TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/29 W250 1438337-2

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Veröffentlicht am 29.08.2021
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Entscheidungsdatum

29.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


W250 1438337-2/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.11.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II., IV., V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

II. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 09.09.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und die befristete Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigter um zwei weitere Jahre verlängert wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 28.12.2012 als unbegleiteter Minderjähriger im österreichischen Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 01.10.2013, vom gesetzlichen Vertreter des Beschwerdeführers übernommen am 07.10.2013, wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBL I Nr. 100/2005 idgF (im Folgenden: AsylG 2005) sowie des Status eines subsidiär Schutzberechtigen nach § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkte I. und II.), und wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 AsylG aus dem österreichischen Staatsgebiet aus (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei einer aktuellen und konkreten Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention aufgezählten Gründe nicht ausgesetzt gewesen und dies sei zukünftig auch nicht zu erwarten. Der Beschwerdeführer sei im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keinem erhöhtem Gefährdungsrisiko in Hinblick auf eine die Verletzung von Art 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt und die Setzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen sei hier kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 Abs 1 EMRK.

3. Gegen jenen Bescheid (Spruchpunkt I., II. und III.) richtete sich die, noch an den Asylgerichtshof gerichtete, rechtzeitig am 11.10.2013 eingebrachte und zulässige Beschwerde des Beschwerdeführers. In dieser wurde inhaltliche Rechtswidrigkeit des Bescheidinhaltes und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht, mit dem Begehren, dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten, in eventu den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die unter Spruchpunkt III. ausgesprochene Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ersatzlos zu beheben oder zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Bundesasylamt zurückzuverweisen, sowie eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

4. Mit beim Asylgerichtshof am 11.11.2013 eingegangenem Schreiben ergänzte der Beschwerdeführer seine Beschwerde. In diesem begründete der Beschwerdeführer näher, wieso nicht per se von der Unglaubwürdigkeit des völligen Fehlens des sozialen und familiären Netzes des Beschwerdeführers in Afghanistan ausgegangen werden könne. Da sich die Familie des Beschwerdeführers weiterhin in Pakistan befinde, sei dieser Umstand als wesentliches Erkennungsmerkmal bei der Rückkehrfrage anzusehen, dies sei jedoch durch die Behörde nicht erkannt worden. Mit E-Mail vom 23.05.2014 legt der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht weitere Unterlagen zu seiner Integration vor, so eine Schulnachricht einer polytechnischen Schule sowie eine Bestätigung über die Absolvierung eines Schnupperpraktikums.

5. Am 25.11.2014 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer (für dieses Verfahren beeideten und bestellten) Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der minderjährige Beschwerdeführer und sein gesetzlicher Vertreter teilnahmen. Die belangte Behörde bleibt der Verhandlung entschuldigt fern und beantragte schriftlich die Abweisung der Beschwerde. Im Rahmen der Befragung wurden die Fluchtgründe des Beschwerdeführers sowie seine Lebensumstände in Afghanistan und Österreich eingehend erörtert. In der Verhandlung legte der minderjährige Beschwerdeführer diverse Unterlagen vor: Ein Unterstützungsschreiben XXXX vom 20.11.2014, eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs (A1.2.) vom 19.09.2013, eine Schulbesuchsbestätigung einer polytechnischen Schule vom 10.09.2013, eine Schulnachricht einer polytechnischen Schule für das Schuljahr 2013/14 vom 14.02.2014 sowie eine vom 04.07.2014.

6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.12.2014 wurde die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides abgewiesen, der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und gemäß § 8 Abs 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr 100/2005 idF BGBl I Nr 144/2013BF dem Beschwerdeführer der Status des Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dem Beschwerdeführer wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 04.12.2015 erteilt. Zur Erteilung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan erscheine aufgrund seiner Minderjährigkeit, des fehlenden familiären Netzwerks in Afghanistan und seiner fehlenden Berufsausbildung als unzumutbar.

7. Mit Schreiben vom 01.12.2015 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG, dem vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als belangte Behörde bzw. als Bundesamt bezeichnet) mit Bescheid vom 03.12.2015 stattgegeben und eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.12.2017 erteilt wurde.

8. Am 13.11.2017 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung, dem mit Bescheid vom 01.12.2017 vom Bundesamt stattgegeben und eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.12.2019 erteilt wurde. Begründend wurde ausgeführt, aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in Verbindung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers lägen die Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vor.

