TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/13 W261 2190353-1

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Veröffentlicht am 13.09.2021
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Entscheidungsdatum

13.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W261 2190353-1/46E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gregor KLAMMER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt vom 02.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II.     Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 20.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 19.11.2015 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, er habe mit den Taliban in seiner Heimat Probleme bekommen, sein Leben sei in Gefahr gewesen. Sie hätten ihn für ihre Kämpfe rekrutieren wollen und das habe er nicht gewollt. Deswegen hätten sie ihm mit dem Umbringen gedroht. Er habe Angst bekommen und sei deshalb geflüchtet. Weitere Fluchtgründe habe er nicht.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 08.01.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Tadschike und sunnitischer Muslim. Er sei im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar geboren und habe dort bis zur Ausreise gelebt. Er habe sieben Jahre lang die Grundschule besucht und als Verkäufer im Lebensmittelgeschäft seiner Familie sowie als Fahrer für eine Firma gearbeitet. Rund acht Monate vor seiner Ausreise habe er geheiratet. Sein Vater sei bereits verstorben, seine Mutter, seine Ehefrau und seine Schwester würden noch im Heimatdorf leben. Auch zwei Tanten und ein Onkel seien in der Herkunftsprovinz aufhältig. Er habe regelmäßig Kontakt mit seiner Mutter.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, sein Leben sei in Afghanistan in Gefahr gewesen. Er habe zwei Jahre lang als Fahrer für die Firma XXXX gearbeitet und Lebensmittel vom Flughafen XXXX in ein Camp der Amerikaner gebracht. Einmal hätten sie Lebensmittel transportiert und seien auf dem Weg auf Taliban getroffen. Sie seien dabei mit drei Autos unterwegs gewesen, auf das erste Auto sei geschossen worden. Er sei der Fahrer des zweiten Autos gewesen. Er habe das Auto stehen gelassen und fliehen können. Er sei dann per Anhalter nach XXXX gefahren und nachhause gegangen. Nach einem Tag seien seine Frau und er zu seinem Schwiegervater gegangen. Gegen 10 Uhr abends habe seine Mutter angerufen. Sie habe gesagt, dass die Taliban zu ihnen gekommen seien und nach ihm gesucht hätten. Die Taliban hätten ihr gesagt, dass sich der Beschwerdeführer bei ihnen melden solle, sonst werde er umgebracht. Er sei um 7 Uhr früh nachhause gekommen und seine Mutter und Schwestern hätten gesagt, dass er hier nicht bleiben könne. Er habe sich dann entschlossen, Afghanistan zu verlassen. Weil er mit den Amerikanern gearbeitet habe sei er ein Feind der Taliban.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 02.03.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer durch Personen in ganz Afghanistan bedroht werde, oder er sein Herkunftsland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe. Die von ihm vorgebrachten Fluchtgründe seien insgesamt nicht asylrelevant gewesen und nicht in den Anwendungsbereich der GFK gefallen. Er habe Afghanistan aufgrund persönlicher Probleme verlassen, hätte sich diesen Problemen jedoch durch eine innerstaatliche Veränderung seines Lebensmittelpunktes entziehen können. Seine Heimatregion Nangarhar zähle zu den unsicheren Provinzen Afghanistans, eine Rückkehr dorthin sei derzeit bedingt möglich. Er habe auch drei innerstaatliche Fluchtalternativen in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat. Der Beschwerdeführer verfüge über Familienangehörige in Afghanistan und könne Unterstützung durch sein familiäres Netzwerk erhalten. Er würde nicht in eine wirtschaftlich oder finanziell ausweglose Lage geraten.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid mit Eingabe vom 21.03.2018 durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, die belangte Behörde habe mangelhafte Ermittlungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat geführt. Eine interne Fluchtalternative in diesen Städten bestehe mangels Zumutbarkeit tatsächlich nicht. Diese Städte seien nicht ausreichend sicher und die Grundversorgung von Rückkehrern ohne soziales Netzwerk sei nicht ausreichend gewährleistet, wozu jeweils auf diverse Länderberichte verwiesen wurde. Die im Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig, teilweise unrichtig und würden sich kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen. Dieser sei aufgrund seiner Arbeit für die Amerikaner von den Taliban verfolgt und bedroht worden und entspreche daher dem Risikoprofil von „Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“ iSd UNHCR-Richtlinien. Die Taliban hätten auch die Möglichkeit, Personen in ganz Afghanistan aufzuspüren, und die afghanischen Behörden seien nicht ausreichend schutzfähig. Das Vorbringen des Beschwerdeführers stehe in Einklang mit den aktuellen Länderberichten und er habe im gesamten Verfahren schlüssige und in den wesentlichen Punkten gleichlautende Angaben getätigt, die Beweiswürdigung der Behörde sei hingegen in näher genannten Punkten mangelhaft.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 23.03.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 26.03.2018 in der Gerichtsabteilung W162 einlangte.

6. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.09.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W162 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 zugewiesen, wo dieses am 14.09.2020 einlangte.

7. Mit Eingabe vom 06.11.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Unterstützungsschreiben und Integrationsunterlagen vor.

8. Mit Eingabe vom 18.01.2021 übermittelte die belangte Behörde eine Mitteilung des Landesgerichts XXXX , wonach über den Beschwerdeführer am 16.01.2021 die Untersuchungshaft verhängt worden sei.

9. Mit Eingabe vom 19.01.2021 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Justizanstalt XXXX , wonach der Beschwerdeführer von 15.01.2021 bis 16.01.2021 angehalten worden sei und sich seit 16.01.2021 wegen des Verdachts nach § 28a Abs. 1 SMG in Untersuchungshaft befinde.

10. Mit Eingabe vom 26.04.2021 übermittelte die belangte Behörde einen Abschlussbericht der Polizeiinspektion XXXX vom 14.04.2021, wonach der Beschwerdeführer des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG verdächtig sei.

11. Mit Eingabe vom 25.06.2021 übermittelte die belangte Behörde einen unter anderem gegen den Beschwerdeführer erhobenen Strafantrag der Staatsanwaltschaft XXXX wegen der Vorwürfe des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, erster, zweiter und siebter Fall, Abs. 2 und Abs. 4 Z 1 SMG. Zugleich wurde eine Verständigung des Landesgerichts XXXX übermittelt, dass die Hauptverhandlung in dieser Sache am 05.07.2021 stattfinden werde.

12. Mit Eingabe vom 23.07.2021 übermittelte die belangte Behörde einen Protokollsvermerk und eine gekürzte Urteilsausfertigung des Landesgerichts XXXX vom 05.07.2021, wonach der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, erster, zweiter und siebter Fall, Abs. 2 und Abs. 4 Z 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten, die ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen á 4,00 Euro (960,00 Euro) und zur Zahlung eines Verfallsbetrages von 11.000 Euro verurteilt wurde.

13. Mit Eingabe vom 16.08.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass aufgrund des Vormarsches der Taliban, die am 12.08.2021 auch die bedeutenden Städte Herat und Kandahar eingenommen hätten, in ganz Afghanistan keine ausreichende Sicherheit mehr bestehe. Es sei eine Machtübernahme der Taliban im ganzen Land zu befürchten. Rückkehrer seien besonders gefährdet und auch von Zwangsrekrutierung bedroht. Auch die humanitäre Situation und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie würden eine Rückkehr, etwa auch nach Mazar-e Sharif, unzumutbar machen. Die Existenzsicherung abgeschobener Afghanen sei nicht gewährleistet und der Beschwerdeführer würde zweifellos in eine prekäre, hoffnungslose Lage geraten. Mit der Stellungnahme wurden Integrationsunterlagen und aktuelle Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vorgelegt.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 19.08.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers nahm in der Verhandlung dazu Stellung.

15. Mit Eingabe vom 23.08.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Übersicht zu aktuellen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vor. Aus dieser gehe hervor, dass aufgrund der aktuell extrem gefährlichen Lage auch gesunden Männern im wehrfähigen Alter durchgehend subsidiärer Schutz gewährt werde.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Paschtu, Urdu, Englisch und Deutsch.

Er wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar geboren. Sein Vater hieß XXXX , er war krank und ist bereits 1391 (= 2012/13) verstorben. Seine Mutter heißt XXXX , sie ist ca. 50 Jahre alt. Er hat eine Schwester.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan sieben Jahre lang die Grundschule besucht. Er hat seinem Vater auf den Feldern geholfen und im Lebensmittelgeschäft der Familie gearbeitet. Seine Familie besitzt in Afghanistan zwei Geschäfte und sechs Jirib Land, die sie vermietet haben. Sie erhalten pro Geschäft 5.000 Afghani und die Hälfte der Erträge der Grundstücke. Das sind ca. 80.000 bis 90.000 Afghani.

