TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/23 W253 2214233-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.08.2021
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Entscheidungsdatum

23.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W253 2214233-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX (alias XXXX alias XXXX ), geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2019, Zl. XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am XXXX 2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.08.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am XXXX 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am XXXX 2016 wurde der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes befragt. Zusammengefasst gab er an, dass er verheiratet und in Paktia geboren worden sei. Er gehöre der Volkgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischer Moslem. Er habe neun Jahre die Grundschule besucht und sei zuletzt Dorfpolizist gewesen. Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als Dorfpolizist von den Taliban mit dem Tode bedroht worden sei. Kurz vor seiner Ausreise hätten die Taliban sein Haus angegriffen.

3. Eine Eurodac-Abfrage ergab, dass der Beschwerdeführer am XXXX 2016 in Ungarn aufgrund Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz erkennungsdienstlich behandelt worden war.

4. Mit Bescheid vom 01.10.2016, Zl. XXXX , wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass Ungarn für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit b der Dublin III.VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Seine Außerlandesbringung wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass demzufolge seine Abschiebung nach Ungarn gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

5. Mit Erkenntnis vom XXXX 2016, GZ: XXXX , gab das Bundesverwaltungsgericht der vom Beschwerdeführer fristgerecht erhobenen Beschwerde gegen den Bescheid zu 4. gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG statt und behob diesen.

6. In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am XXXX 2017 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass sein Nachname in der Erstbefragung falsch notiert worden sei, dieser laute XXXX , ebenso sei das Alter seiner Frau falsch notiert worden, sie sei jetzt ca. XXXX . Seine Gattin würde mit den gemeinsamen Kindern noch im Heimatdorf bei der Familie des Beschwerdeführers leben. Die Familie bestehe insgesamt aus seinen Eltern, seinen fünf Brüdern, seiner Schwester und seiner Großmutter väterlicherseits. Sie alle würden noch im Eigentumshaus im Dorf leben. Sein Vater habe eine eigene Landwirtschaft, von dieser würde die ganze Familie Leben. Er stehe mit seiner Familie in Kontakt. Sein Onkel mütterlicherseits sei im Zuge eines Besuchs bei seiner Familie in Logar ermordet worden. Der Beschwerdeführer habe fünf Jahre lang als Polizist Dienst geleistet.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er innerhalb von neun Monaten einmal schriftlich und viermal mündlich von den Taliban bedroht worden sei.Es sei deren Ziel gewesen den Beschwerdeführer zur Niederlegung seiner Arbeit zu zwingen.. Der Drohbrief sei auf die Gartentüre geklebt worden. Die an den Beschwerdeführer gerichteten mündlichen Bedrohungen hätten die Taliban seinem Vater, seinem Bruder und dem Mullah ausgerichtet, mit dem Beschwerdeführer selbst hätten sie nie gesprochen. Sein Haus sei zudem zweimal angegriffen worden. Beim ersten Mal hätten sie ein paar Schüsse auf die Fenster abgefeuert. Beim zweiten Versuch, am XXXX 1394, hätten sie das Haus heftiger angegriffen. Die Taliban hätten hierbei das Haus nicht betreten können, da dies in der paschtunischen Gesellschaft nicht üblich sei.

Der Beschwerdeführer legte folgende Beweismittel vor: eine Tazkira (Nr. XXXX ), eine Tazkira seiner Gattin, eine afghanische Impfkarte seiner Tochter, eine Bestätigung über seine Tätigkeit als Polizist und die gegen ihn gerichtete Bedrohung, eine Ausbildungsbestätigung der Polizeiakademie, einen Drohbrief der Taliban, eine Deutschkursbestätigung, eine Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeiten sowie fünf Empfehlungsschreiben.

7. Mit Bescheid des BFA vom 08.01.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Im Bescheid wurde weiters festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht festgestellt werden habe können, dass der Beschwerdeführerin Afghanistan einer Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sei. Die Glaubhaftmachung seines Vorbringens sei ihm nicht gelungen.