9. Mit Aktenvermerk vom 23.07.2019 wurde aufgrund der zugegangenen Informationen hinsichtlich der Berichterstattung der zuständigen Polizeidirektion über die Anzeigen und Verurteilungen des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde ein Aberkennungsverfahren eingeleitet. Die Ermittlungen ergaben laut Aktenvermerk, dass die Voraussetzungen zur Aberkennung nicht vorliegen, weil die begangenen Straftaten kein Verbrechen darstellen und keine sonstigen Aberkennungsgründe vorliegen würden.

10. Der Beschwerdeführer stellte am 09.09.2019 erneut einen - den hier gegenständlichen - Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung.

11. Mit Schriftsatz vom 23.10.2019 leitete das Bundesamt ein Aberkennungsverfahren betreffend den Status des subsidiär Schutzberechtigen ein, da von der Erfüllung des Tatbestandes gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG auszugehen sei. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

12. Am 26.11.2019 wurde der Beschwerdeführer im Verfahren über den Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes beziehungsweise die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, er habe in Österreich Deutschkurse und ein Jahr eine polytechnische Schule besucht, auf Baustellen, im Garten und als Küchenhilfe seit 2016 gearbeitet und mit seinem Bruder gemeinsam in einer Wohnung gelebt. Er habe Geld verspielt und sei deshalb gezwungen gewesen sich Geld zu beschaffen weshalb er Drogen verkauft habe. Er habe diese auch selbst konsumiert. Er sei momentan gesund und würde nach Entlassung aus der Haft gerne wieder arbeiten. Er habe keine Familie mehr in Afghanistan.

13. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 29.11.2019, zugestellt am 05.12.2019, erkannte das Bundesamt dem Beschwerdeführer den mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.12.2014 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.) und entzog ihm gemäß § 9 Abs. 4 AsylG die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt II.). Der Antrag des Beschwerdeführers vom 09.09.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde abgewiesen (Spruchpunkt III.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt IV.) und gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.) sowie festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt VI.). Dem Beschwerdeführer wurde als Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage eingeräumt (Spruchpunkt VII.).

Gemäß § 9 Abs. 1 Z. 1 AsylG würden die Gründe für den zugesprochenen Subsidiären Schutz nicht mehr vorliegen. Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Sachverhalt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes (damalige schlechte Lage im Herkunftsstaat, Minderjährigkeit und keine Berufsausbildung) nun nicht mehr vorliegen würde. Die Sicherheitslage habe sich im Vergleich zum Jahr 2018 in Kabul leicht verbessert und es stünden innerstaatliche Alternativen offen. Es sei dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr zumutbar, durch Gelegenheitsjobs für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Der Beschwerdeführer sei jung, gesund und volljährig und verfüge nun über Berufserfahrung im Bereich der Gastronomie, als Bauarbeiter und in der Gartenpflege. Zudem sei die Berufschance in Afghanistan durch die in Österreich erlangte Bildung und Sprachfertigkeiten verbessert worden.

Das Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich sei mangels Vorliegens tiefgehender Bindungen als wenig ausgeprägt anzusehen. Zum in Österreich lebenden Bruder bestehe keine Abhängigkeit. Es würde daher das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich überwiegen.

14. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit Schreiben vom 16.12.2019 Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, er habe in Afghanistan keine Familienangehörigen, sein Bruder und weitere Familienangehörige sowie Freunde würden in Österreich leben und er habe sich hier eine Existenz aufgebaut. Nach Entlassung aus der Haft wolle er in Österreich wieder arbeiten.

15. Am 02.01.2020 langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht ein.

16. Am 16.01.2020 brachte der Beschwerdeführer in einer Stellungnahme vor, er habe Angst nach Afghanistan zurückzukehren. Er habe dort keine Familie, sein Bruder und sein Cousin befänden sich in XXXX .

17. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 29.06.2021 wurde die Rechtssache der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.

18. Mit Stellungnahme vom 05.08.2021 brachte der Beschwerdeführer vor, die belangte Behörde verkenne, dass es bei der Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG zweiter Fall darauf ankomme, ob eine wesentliche Änderung seit letztmaliger Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG eingetreten sei. Der Beschwerdeführer sei bei der letztmaligen Verlängerung am 01.12.2017 bereits volljährig gewesen. Eine Rückkehr sei ihm aufgrund der wirtschaftlichen Situation im Zusammenhang mit der COVID Pandemie, sowie aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage und dem Vormarsch der Taliban nach wie vor nicht zumutbar. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung. Es sei weder zu einer Verbesserung der Situation im Herkunftsstaat noch zu einer Änderung der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers gekommen.