Seit Anfang 2015 ist der Beschwerdeführer mit XXXX traditionell verheiratet, sie ist ca. 27 Jahre alt. Sie haben keine Kinder.

Die Mutter und Ehefrau des Beschwerdeführers haben bis ca. Juli 2021 im eigenen Haus der Familie im Heimatdorf gelebt. Danach sind sie aufgrund der schlechten Sicherheitslage in die Stadt XXXX in Pakistan übersiedelt. Auch seine Schwiegereltern sind nach XXXX gegangen. Seine Schwester ist verheiratet und lebt bei ihrem Mann. Er hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie.

Zwei Tanten und ein Onkel des Beschwerdeführers leben noch in bzw. in der Nähe der Stadt XXXX in seiner Herkunftsprovinz. Zu diesen Verwandten hat er keinen Kontakt.

Er verließ Afghanistan im September 2015 allein und stellte am 20.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nicht wegen einer Tätigkeit als Fahrer für eine auch für die US-Armee tätige Transportfirma von den Taliban bedroht oder verfolgt. Die Taliban waren nicht bei ihm zuhause und haben nicht nach ihm gesucht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder andere Personen. Ihm droht auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban.

1.2.2. Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in Europa bzw. in Österreich in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 20.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat 2016 am Werte- und Orientierungskurs teilgenommen. Er hat an der Volkshochschule XXXX einen Alphabetisierungs- und A1-Deutschkursbesucht, den er mit „sehr gut“ bestanden hat. Er hat für die Familie XXXX Arbeiten verrichtet, welche ihm über einen Dienstleistungsscheck vergütet wurden.

Er wird von seinen Vertrauenspersonen als intelligent, interessiert, hilfsbereit, freundlich, kontaktfreudig, zuvorkommend, sympathisch, schüchtern und lernwillig beschrieben.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen oder vergleichbar enge soziale Kontakte.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 05.07.2021, GZ XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, erster, zweiter und siebter Fall, Abs. 2 und Abs. 4 Z 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten, die ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen á 4,00 Euro (960,00 Euro) und zur Zahlung eines Verfallsbetrages von 11.000 Euro verurteilt.

Dieser Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Beschwerdeführer und ein weiterer Mittäter im Zeitraum von zumindest Jänner 2019 bis zu deren Festnahme am 14.01.2021 im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge (insgesamt 6,52 Grenzmengen) anderen überlassen haben, und zwar durch den nahezu ausschließlich gewinnbringenden Verkauf einer Menge von zumindest 2.133 Gramm THC-haltigem Cannabiskraut sowie einer Menge von zumindest 65 Gramm Kokain. Des Weiteren hat der Beschwerdeführer durch den wiederholten Erwerb nicht näher bestimmbarer Mengen an THC-haltigem Cannabiskraut von Unbekannten ausschließlich zum persönlichen Gebrauch und deren Besitz bis zum eigenen Konsum, durch den Erwerb einer Menge von 161 Gramm THC-haltigem Cannabiskraut von Unbekannten zum Zwecke des gewinnbringenden Verkaufs und deren Besitz bis zur Sicherstellung sowie indem er einem anderen den Verkauf einer Menge von fünf Gramm THC-haltigem Cannabiskraut zum Preis von 60 Euro anbot und dadurch einem Minderjährigen den Gebrauch von Suchtgift ermöglichte, wobei er selbst volljährig und mehr als zwei Jahre älter als der Minderjährige war, Suchtgift erworben und besessen sowie anderen angeboten.

Der Beschwerdeführer befand sich von 14.01.2021 bis 05.07.2021 in Anhaltung und Untersuchungshaft in der Justizanstalt XXXX .