8. Am 31.01.2019 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Begründet wurde diese damit, dass die Fluchtgründe des Beschwerdeführers in einer Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und Verfolgung aus politischen/religiösen Gründen bestehen würden. Die Beweiswürdigung des BFA sei im Vergleich zu den ausführlichen und konkreten Angaben des Beschwerdeführers nicht überzeugend. Die Erklärungen seien nicht nachvollziehbar und würden fast ausschließlich aus selektiven Zitaten aus dem Protokoll der Einvernahme und Textbausteinen bestehen. Einen erkennbaren Begründungswert hätten die Vorwürfe des BFA nicht, vielmehr habe die belangte Behörde in tendenziöser Weise die Aussagen herausgeklaubt, die der Argumentation der Behörde zuträglich erscheinen würden. Ebenso habe das BFA die vorgelegten Beweismittel nicht angemessen beurteilt. Angebliche Unplausibilitäten in den Angaben des Beschwerdeführers würden bloße Behauptungen darstellen. Er wäre auch aufgrund seines langjährigen Auslandsaufenthaltes in intensiver Gefahr, als „verwestlicht“ angesehen zu werden, auch in Hinblick auf seine erfolgreiche Integration in Österreich. Das Vorbringen des Beschwerdeführers entspreche der Wahrheit, sei glaubwürdig und gründlich substantiiert. Hinsichtlich der allfälligen Gewährung des subsidiären Schutzes sei festzustellen, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan eine Rückkehr nicht zulasse. Der Beschwerdeführer könne in Afghanistan auch keinerlei familiäre oder soziale Unterstützung erwarten. Darüber hinaus habe er sich in der Zeit seines Aufenthaltes in Österreich intensiv um eine Integration bemüht, sohin wäre aufgrund der Schutzwürdigkeit seines Privat- und Familienlebens die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären gewesen.

9. Am 08.02.2019 wurde die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

10. Mit Schreiben vom 12.11.2019 ersuchte der Beschwerdeführer um Anberaumung einer mündlichen Verhandlung, da die Ungewissheit seines Aufenthaltes in Österreich eine große Belastung für ihn darstelle.

11. Mit Schreiben vom 31.01.2020 langte eine Verständigung von der Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein.

12. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , AZ: XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren wurde die verhängte Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen.

13. Mit Schreiben vom 28.07.2020 und vom 01.03.2021 ersuchte der Beschwerdeführer erneut um eine positive Entscheidung bzw. um die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Dem Schreiben vom 01.03.2021 fügte er auch Integrationsunterlagen bei.

14. Mit Schreiben vom 05.05.2021 stellte der Beschwerdeführer einen Fristsetzungsantrag sowie einen Verfahrenshilfeantrag an den Verwaltungsgerichtshof.

15. Am 26.05.2021 erging seitens des Verwaltungsgerichtshofes eine verfahrensleitende Anordnung, welche am 04.06.2021 beim Bundesverwaltungsgericht einlangte. Damit trug der Verwaltungsgerichtshof dem Bundesverwaltungsgericht auf, binnen drei Monaten die Entscheidung zu erlassen und eine Ausfertigung, Abschrift oder Kopie derselben sowie eine Kopie des Nachweises über die Zustellung der Entscheidung an die antragstellende Partei dem Verwaltungsgerichtshof vorzulegen oder anzugeben warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt.

Mit Beschluss vom selben Tag bewilligte der Verwaltungsgerichtshof dem Beschwerdeführer zudem die Verfahrenshilfe.

16. Am 29.06.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Meldung ein, wonach der Beschwerdeführer im Verdacht stehe, eine Vergewaltigung begangen zu haben.

17. Am XXXX 2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Der Beschwerdeführer legte eine Arztbestätigung, mehrere Farbfotos, welche ihn unter anderem in Uniform zeigen sowie ein Farbfoto einer Zeugnisvergabe anlässlich eines Deutschkurses vor. Dazu legte er noch ein Empfehlungsschreiben und eine Einstellungszusage vor. Weiters brachte der zur Entscheidung berufenen Richter das tagesaktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und die EASO Country Guidance 2020 in das gegenständliche Verfahren ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht auf Grundlage der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch ein Organ des BFA, dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem zur Entscheidung berufenen Richter sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem fest. Aus den diesbezügliche Angaben und Informationen werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1.1.    Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX 2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab und es wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen festgesetzt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, woraufhin vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den Namen XXXX und ist an dem im Spruch angegebenen Datum geboren worden. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie dem Stamm der XXXX an und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu. Der Beschwerdeführer ist mit XXXX verheiratet und hat mit dieser gemeinsam einen Sohn und zwei Töchter.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Paktia geboren und lebte mit seiner Familie bis zu seiner Ausreise nach Österreich ebendort.