19. Am 06.08.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers statt, bei welcher der Beschwerdeführer vom erkennenden Gericht einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. Die Verhandlungsschrift wurde dem Bundesamt übermittelt. Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer insbesondere ausführlich zu seiner Identität, seiner Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Familienverhältnissen und seinem Leben in Afghanistan sowie seinem Leben in Österreich befragt. Das erkennende Gericht brachte neben dem bereits zur Kenntnis gebrachten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein.

Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er seinen Tod. Er habe keine Freunde oder Familienangehörigen dort, in Österreich habe er Freunde sowie seinen Bruder, einen Cousin und dessen Familie. Er habe in Österreich mehrere Jahre gearbeitet und Deutschkurse besucht. Die begangenen Straftaten bereue er. Der Beschwerdeführer brachte außerdem vor er sei homosexuell, habe erstmals im Jahr 2013 Diskotheken für Homosexuelle besucht und befürchte bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund dessen getötet zu werden. Bisher habe er nicht darüber sprechen wollen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

1.1.1. Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zum muslimisch- sunnitischen Glauben. Der Beschwerdeführer spricht Dari als Muttersprache, er spricht außerdem Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder (AS 53, OZ 23 = Verhandlungsprotokoll vom 06.08.2021; S. 5 f.). Der Beschwerdeführer hat aufgrund eines Bruchs im Kindesalter Probleme mit seiner Hand, er nimmt deswegen Schmerzmittel ein und war in ärztlicher Behandlung. Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten und ist arbeitsfähig (OZ 23, S. 6).

1.1.2. Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan, XXXX geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester und seinem Bruder aufgewachsen. Er besuchte in Afghanistan sieben Jahre lang eine Schule. Der Vater des Beschwerdeführers arbeitete als Maler und Streicher, der Beschwerdeführer arbeitete bei ihm mit. Außerdem arbeitete der Beschwerdeführer in Afghanistan in der Autoreinigung und als Straßenverkäufer ca. sechs Jahre lang. Die Familie hatte keinen Besitz. (AS 21 aus 1438337-1, AS 53 aus 1438337-2, OZ 23, S. 6, 7).

1.1.3. Der Beschwerdeführer verließ im Alter von 14 Jahren Afghanistan und lebte zunächst ein Jahr mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Bruder in Pakistan (OZ 23, S. 8). Er reiste schlepperunterstützt unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.12.2012 als unbegleiteter Minderjähriger im Alter von 15 Jahren einen Antrag auf internationalen Schutz. Seither ist er durchgehend in Österreich aufhältig.

1.1.4. Die Eltern des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. Seine Schwester lebt in der Türkei, sein Bruder in Österreich (OZ 23, S. 7). Der Beschwerdeführer hatte zuletzt vor vier Jahren Kontakt zu seiner Schwester, diese ist verheiratet (OZ 23, S. 8). Der Bruder des Beschwerdeführers arbeitet als Hilfsarbeiter in Österreich (OZ 23, S. 8).

Der Beschwerdeführer hat keine Familienangehörigen (OZ 23, S. 7) oder Freunde (OZ 23, S. 8) in Afghanistan.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

1.2.1. Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich ein Jahr eine polytechnische Schule. Er besuchte Deutschkurse A1, A2 und B1 (OZ 23, S.10).

Der Beschwerdeführer war in Österreich vier Jahre lang ab 08.06.2015 bis 19.07.2019 berufstätig, er arbeitete bei XXXX , als Fahrradmechaniker, auf der Baustelle in einem Tunnel als Elektriker und bei XXXX in der Küche. Eine Berufsausbildung absolvierte er nicht (OZ 23, S.11).

Der Beschwerdeführer verfügt über gute Deutschkenntnisse (OZ 23, S. 10).

