mir, dass Österreich für mich zuständig sei. Heute wurde ich per Flug und mit Laissez Passer nach Österreich überstellt. Außerdem möchte ich angeben, dass ich sehr stark gesundheitlich beeinträchtigt bin. Ich war in Frankreich in ärztlicher Therapie. Habe auch dazu Dokumente, die das bestätigen. Außerdem möchte ich angeben, dass meine Cousins sich den Taliban angeschlossen haben, und da sie viele private Videos von mir haben, unter anderen als ich betrunken war, herrscht dort Lebensgefahr für mich. Dies sind all meine Fluchtgründe, die ich genannt habe. Andere Gründe habe ich nicht, weshalb ich hier einen Asylantrag stelle."

2.2. Am 19.04.2021 erfolgte zum Folgeantrag eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West. Dazu befragt, warum er erneut einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, antwortete der Beschwerdeführer, dass er in Afghanistan nicht leben könne, da sein Leben dort in Gefahr sei. Sein derzeitiger Glaube sei dort für ihn gefährlich. Er sei seit 2,5 bis 3 Monaten ohne Bekenntnis, habe aber schon vor 3 bis 4 Jahren angefangen, darüber nachzudenken und habe mit einem Freund, der Christ sei, darüber gesprochen. Einen bestimmten Grund gebe es dafür nicht. Es wisse lediglich sein Cousin, der Polizist in Parwan sei, davon. Dieser habe ihm gedroht, dass er ihn bei einer Rückkehr töten würde. Darüber hinaus seien seine Fluchtgründe aus dem ersten Asylverfahren weiterhin aufrecht.

Zu seinem Gesundheitszustand gab der Beschwerdeführer an, Probleme mit dem Hinterkopf zu haben sowie Geräusche und Summen zu hören.

2.3. Am 28.05.2021 wurde der Beschwerdeführer erneut beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West, niederschriftlich einvernommen und legte dabei eine Überweisung für allgemeine Fachärzte zur Abklärung eines "Tinnitus, anmn. TF Verletzung" vor.

2.4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 28.05.2021 wurde der Folgeantrag des Beschwerdeführers hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA- VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde festgestellt, dass keine Frist für seine freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Die Abweisung des Folgeantrages begründete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keinen neuen Sachverhalt glaubhaft gemacht habe. Eine erfolgte Apostasie habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen können. Da weder in der maßgeblichen Sachlage – und zwar weder im Hinblick auf jenen Sachverhalt, der in der Sphäre des Beschwerdeführers gelegen, noch auf jenen, welcher von Amts wegen aufzugreifen sei – noch im Begehren und auch nicht in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließe, stehe die Rechtskraft des ergangenen Erkenntnisses vom 08.01.2020 dem neuerlichen Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten iSd § 3 AsylG, als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten iSd § 8 AsylG entgegen, weswegen das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu seiner Zurückweisung verpflichtet gewesen sei.

2.5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung mit Schreiben vom 14.06.2021 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Nach Meinung des Beschwerdeführers liege – zusammengefasst – dahingehend ein geänderter Sachverhalt vor, dass sich seine persönliche Situation in Afghanistan und die allgemeine Situation in Afghanistan seit dem Vorverfahren maßgeblich verändert habe. Er habe sich schon seit mehreren Jahren mit einem Religionswechsel beschäftigt und habe seinen Glaubensabfall mittlerweile auch nach außen hin kommuniziert. Sein Cousin, welcher Polizist sei, wisse nunmehr von seinem Abfall vom Islam. Seine Familie habe deswegen auch Probleme und habe Afghanistan verlassen müssen. Sie sei jedoch wieder vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden und er habe seit etwa Mitte März keinen Kontakt mehr zu ihnen. Er vermute, dass sie in die Türkei geflüchtet sei. Darüber hinaus habe er vorgebracht, erkrankt zu sein und in ärztlicher Behandlung zu stehen. Weiters habe sich die Situation in Afghanistan seit dem Beginn des Abzuges der internationalen Truppen wesentlich geändert und hätte die belangte Behörde dahingehend Ermittlungen anstellen müssen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen volljährigen Staatsangehörigen Afghanistans. Er trägt den im Spruch angeführten Namen, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitisch-muslimischen Glaubens. Eine Abkehr des Beschwerdeführers vom Islam kann nicht festgestellt werden. Seine Muttersprache ist Dari.

Die Identität des Beschwerdeführers steht für das vorliegende Verfahren ausreichend fest.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen oder im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leidet. Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers steht seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen.

Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Parwan geboren. Er hat zehn Jahre lang (vom 7. bis zum 17. Lebensjahr) die Schule in Kabul besucht und hat bei seinem Onkel mütterlicherseits gelebt. Seine Eltern und Geschwister sind in der Folge ebenfalls nach Kabul gezogen. Über eine Berufsausbildung oder Arbeitserfahrung verfügt der Beschwerdeführer nicht.

Der Beschwerdeführer hat nach wie vor zahlreiche Familienangehörige in Parwan sowie in Kabul, unter anderen seine Eltern, Brüder und Schwestern. Ein Bruder arbeitet als Schneider in einem Textilgeschäft in Kabul. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seiner Familie bzw. kann diesen wiederaufbauen. Die Familie verfügt nach wie vor über landwirtschaftlichen Besitz in der Heimatprovinz. Dieser wird derzeit von einem Verwandten betreut.

Der Beschwerdeführer hat keine Familienangehörigen oder enge soziale Anknüpfungspunkte in Österreich. Eine besondere Integrationsverfestigung des Beschwerdeführers in Österreich in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht besteht nicht.