Der Beschwerdeführer besuchte neun Jahre lang die Schule. Des Weiteren war er als Landwirt in der familieneigenen Landwirtschaft tätig. Danach arbeitete er als Dorfpolizist, im Jahr 2015 absolvierte er dazu eine ca. einmonatige Ausbildung als lokaler Polizist an der XXXX der Provinz Paktia.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus der Mutter, fünf Brüdern und einer (verlobten) Schwester. Sein Vater ist bereits gestorben. Darüber hinaus hat er einen Onkel mütterlicherseits, der im Dorf XXXX (ebenfalls Distrikt XXXX ) lebt. Ein weiterer Onkel mütterlicherseits ist ebenso bereits gestorben. Die Ehefrau und Kinder des Beschwerdeführers leben im Heimatdorf mit seiner Familie zusammen. Seine Brüder kümmern sich mittlerweile um die Landwirtschaft und versorgen die Familie. Der Beschwerdeführer hat zumindest Kontakt zu einem seiner Brüder.

Der Beschwerdeführer ist nach der afghanischen Kultur sozialisiert und ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer leidet an Angst- und Schlafstörungen sowie Depressionen und befindet sich deshalb in psychologischer Behandlung. Er nimmt auch Medikamente. Abgesehen davon leidet er an keinen gesundheitlichen Einschränkungen und ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache zumindest auf A1 Niveau und hat mehrere Deutschkurse besucht. Er hat für mehrere Monate gemeinnützige Hilfstätigkeiten für die Stadtgemeinde XXXX am gemeindeeigenen Wirtschaftshof geleistet. Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung, verfügt aber nunmehr über eine Einstellungszusage bei XXXX als Mitarbeiter.

Der Beschwerdeführer verfügt über freundschaftliche Kontakte in Österreich, unter anderem hilft er einer Frau – die ein 50%ige Gehbehinderung hat – bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten. Er besucht zudem regelmäßig ein Fitnesscenter.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , AZ: XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren wurde die verhängte Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen.

1.3.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war von Seiten der Taliban keiner Verfolgung aufgrund seiner Tätigkeit als Dorfpolizist ausgesetzt. Demnach wurde er von den Taliban weder bedroht noch angegriffen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan im Falle einer Rückkehr keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Paktia droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5.    Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Aus dem Länderinformationsblatt für Afghanistan (Stand 06.07.2021) wird auszugsweise, soweit gegenständlich maßgeblich, wie folgt angeführt:

1.5.1.  Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

[…]

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante – Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blueattack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a). […]

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021). […]

Struktur und Führung

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019). […]

Rekrutierungsstrategien

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).

Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a). […]

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021).

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a).

Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mitzivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a). […]

1.5.2.  Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Paktia)

Die Provinz Paktia [alternative, weniger gebräuchliche Schreibweisen: Paktya, Paktiya] befindet sich im Osten Afghanistans (NPS Paktia o.D.) und grenzt an Logar im Norden, Pakistan im Osten, Khost im Südosten, Paktika im Süden und Ghazni im Westen (UNOCHA Paktia 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, der Provinzhauptstadt Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (oder Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (oder Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran und Zurmat (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Paktia 2019, UNOCHA Paktia 4.2014, NPS Paktia o.D., PAJ Paktia o.D.). Weiters gibt es vier temporäre Distrikte: Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Paktia 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Paktia im Zeitraum 2020/21 auf 611.952 Personen (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Tadschiken (NPS Paktia o.D.; vgl. OPr Paktia 1.2.2017). Eine kleine schiitische Gruppe namens Sadat (Singular: Sayyed) lebt in Khwajah Hassan, nordöstlich der Provinzhauptstadt, größtenteils konfliktfrei neben den sunnitischen (tadschikischen und paschtunischen) Gemeinschaften (AAN 18.8.2020)