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seinen Heimatort in der Provinz Nangarhar aufgrund der dort – sowie landesweit – herrschenden höchst volatilen Sicherheits- und Menschenrechtslage unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Infolge der Machtübernahme der Taliban in ganz Afghanistan im August 2021 besteht für den Beschwerdeführer auch keine innerstaatliche Fluchtalternative mehr. Im Hinblick auf die derzeit nicht absehbaren weiteren Entwicklungen, den fraglichen Weiterbestand staatlicher Ordnung, die notorischen Erfahrungen zur Taliban-Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 und die schwerwiegende und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen in den bisher von ihnen kontrollierten Gebieten kann jedenfalls nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt wäre.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

?        Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand 11.06.2021, Version 4 – auszugsweise (LIB)

?        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021 (UNHCR 2021)

?        Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021 (KI Staatendokumentation)

?        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

1.5.1.  Allgemeine aktuelle Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (LIB).

Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern (UNHCR 2021).

Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten (UNHCR 2021).

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (KI Staatendokumentation).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (KI Staatendokumentation).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (KI Staatendokumentation).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (KI Staatendokumentation).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (KI Staatendokumentation).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (KI Staatendokumentation).

Priorität für die Vereinten Nationen (VN) hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-Sicherheitsrat Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (KI Staatendokumentation).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6 % unter der nationalen Armutsgrenze (LIB).

1.5.3. Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (LIB)

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (LIB).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (LIB).

Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB).

1.5.4. Taliban

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB).

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan bereits zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.09.2001 an der Macht waren (LIB).

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban Führer auch nach außen auf (KI Staatendokumentation).

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird (KI Staatendokumentation).

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht (KI Staatendokumentation).

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an (KI Staatendokumentation).

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (KI Staatendokumentation).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (KI Staatendokumentation).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der (ehemaligen) Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo 1, Kapitel 4).

1.5.5. Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf verschiedene Lebensbereiche

Aktuelle Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (LIB).

Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die COVID-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln. Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff. Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen. Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4 % der Bevölkerung sind geimpft (LIB).

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN – d. s. ca. € 37,-) (LIB).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt. Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (LIB).

2.       Beweiswürdigung:

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zu den Geburtsdaten des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan und seiner Schulbildung gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie den vorgelegten Nachweisen. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln. Nicht gefolgt werden konnte diesbezüglich seinen Angaben zu einer zweijährigen Tätigkeit als Fahrer für eine Transportfirma (siehe noch unten Punkt 2.2.3.)

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 3) sowie auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist. Die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinem Alter, seinem Gesundheitszustand und seiner eigenen Angabe, arbeiten zu können (vgl. S. 8).

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Das Asylverfahren bietet, wie der VwGH in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

2.2.2. Sein Fluchtvorbringen, er sei aufgrund einer Tätigkeit als Fahrer für eine Transportfirma, die auch für die US-Armee tätig gewesen sei, von den Taliban bedroht und verfolgt worden, konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Insbesondere steigerte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen im Laufe des Verfahrens deutlich, verstrickte sich in seinen Angaben in diverse Widersprüche und schilderte wichtige Aspekte auffällig oberflächlich und vage. Zudem waren die Angaben auch vor dem Hintergrund der Länderinformationen nicht plausibel.

In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, er habe mit den Taliban in seiner Heimat Probleme bekommen, sein Leben sei in Gefahr gewesen. Sie hätten ihn für ihre Kämpfe rekrutieren wollen und das habe er nicht gewollt. Deswegen hätten sie ihm mit dem Umbringen gedroht. Er habe Angst bekommen und sei deshalb geflüchtet. Weitere Fluchtgründe habe er nicht (vgl. AS 23).