1.2.2. Der Beschwerdeführer hat Familienangehörige in Österreich. Der Bruder des Beschwerdeführers sowie der Cousin des Beschwerdeführers und dessen Familie (Ehefrau und drei Söhne sowie vier Töchter) leben in Österreich, in XXXX (OZ 23, S. 9, 10). Der Beschwerdeführer wird von seinem Cousin unterstützt (OZ 23, S. 9). Er steht in regelmäßigem Kontakt zu seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen (OZ 23, S. 10).

Der Beschwerdeführer hat in Österreich Freunde, ist derzeit aber nicht in Kontakt mit ihnen (OZ 23, S.11).

1.2.3. Der Beschwerdeführer war in Österreich straffällig, er wurde fünf Mal wegen Vergehen nach dem Suchtmittelgesetz, Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt verurteilt (Strafregisterauszug vom 14.07.2021, OZ 23, S. 11 f.):

1.       Mit Urteil des zuständigen Landesgerichtes vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der §§ 27 (2a) 2. Fall, 27 (1) Z 1 2. Fall, 27 (2) SMG zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten (6 Monate davon bedingt nachgesehen unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, bedingte Nachsicht der Strafe wurde am XXXX widerrufen), verurteilt.

2.       Mit Urteil des zuständigen Bezirksgerichts vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen dem Vergehen des § 83 (1) StGB § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, bedingt unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verlängert am XXXX auf 5 Jahre, verurteilt.

3.       Mit Urteil des zuständigen Landesgerichts vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der § 27 (1) Z 1 2. Fall SMG, §§ 27 (2a) 2. Fall, 27 (3) SMG, § 15 StGB § 83 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt.

4.       Mit Urteil des zuständigen Bezirksgerichtes vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen dem Vergehen § 83 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt.

5.       Mit Urteil des zuständigen Landesgerichts vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen dem Vergehen § 269 (1) 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

Erschwerend wurden die jeweiligen Vorstrafen und die Tatbegehung während anhängigem Straf- und Ermittlungsverfahren gewertet. Strafmildernd wurde in den Verurteilungen das reumütige Geständnis des Beschwerdeführers und sein junges Alter gewertet.

1.2.4. Der Beschwerdeführer befindet sich seit 19.07.2019 in Haft (OZ 8).

1.3. Zum gegenständlichen Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung:

1.3.1. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.12.2014 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr 100/2005 idF BGBl I Nr 144/2013BF der Status des Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 04.12.2015 erteilt. Zur Erteilung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan erscheine aufgrund seiner Minderjährigkeit, des fehlenden familiären Netzwerks in Afghanistan und seiner fehlenden Berufsausbildung als unzumutbar. Es sei maßgeblich zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer minderjährig sei, Afghanistan bereits mit ca 15 bis 16 Jahren verlassen habe, keinen Familienanschluss in Afghanistan mehr habe, somit bei einer Rückkehr völlig auf sich alleine gestellt wäre, wobei er zudem über keine Berufsausbildung verfüge. Im gegenständlichen Fall wäre der minderjährige Beschwerdeführer bei einer Rückkehr somit gezwungen, alleine nach einem sicheren Aufenthaltsort bzw auch einen Wohnraum zu suchen, ohne familiären Rückhalt in Anspruch nehmen zu können und es wäre mit erschwerten Gegebenheiten in Bezug auf seine Existenzsicherung zu rechnen. Mangels familiären Netzwerks könne nicht ausgeschlossen werden, dass der minderjährige Beschwerdeführer in eine hoffnungslose Lage gerät. Diese Rahmenbedingungen würden den minderjährigen Beschwerdeführer in jedem Falle und somit unabhängig vom Ort seiner Rückkehr treffen, sodass ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative iSd §§ 8 Abs 3 iVm 11 AsylG nicht zur Verfügung stehe. Eine Rückführung des minderjährigen Beschwerdeführers würde diesen daher in seinen Rechten nach Art 3 EMRK verletzen (vgl. Seite 25 aus W179 1438337-1/11E). Der Entscheidung wurde unter anderem das ACCORD Themendossier zu Afghanistan: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan & Chronologie für Kabul vom 03.10.2014 sowie das Länderinformationsblatt Afghanistan vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, IOM vom Oktober 2013, S. 18 zugrunde gelegt (vgl. Seite 18 aus W179 1438337-1/11E).

1.3.2. Mit Schreiben vom 01.12.2015 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG, dem vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 03.12.2015 stattgegeben und eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.12.2017 erteilt wurde.