Eine befestigte Straße (USAID 7.5.2019) verbindet Kabul über die Provinz Logar mit der Provinzhauptstadt Gardez (MoPW 16.10.2015; vgl. TN 7.7.2020) und führt weiter durch die Distrikte Shawak und Zadran in die Provinz Khost nach Ghulam Khan an der afghanisch-pakistanischen Grenze (MoPW 16.10.2015; vgl. PAJ 21.8.2019, USAID 7.5.2019). Insbesondere entlang des Teilstückes durch die Provinz Logar gibt es eine starke Taliban-Präsenz (AAN 18.7.2020; vgl. SATP 16.7.2020). Die ebenso asphaltierte Straße Ghazni-Gardez (JIA/AADA 12.2019; vgl. MoPW 16.10.2015) wird seit der Frühjahrsoffensive 2019 von den Taliban blockiert und der gesamte Verkehr über eine ungepflasterte Straße durch Sultanbagh umgeleitet (JIA/AADA 12.2019; vgl. PAJ 3.11.2019).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Nach der Räumung der US-Militärbasis in Paktia im März 2020 hat sich der Einflussbereich der Taliban in der Provinz vergrößert. Es kommt vermehrt zu gezielten Tötungen (WP 10.10.2020). Im Laufe des Sommers 2020 hat sich die Sicherheitslage in Paktia verschlechtert. Die Taliban haben ihre Angriffe verstärkt und mehrere lokale Verbindungsstraßen gesperrt (PAJ 1.10.2020). Jedoch ist die Provinz nicht stark umkämpft; es kommt zu kleinmaßstäbigen Angriffen und die Taliban versuchen nicht, städtische Gebiete zu erobern, sondern konsolidieren ihre Herrschaft in bereits zuvor kontrollierten Gebieten (WP 10.10.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Jani Khel und Zurmat mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Ahmadaba, Dand Patan, Jaji, Jani Khel, Laja Ahmad Khel und Sayyid Karam umkämpft sind (LWJ o.D.).

In der Provinz Paktia hat das Haqqani-Netzwerk eine starke Präsenz (LWJ 23.6.2019; vgl. TSG 24.5.2020, AnA 29.5.2020), der Distrikt Dand-e-Pathan gilt als Hochburg der Haqqanis (AnA 29.5.2020). Al-Qaida ist in ländlichen Gebieten der Provinz, unter anderem im Distrikt Jaji, präsent (ST 16.7.2020; vgl. LWJ 23.6.2019, CT 22.10.2019). Ebenfalls eine kleine Präsenz in der Provinz haben Jaish-e-Mohammad (JeM) (EFSAS 10.4.2020; vgl. BW 25.6.2020). Der Islamische Staat (ISKP) versuchte im ersten Halbjahr 2019 erfolglos, die Provinzen Paktia und Logar einzunehmen (UNSC 31.7.2019).

Die Spezialeinheit Khost Protection Force (KPF) ist für die Zentralregierung in Paktia tätig (AAN 17.8.2019). Die KPF wird vom US-amerikanischen Nachrichtendienst CIA unterstützt und ist gegenüber der Provinzregierung nicht rechenschaftspflichtig. Der KPF werden Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Tötungen, Folter und willkürliche Verhaftungen vorgeworfen (AAN 21.1.2019; vgl. TRT 20.11.2019, WOZ 7.11.2019, TRT 8.5.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Paktia im Verantwortungsbereich des 203. Afghan National Army (ANA) Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. WP 10.10.2020), das der Task Force Southeast angehört, die von US-Truppen geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Im Zusammenhang mit dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban wurde die US-Militärbasis bei Gardez im März 2020 geräumt (WP 10.10.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

[…] Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 206 zivile Opfer (62 Tote und 144 Verletzte) in der Provinz Paktia. Dies entspricht einem Rückgang von 6% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von gezielten Tötungen und Bodenkämpfe (UNAMA 2.2021a).

Im März 2021 wurde in der Stadt Gardez der lokale Staatsanwalt durch einen bewaffneten terroristischen Angriff getötet (BAMF 15.3.2021; vgl. AnA 12.3.2021).

In der Provinz kommt es zu Sicherheitsoperationen (PAJ 11.2.2020; PAJ 30.1.2020; BN 25.8.2019) und Luftschlägen durch afghanische und ausländische Sicherheitskräfte (BN 10.10.2020; Qantara 5.6.2020; PAJ 12.11.2019). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt (Garda 2.11.2020; AnA 29.5.2020; XI 16.5.2020). […]“

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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