In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, sein Leben sei in Afghanistan in Gefahr gewesen. Er habe zwei Jahre lang als Fahrer für die Firma XXXX gearbeitet und Lebensmittel vom Flughafen XXXX in ein Camp der Amerikaner gebracht. Einmal hätten sie Lebensmittel transportiert und seien auf dem Weg auf Taliban getroffen. Sie seien dabei mit drei Autos unterwegs gewesen, auf das erste Auto sei geschossen worden. Er sei der Fahrer des zweiten Autos gewesen. Er habe das Auto stehen gelassen und fliehen können. Er sei dann per Anhalter nach XXXX gefahren und nachhause gegangen. Nach einem Tag seien seine Frau und er zu seinem Schwiegervater gegangen. Gegen 10 Uhr abends habe seine Mutter angerufen. Sie habe gesagt, dass die Taliban zu ihnen gekommen seien und nach ihm gesucht hätten. Die Taliban hätten ihr gesagt, dass sich der Beschwerdeführer bei ihnen melden solle, sonst werde er umgebracht. Er sei um 7 Uhr früh nachhause gekommen und seine Mutter und Schwestern hätten gesagt, dass er hier nicht bleiben könne. Er habe sich dann entschlossen, Afghanistan zu verlassen. Weil er mit den Amerikanern gearbeitet habe sei er ein Feind der Taliban (vgl. AS 59-62).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er habe für eine afghanische Firma als Fahrer gearbeitet und sei üblicherweise zwischen dem Flughafen XXXX und einem Stützpunkt der amerikanischen Truppen unterwegs gewesen. Eines Tages seien sie mit drei Autos gefahren, um Lebensmittel vom Flughafen zum Camp zu bringen. Er sei mit dem mittleren Auto gefahren. In der Nähe einer Gegend mit Taliban-Präsenz sei das erste Auto getroffen worden. Er sei auf der Stelle aus seinem Auto ausgestiegen und zu Fuß in die andere Richtung gelaufen, das Auto habe er dort gelassen. Dann habe er ein kleines Dorf erreicht und schließlich eine Art Taxi gefunden. Er sei nach XXXX gefahren und nachhause gegangen. Seine Frau sei nicht zuhause gewesen, sondern bei ihrem Vater. Auch er sei dann zum Haus seines Schwiegervaters gefahren. In der Nacht habe seine Mutter angerufen und gesagt, dass die Taliban bei ihnen zuhause seien und nach ihm fragen würden. Sie hätten ausdrücklich gefragt, wo sie ihn finden könnten. Zwei Jahre lang habe er es geschafft, heimlich für diese Firma zu arbeiten, nur seine Mutter und seine Frau hätten Bescheid gewusst. Ihr Dorf sei unter Kontrolle der Taliban gestanden, aber er sei so vorsichtig gewesen, dass sie es nicht bemerkt hätten. Als er gehört habe, dass die Taliban nach ihm suchen würden, habe er gewusst, dass er jetzt verraten worden sei und sie wüssten, was er beruflich mache. Er habe sofort verstanden, dass er in Afghanistan keinerlei Überlebenschance habe. In solchen Fällen hätten die Taliban keine Gnade. Deshalb habe er seine Heimat verlassen. Ihre Firma habe alle drei Monate ein oder zwei Fahrer und Fahrzeuge verloren. Einmal hätten die Taliban einen Fahrer mit Treibstoff übergossen und angezündet (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 9-12).

2.2.3. Zunächst ist augenscheinlich, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen im Laufe des Verfahrens deutlich steigerte und abänderte. Während er in der polizeilichen Erstbefragung angab, die Taliban hätten ihn für ihre Kämpfe rekrutieren wollen und er habe dies abgelehnt, weswegen sie ihn mit dem Umbringen bedroht hätten (vgl. AS 23), brachte er vor der belangten Behörde erstmals vor, aufgrund seiner Arbeit als Fahrer einer für die Amerikaner tätigen Firma von den Taliban bedroht und gesucht worden zu sein.

Das Gericht verkennt bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers in der Erstbefragung nicht, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG die Erstbefragung zwar „insbesondere“ der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden dient und sich nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen hat. Die Beweisergebnisse der Erstbefragung dürfen nicht unreflektiert übernommen werden (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert § 19 Abs. 1 AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der Erstbefragung zu späteren Angaben – unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind – einbezogen werden (VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608-12, VwGH 28.06.2018, Ra 2018/19/0271, mwN).

Doch auch unter Berücksichtigung des Zwecks einer Erstbefragung ist für das erkennende Gericht nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschwerdeführer seinen angeblich zentralen Fluchtgrund, die Bedrohung und Verfolgung aufgrund seiner Tätigkeit als Fahrer, in seiner Erstbefragung mit keinem Wort erwähnen und stattdessen auf eine vermeintliche Zwangsrekrutierung verweisen sollte. Er gab im weiteren Verfahren stets an, ausschließlich aufgrund der Bedrohung infolge seiner Arbeit geflohen zu sein, eine versuchte Rekrutierung durch die Taliban erwähnte er überhaupt nicht mehr. Der Beschwerdeführer bestätigte vor der Erstbefragung, den Dolmetscher zu verstehen und der Einvernahme ohne Probleme folgen zu können, und danach, dass ihm die Niederschrift rückübersetzt worden sei und es keine Verständigungsprobleme gegeben habe (vgl. AS 17, 25). Auch in seiner Einvernahme vor der Behörde über zwei Jahre später gab er an, dass seine bisher gemachten Angaben rückübersetzt und korrekt protokolliert worden seien. Korrigieren möchte er lediglich sein Geburtsdatum, die Fluchtgründe seien „dieselben“ (vgl. AS 55).