Am 13.11.2017 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung, dem mit Bescheid vom 01.12.2017 vom Bundesamt stattgegeben und eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.12.2019 erteilt wurde. Aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in Verbindung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers lägen die Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vor (Seite 2 des Bescheides vom 01.12.2017).

Mit Aktenvermerk vom 23.07.2019 wurde aufgrund der zugegangenen Informationen hinsichtlich der Berichterstattung der zuständigen Polizeidirektion über die Anzeigen und Verurteilungen des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde ein Aberkennungsverfahren eingeleitet. Die Ermittlungen ergaben, dass die Voraussetzungen zur Aberkennung nicht vorliegen, weil die begangenen Straftaten kein Verbrechen darstellen und keine sonstige Aberkennungsgründe vorliegen würden.

1.3.3. Der Beschwerdeführer stellte am 09.09.2019 erneut einen – den hier gegenständlichen- Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung.

Mit Schriftsatz vom 23.10.2019 leitete das Bundesamt ein Aberkennungsverfahren betreffend den Status des subsidiär Schutzberechtigen ein, da von der Erfüllung des Tatbestandes gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG auszugehen sei.

1.3.4. Nach Einvernahme des Beschwerdeführers erkannte das Bundesamt mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 29.11.2019, dem Beschwerdeführer den mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.12.2014 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.) und entzog ihm gemäß § 9 Abs. 4 AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt II.). Der Antrag des Beschwerdeführers vom 09.09.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde abgewiesen (Spruchpunkt III.). Gemäß § 9 Abs. 1 Z. 1 AsylG würden die Gründe für den zugesprochenen Subsidiären Schutz nicht mehr vorliegen. Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Sachverhalt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes (damalige schlechte Lage im Herkunftsstaat, Minderjährigkeit und keine Berufsausbildung) nun nicht mehr vorliegen würde. Die Sicherheitslage habe sich im Vergleich zum Jahr 2018 in Kabul leicht verbessert und es stünden innerstaatliche Alternativen offen. Es sei dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr zumutbar, durch Gelegenheitsjobs für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Der Beschwerdeführer sei jung, gesund und nun volljährig und verfüge nun über Berufserfahrung im Bereich der Gastronomie, als Bauarbeiter und in der Gartenpflege. Zudem sei die Berufschance in Afghanistan durch die in Österreich erlangte Bildung und Sprachfertigkeiten verbessert worden (vgl. Seite 12, 84 f. und 89 f. des angefochtenen Bescheides). Der Entscheidung wurde – in den Feststellungen – das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.11.2019 zugrunde gelegt.

1.3.5. Im Falle des Beschwerdeführers ist es seit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.12.2014, mit dem dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist bzw. seit dem Bescheid vom 01.12.2017, mit dem dem Beschwerdeführer die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.12.2019 verlängert wurde, weder zu einer nachhaltigen maßgeblichen Änderung seiner subjektiven bzw. persönlichen Situation noch zu einer Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan gekommen. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, haben sich die Umstände die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bzw. seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert.

Das Bundesverwaltungsgericht bzw. das Bundesamt unterlag im Zeitpunkt der Zuerkennung bzw. Verlängerung des Status des subsidiär Schutzberechtigten keinem Tatsachenirrtum.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan von seiner Familie unterstützt werden kann. Der Beschwerdeführer hat kein familiäres Netzwerk in Afghanistan.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan liefe der Beschwerdeführer in seinem gesamten Heimatland Gefahr, in eine lebensbedrohende bzw. ausweglose Situation zu geraten. Im Fall des Beschwerdeführers besteht nach wie vor das reale Risiko, dass dieser im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde und dadurch eine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.4.1. Zu den aktuellsten Entwicklungen:

Aus zahlreichen aktuellen Medienberichten, die Sicherheitslage in Afghanistan betreffend ergibt sich, dass seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan die Taliban binnen kurzer Zeit einen Großteil Afghanistans und schließlich das gesamte Land unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die bisherige afghanische Regierung übt nach der Flucht des Präsidenten keine Gebietshoheit mehr aus und die Taliban haben nach der Eroberung ua. von Mazar-e-Sharif nun auch in Kabul die Macht übernommen. (Quellen dazu unter anderem: news.ORF.at vom 15. August 2021, 21.07 Uhr „Blutbad verhindern: Ghani rechtfertigt Flucht aus Afghanistan”; sowie The Guardian vom 15 August 2021, 23.45 Uhr “Taliban claim they will soon declare ‘Islamic Emirate of Afghanistan’ after President Ghani said to have fled”).

