Entscheidungsdatum
26.07.2021Norm
AsylG 2005 §54Spruch
G314 2194563-1/16E
G314 2194573-1/15E
G314 2194568-1/12E
G314 2194566-1/12E
G314 2194570-1/12E
GEKÜRZTE AUSFERTIGUNG DES AM 08.07.2021 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , 4. XXXX , geb. XXXX , 5. XXXX , geb. XXXX , alle StA.: Irak, 3. bis 5. gesetzlich vertreten durch die Eltern XXXX und XXXX , alle vertreten durch den Verein Tralalobe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .2018, Zl. XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , betreffend Anträge auf internationalen Schutz, nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung zu Recht erkannt:
A) Den Beschwerden wird teilweise Folge gegeben und die angefochtenen Bescheide dahin abgeändert, dass es in Spruchpunkt IV. jeweils zu lauten hat: „Gemäß § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG ist eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig. Den Beschwerdeführern wird gemäß § 55 Abs 2 iVm Abs 1 und 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ iSd § 54 Abs 1 Z 2 AsylG erteilt“ und die Spruchpunkte V. und VI. ersatzlos behoben werden. Die Spruchpunkte I. bis III. bleiben unverändert.
B) Die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Eine asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführer (BF) im Irak wurde nicht glaubhaft gemacht, sodass Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden ist. Dem Vorbringen zur Bedrohung des Erstbeschwerdeführers (BF1) durch eine schiitische Miliz im Irak kann nicht gefolgt werden, zumal er sich diesbezüglich in Widersprüche verwickelte und nicht ersichtlich ist, warum gerade er zum Ziel solcher Milizen werden sollte, auch wenn sein Onkel Opfer eines Verbrechens geworden sein sollte. Auch aus den Länderberichten ergibt sich, dass eine Verfolgung der BF in Bagdad nur aufgrund der Tatsache, dass sie Sunniten sind, nicht konkret zu befürchten ist. Eine westliche Orientierung der Zweitbeschwerdeführerin (BF2) wurde zuletzt nicht mehr behauptet.
Es ist den BF auch zumutbar, nach Bagdad zurückzukehren, zumal sie dort ein familiäres Unterstützungsnetzwerk haben und abgesehen von der Minderjährigkeit der Kinder keine besonderen Vulnerabilitäten bestehen. Ihnen droht dort keine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention, ebenso wenig würde diese für sie als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen. Die Sicherheits- und Versorgungslage in ihrer Herkunftsregion Bagdad ist nicht so schlecht, dass die Rückkehr für die BF aus diesem Grund unzumutbar wäre. Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide ist daher ebenfalls rechtskonform.
Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 57 AsylG bestehen nicht, sodass auch Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden ist.
Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, durch die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.
Gemäß § 58 Abs 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ (die gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 AuslBG berechtigt) zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und die Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird (Z 2).
Die BF haben weder Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt noch üben sie eine Erwerbstätigkeit aus. Daher ist ihnen aufgrund der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
Die BF halten sich seit 2015 kontinuierlich im Bundesgebiet auf. Insbesondere die Drittbeschwerdeführerin (BF3) und der Viertbeschwerdeführer (BF4) sind hier aufgewachsen und fest in Österreich verwurzelt. Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen der Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.
Insbesondere die BF2 und die minderjährigen BF haben außergewöhnlich Integrationsbemühungen unternommen. Alle BF sind in ihrem Wohnort bestens integriert. Die BF2 und die minderjährigen BF sprechen gut Deutsch. Alle BF haben Freundschaften zu Österreichern geknüpft. Die minderjährigen BF haben ihre ganze bisherige Ausbildung in Österreich absolviert, sodass vor allem in Bezug auf die BF3 und den BF4 eine Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens eingreifen und dem Wohl der Kinder widersprechen würde. Die BF sind strafgerichtlich unbescholten und haben sich keine wesentlichen Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zuschulden kommen lassen. Die BF haben als Familie große Anstrengungen unternommen, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Der Umstand, dass ihnen ihr unsicherer Aufenthaltsstatus stets bewusst sein musste, relativiert zwar das Gewicht ihres Privatlebens im Inland, hat aber vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung insbesondere bei Bedachtnahme auf die Minderjährigkeit der BF3, des BF4 und des Fünftbeschwerdeführers (BF5) nicht zur Konsequenz, dass diesem überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes persönliches Interesse nicht zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen kann.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) verkennt bei der vorzunehmenden Interessensabwägung nicht, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist in diesem konkreten Einzelfall in einer gewichteten Abwägung aller Umstände höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
In teilweiser Stattgebung der Beschwerde ist im Ergebnis eine Rückkehrentscheidung gegen die BF auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig zu erklären und ihnen jeweils gemäß § 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ gemäß § 54 Abs 1 Z 2 AsylG iVm § 55 Abs 1 AsylG zu erteilen. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern, die Spruchpunkte V. und VI. haben als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen.
Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG ist nicht zuzulassen, weil es sich bei der Beweiswürdigung und bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um typische Einzelfallbeurteilungen handelt, bei der sich das BVwG im Rahmen der Rechtsprechung des VwGH bewegte, und keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen hatte.
Diese gekürzte Ausfertigung des nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 08.07.2021 verkündeten Erkenntnisses ergeht gemäß § 29 Abs 5 VwGVG, weil innerhalb der zweiwöchigen Frist kein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs 4 VwGVG gestellt wurde.
Schlagworte
gekürzte Ausfertigung Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässigEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2194573.1.00Im RIS seit
29.10.2021Zuletzt aktualisiert am
29.10.2021