Erst als er in der mündlichen Verhandlung auf die Abweichungen in seinen Fluchtgründen angesprochen wurde, gab der Beschwerdeführer erstmals an, bei der Erstbefragung die Frage nicht richtig verstanden zu haben, der Dolmetscher habe das nicht ausführlich geschildert. Er habe damit gemeint, dass die Region von den Taliban kontrolliert werde und die Taliban die jungen Leute dazu bringen könnten zu kämpfen. Am Tag der Erstbefragung seien sehr viele Leute dort gewesen und alle Afghanen hätten gemeint, man müsse die Fragen ganz kurz beantworten, ansonsten gebe es keine Zeit für die anderen. Er habe diesbezüglich falsche Informationen erhalten (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 11). Dies ist angesichts der wiederholten Bestätigung der Richtigkeit der Angaben durch den Beschwerdeführer selbst, auch noch in der Einvernahme, nicht glaubhaft und auch nicht nachvollziehbar. Er sprach in der Erstbefragung nicht allgemein von einer Gefahr von Rekrutierungen, sondern konkret davon, dass die Taliban ihn rekrutieren hätten wollen, er das nicht gewollt habe und sie ihn „deswegen“ mit dem Umbringen gedroht hätten (vgl. AS 23). Auch erschließt sich dem erkennenden Gericht nicht, weshalb es nicht genauso kurz und knapp möglich sein sollte, auf eine Bedrohung als für die Amerikaner tätiger Fahrer zu verweisen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen im Allgemeinen nicht als glaubhaft anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH). Vor diesem Hintergrund bestehen bereits im Hinblick auf die – nicht allein durch den Zweck der Erstbefragung erklärbare – Steigerung des Vorbringens Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Beschwerdeführers betreffend eine Bedrohung durch die Taliban aufgrund seiner Arbeit als Fahrer. Im konkreten Fall kann aber auch den ursprünglichen Angaben zu einer versuchten Zwangsrekrutierung kein Glauben geschenkt werden, da der Beschwerdeführer von diesen im weiteren Verfahren ausdrücklich abrückte und zuletzt angab, niemals persönlichen Kontakt zu den Taliban gehabt zu haben (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 12).

Dass es sich beim zentralen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers tatsächlich um eine nachträglich erdachte Steigerung handelt, wird auch durch die widersprüchlichen Angaben zu seiner Berufstätigkeit gestützt. In seiner Erstbefragung gab er ausdrücklich an, dass „seine einzige Beschäftigung“ in Afghanistan als Selbstständiger mit einem Lebensmittelgeschäft gewesen sei (vgl. AS 19), eine Arbeit als Fahrer erwähnte er nicht. Auch bei seiner Einvernahme vor der belangten Behörde sagte er bei der Schilderung seines Lebenslaufes noch, dass er „nur im eigenen Geschäft“ gearbeitet habe (vgl. AS 56-57). Erst, als er nach seinen Fluchtgründen gefragt wurde, behauptete er erstmals, auch zwei Jahre als Fahrer gearbeitet zu haben. Dass er zuvor, sogar noch in derselben Befragung, eine andere Tätigkeit als jene im Geschäft zweimal verneint hatte, spricht dafür, dass es sich bei der behaupteten Arbeit als Fahrer bloß um eine für das Fluchtvorbringen nötige Ausschmückung handelt. Auf Vorhalt dieses Widerspruchs in der mündlichen Verhandlung sagte der Beschwerdeführer, er sei bei der Erstbefragung noch ganz neu in Österreich gewesen und habe nicht gewusst, was ein Interview bedeute und wie genau man die Fragen beantworten müsse. Die anderen Afghanen hätten gemeint, man solle die Fragen nur ganz kurz beantworten, das sei nicht wichtig. Deswegen habe er gesagt, dass er ein Lebensmittelgeschäft gehabt habe, was zwar korrekt sei, aber nicht alles (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 10-11). Dies erklärt aber nicht, weswegen er ausdrücklich angab, dass dies „seine einzige Beschäftigung“ gewesen sei. Auch ist nicht nachvollziehbar, weshalb er, wenn er sich kurzfassen wollte, gerade die vermeintlich zuletzt ausgeübte Beschäftigung weglassen würde. Jedenfalls erklärt diese Rechtfertigung nicht, warum er auch in der behördlichen Einvernahme noch einmal angab, „nur“ im Geschäft gearbeitet zu haben. Insgesamt konnte er den Widerspruch somit nicht plausibel auflösen.