Er ist nicht selbsterhaltungsfähig und bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer ein junger Mann ohne schwerwiegender Erkrankung ist, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen und der Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen fällt.

1.2. Zum Verfahrensgang und zu den vorgebrachten Fluchtgründen:

Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das Bundesgebiet und stellte erstmals am 03.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen ersten Antrag begründet er im Wesentlichen damit, dass er Afghanistan verlassen habe, weil er aufgrund der Dolmetschertätigkeiten zweier Brüder von Taliban verfolgt worden sei. Dieses erste Asylverfahren des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.01.2020, XXXX , rechtskräftig negativ entschieden. Unter einem wurde der Beschwerdeführer mit diesem Erkenntnis auf die Wiederansiedelung in den afghanischen Städten Herat oder Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen.

Der Beschwerdeführer hat nach der Antragstellung zu einem nicht bekannten Zeitpunkt Österreich verlassen und war in Italien sowie in Frankreich aufhältig, wo er jeweils ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

Nach erfolgter Rücküberstellung des Beschwerdeführers von Frankreich nach Österreich brachte der Beschwerdeführer am 18.03.2021 im österreichischen Bundesgebiet seinen gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag) ein. Diesen Antrag begründet er zunächst damit, dass seine alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würde. Er sei sehr stark gesundheitlich beeinträchtigt und habe sich in Frankreich in ärztlicher Therapie befunden. Außerdem hätten sich seine Cousins den Taliban angeschlossen und da sie viele private Videos von ihm hätten, unter anderem als er betrunken gewesen sei, herrsche dort Lebensgefahr für ihn. Dies seien all seine Fluchtgründe; andere Gründe habe er nicht. Im Zuge der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab er an, nunmehr seit 2,5 bis 3 Monaten keiner Religion mehr anzugehören, was er einem seiner Cousins im Heimatland erzählt habe. Der Glaubensabfall habe bereits vor drei bis vier Jahren begonnen. Dafür gebe es keinen bestimmten Grund und habe sich sein Leben nicht verändert, er sei jedoch zufriedener.

Festgestellt wird, dass sich zwischenzeitig weder eine maßgebliche Änderung in Bezug auf die den Beschwerdeführer betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat noch in sonstigen in der Person des Beschwerdeführers gelegenen Umständen ergeben hat. Der Beschwerdeführer stützte seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz auf die Behauptung, dass er vom Islam abgefallen sei und nun keiner Glaubensrichtung angehöre; deshalb drohe ihm in Afghanistan Verfolgung. Er hat damit keine neuen Gründe bzw. keine neuen Gründe, denen ein glaubhafter Kern innewohnen würde und dem Asylrelevanz zukommt, vorgebracht.

Auch in Bezug auf die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz kann im Vergleich zu jenem, über den das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 08.01.2020 rechtskräftig entschieden hat, keine maßgebliche Änderung erkannt werden, welche nunmehr in seinem zweiten Asylverfahren eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz gebildet haben, aufzeigen würde. Auch die Rechtslage blieb, soweit entscheidungsrelevant, unverändert.

Eine maßgebliche Änderung der abschieberelevanten Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers kann ebenso nicht auf die auch in Afghanistan vorherrschende Situation betreffend das Virus Sars-CoV-2 bzw. die Krankheit COVID-19 gestützt werden. Denn der Beschwerdeführer gehört als 24-jähriger junger Mann, der unter keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet, keiner Risikogruppe an, bei der im Falle einer Ansteckung ein schwererer Krankheitsverlauf zu befürchten ist.

Ebenso sind hinsichtlich der familiären und privaten Beziehungen des Beschwerdeführers in Österreich und in seinem Herkunftsstaat gegenüber den im rechtskräftig abgeschlossenen Vorverfahren getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten oder Familienangehörigen. Eine intensive Bindung oder ein Abhängigkeitsverhältnis des Beschwerdeführers zu einer in Österreich aufhältigen Person liegen ebenfalls nicht vor.

Festgestellt wird, dass eine nachhaltige, umfassende und fortgeschrittene Integration des Beschwerdeführers während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht stattgefunden hat.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer gegen ihn gerichteten Bedrohung oder Verfolgung, sei es durch staatliche Organe oder durch Private, aufgrund seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) ausgesetzt war oder eine solche im Falle seiner Rückkehr zu erwarten hat.

In Bezug auf die individuelle Lage des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat kann keine, sich in Bezug auf jenen Zeitpunkt, in dem letztmalig über den Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich entschieden wurde, maßgeblich andere Situation festgestellt werden.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Diesbezüglich verweist das Bundesverwaltungsgericht auf die Feststellungen der belangten Behörde im verfahrensgegenständlichen Bescheid (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan, mit Stand vom 02.04.2021, Version 3):

"1.3.1 COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis, ...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11% über dem des Vorjahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.03.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.03.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.03.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.03.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.03.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.03.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.09.2020). Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.03.2021).

1.3.2 Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.1.2021).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021).

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig", sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021).

Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b.; vgl. AP 23.2.2021).

1.3.3 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020; vgl. HRW 13.01.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.01.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.08.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43% aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.08.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.01.2021; vgl. AAN 16.08.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.01.2021, vgl. AIHRC 28.01.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.08.2020).

Zivile Opfer

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.01.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.01.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.02.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante-Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.08.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der Getöteten und Verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.01.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53% verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15% und ISKP (ISIS) für 5%. Bei 25% der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2% der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.01.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019 als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.01.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 01.07.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikhs (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020; vgl. BBC 25.03.2020, USDOD 01.07.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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