Dass die Taliban mittlerweile neben den zuletzt noch als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehenden Städten Herat und Mazar-e Sharif nun auch die Hauptstadt Kabul eingenommen haben und die Taliban damit die Macht in Afghanistan übernommen haben steht auf Grund der diesbezüglichen Medienberichte fest. Beispielhaft wird dazu auf die Berichterstattung des ORF verwiesen:

„Zurück an der Macht

Die Anführer des Taliban-Netzwerks

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden.

Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf. Am Dienstag traf Baradar laut Medienberichten aus seinem Exil in Katar in Afghanistan ein und wurde in Kandahar von jubelnden Anhängern empfangen.

(…)

2010 wurde Baradar in Pakistan verhaftet. 2018 wurde er auf Druck der USA freigelassen und nach Katar überführt. Dort steht Baradar dem politischen Büro der Taliban vor, für das er im Februar 2020 die Unterzeichnung des unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump verhandelten Abkommens von Doha verantwortete. Baradar war es auch, der am Sonntag in einer Videobotschaft die Eroberung Kabuls und damit ganz Afghanistans verkündete.“

(Quelle: www.orf.at, 18. August 2021, 05.59 Uhr)

„Die Folgen des Taliban-Siegeszugs

Neun Tage nach der Eroberung der ersten Provinzhauptstadt sind die radikalislamischen Taliban bis in die afghanische Hauptstadt Kabul vorgerückt. In der Bevölkerung ist die Angst vor Vergeltungsaktionen der Dschihadisten groß. Auch international herrscht Besorgnis über die Folgen des Taliban-Siegeszugs. In „30 bis 90 Tagen“ werde Kabul an die Taliban fallen, lautete die Einschätzung der US-Geheimdienste noch vergangene Woche. Die Annahme hielt nicht einmal fünf Tage: Am Sonntag drangen die Islamisten in die Hauptstadt Afghanistans ein und besetzten den Präsidentenpalast. Präsident Ashraf Ghani hat das Land fluchtartig verlassen. Nach Angaben des früheren afghanischen Staatschefs Hamid Karzai wurde ein „Koordinierungsrat“ gebildet, der eine friedliche Machtübergabe an die Dschihadisten gewährleisten soll. In den vergangenen Tagen nahmen die Taliban zahlreiche wichtige Städte ein, viele davon kampflos, etwa die Handelsstadt Jalalabad. Auch die große Schlacht um Kabul blieb aus. Die afghanischen Sicherheitskräfte – die zwei Jahrzehnte lang mit Milliarden aus dem Westen aufgebaut wurden – leisteten kaum Widerstand. Auch die sich in der Stadt befindlichen 5.000 Angehörigen der US-Streitkräfte griffen nicht ein. Ihre Mission war es einzig und allein, den Abzug des diplomatischen Personals zu sichern.“

(Quelle: www.orf.at, 15. August 2021, 23.24 Uhr)

1.4.2. Im Verfahren wurden außerdem folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

- Auszug aus den aktuellen Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem Country of Origin - Content Management System COI-CMS – Afghanistan vom 11.06.2021, Version 4, letzte KI eingefügt am 02.08.2021 (LIB)

- UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

- EASO Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020

1.4.2.1. Allgemeine Sicherheitslage aus dem LIB

„Letzte Änderung: 09.06.2021

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021) .

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).“

1.4.2.2. Taliban aus dem LIB

„Letzte Änderung: 11.06.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).“

1.4.2.3. Rückkehr

„Letzte Änderung: 11.06.2021

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. NH 26.1.2021). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 19.3.2021) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 18.3.2021; vgl. F 24 19.3.2021). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 18.3.2021).

Seit 12.8.2020 ist der Grenzübergang Spin Boldak an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021).

"Erfolglosen" Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des "Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer drückten ihr Bedauern und ihre Scham über die Rückkehr aus, die sie als eine vertane Chance betrachteten, bei der Geld und Zeit verschwendet wurden (Seefar 7.2018; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021, MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020, IOM AUT 23.1.2020, VIDC 1.2021). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.7.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.7.2020; vgl. SFH 26.3.2021). Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl. (AA 16.7.2020; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlic

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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