Auch in weiteren wesentlichen Aspekten verstrickte sich der Beschwerdeführer bei seinem Vorbringen in klare Widersprüche. So sagte er in der Einvernahme vor der belangten Behörde aus, dass, nachdem er nach dem Anschlag der Taliban nachhause zurückkehrte, seine Frau (und in der Folge auch er) „nach einem Tag“ zu ihrem Vater gegangen sei (vgl. AS 59). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er hingegen an, dass seine Frau schon bei seiner Rückkehr nicht mehr zuhause, sondern bei ihrem Vater gewesen sei (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 9). Es ist nicht glaubhaft, dass sich der Beschwerdeführer nicht daran erinnern würde, ob er nach diesem einschneidenden Ereignis noch einen Tag zuhause mit seiner Frau verbracht hätte, oder ob diese bei seiner Rückkehr schon weg gewesen wäre und er sich – mutmaßlich sofort – zu seinem Schwiegervater aufgemacht hätte. Völlig konträr beschrieb er auch, ob in seinem Dorf bekannt gewesen sei, dass er als Fahrer für die Amerikaner gearbeitet habe. Vor der belangten Behörde sagte er, jeder habe mitbekommen, dass er mit den Amerikanern arbeite, und daher hätten es die Taliban auch gewusst (vgl. AS 61). In der mündlichen Verhandlung gab er jedoch an, er habe es geschafft, heimlich für die Firma zu arbeiten, und nur seine Mutter und seine Frau hätten gewusst, was er mache, sonst niemand. Er sei immer so vorsichtig gewesen, dass die Taliban nicht bemerkt hätten, was er beruflich mache (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 9). Auch dieser Widerspruch spricht dafür, dass der Beschwerdeführer in Wahrheit überhaupt nicht als Fahrer tätig war.

Des Weiteren schilderte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen auch auffällig oberflächlich und vage und damit – im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes – nicht ausreichend substantiiert. Nähere Details zum Ablauf der Ereignisse brachte er sowohl vor der belangten Behörde als auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt nicht von selbst, sondern gegebenenfalls erst auf ausdrückliche Nachfrage bzw. Aufforderung des Einvernahmeleiters bzw. der erkennenden Richterin vor. Besonders augenscheinlich war dies betreffend den Ablauf des vermeintlichen Überfalls durch die Taliban. Diesen beschrieb er bei beiden Gelegenheiten überaus knapp und detailarm. In der behördlichen Einvernahme sagte er dazu etwa nur: „Wir wollten einmal Lebensmittel transportieren und am Weg sind wir auf Taliban getroffen. Wir waren drei Autos, auf das erste Auto wurde geschossen. Ich habe das Auto stehengelassen und konnte fliehen.“ (vgl. AS 59). Durch dieses Aussageverhalten verstärkte sich bei der erkennenden Richterin der Eindruck, dass der Beschwerdeführer bewusst von selbst kaum Einzelheiten vorbrachte und das Geschehen nur oberflächlich beschrieb, um sich nicht in (weitere) Widersprüche zu verstricken und seine Antworten besser abwägen zu können.

Schließlich steht das Vorbringen des Beschwerdeführers auch nicht mit den vorliegenden Länderinformationen zum Vorgehen der Taliban in Einklang und ist insofern nicht plausibel. Wie aus dem ins Verfahren eingebrachten Landinfo-Bericht „Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 hervorgeht, bieten die Taliban Personen wie dem Beschwerdeführer, die sie als „Kollaborateure des ausländischen Militärs“ ansehen, die Chance, „Reue“ und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Eine Tätigkeit als Auftragnehmer sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn man ihre Warnungen in den Wind schlägt. Personen aus dieser Zielgruppe können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (vgl. Landinfo 1, S. 12). Genau dies hätte der Beschwerdeführer seinen eigenen Angaben zufolge getan, indem er seine Arbeit – nach der ersten „Warnung“ – aufgegeben und Afghanistan verlassen hätte. Dass er aufgrund seiner Tätigkeit als untergeordneter Auftragnehmer ohne Vorwarnung umgebracht werden sollte, entspricht nicht den genannten Länderinformationen und ist daher und besonders in Zusammenschau mit den übrigen Ungereimtheiten nicht glaubhaft.

In einer Gesamtschau dieser beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere der deutlichen Steigerung des Vorbringens, der aufgezeigten klaren Widersprüche in zentralen Punkten, der vagen und detailarmen Schilderung und der fehlenden Plausibilität vor dem Hintergrund der Länderinformationen, konnte der Beschwerdeführer eine Bedrohung und Verfolgung durch die Taliban wegen seiner Tätigkeit als Fahrer nicht glaubhaft machen.

Daraus ergibt sich auch, dass dem Beschwerdeführer auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder andere Personen droht.

2.2.4. Dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan allein aufgrund seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines Lebens in Europa bzw. in Österreich Verfolgung drohen würde, ist unter Beachtung der Situation im Herkunftsstaat und seiner individuellen Umstände nicht ersichtlich. Diesbezüglich brachte er in der Beschwerde vor, als „verwestlicht wahrgenommene“ Personen würden von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen werden, und sich, wenn sie längere Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, dort nicht mehr zurechtfinden (vgl. AS 378). In der mündlichen Verhandlung sagte der Beschwerdeführer, er habe in Österreich vieles gelernt, was er in Afghanistan nicht gewusst habe. Hier könne er in Freiheit leben und einen Bart oder Turban tragen oder auch nicht. Hier sage niemand, was er zu tun habe, welche Religion er habe oder was er denke. Er könne sich nicht vorstellen, jetzt in Afghanistan unter Kontrolle der Taliban zu leben. Wie er jetzt denke und alles was er in Europa gelernt habe stehe in deutlichem Widerspruch mit den Werten der Taliban (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 10, 13).

Dass die vom Beschwerdeführer beschriebene Wahrnehmung gewisser persönlicher Freiheiten, etwa bezogen auf Kleidung, im Falle eines afghanischen Mannes bereits zu maßgeblicher Verfolgung führen würde, ist den Länderinformationen jedoch nicht zu entnehmen. Eine nachhaltig verinnerlichte „westliche“ Lebenseinstellung konnte dieser, auch aufgrund des in der mündlichen Verhandlung von ihm gewonnenen persönlichen Eindrucks und seiner überaus vagen Angaben, nicht glaubhaft machen. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die diesbezüglichen Risikoeinschätzungen in der EASO Country Guidance vom Dezember 2020 und den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 noch aus der Zeit vor der neuerlichen Machtübernahme der Taliban stammen. Diese Einschätzungen nahmen jedoch schon bisher primär auf eine entsprechende Gefährdung seitens regierungsfeindlicher Kräfte, somit insbesondere der Taliban, Bezug, und sind daher betreffend deren Umgang mit Angehörigen bestimmter Risikoprofile nach wie vor aktuell.

EASO führt konkret aus, dass Afghanen, die sich mit westlichen Werten identifizieren, von aufständischen Gruppen ins Visier genommen werden „können“, weil diese als unislamisch, regierungstreu oder als Spione wahrgenommen werden können. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass das Risiko einer Verfolgung wegen vermeintlicher „Verwestlichung“ für Frauen ungleich höher ist als für Männer. UNHCR verweist auf einzelne Berichte zur Verfolgung „als verwestlicht wahrgenommener“ Personen, enthält sich jedoch einer Einschätzung zur Wahrscheinlichkeit einer solcher Verfolgung. Im konkreten Fall des Beschwerdeführers, der nach eigenen Angaben nie offen gegen die Taliban aufgetreten (vgl. Niederschrift vom 19.08.2021, S. 14) und unverändert sunnitischer Muslim und Tadschike ist,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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