Entscheidungsdatum
13.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I417 2231656-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Friedrich ZANIER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch den Erwachsenenvertreter XXXX , Verein Suara, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.05.2020, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 sowie hinsichtlich Spruchpunkt VII. gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
IV. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte am 15.07.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen er im Wesentlichen mit seinem Leiden an einer „psychotischen Störung“ sowie den inadäquaten Behandlungsmöglichkeiten in Nigeria begründete.
2. Am selben Tag wurde mit Beschluss des BG XXXX zur GZ: XXXX für den Beschwerdeführer XXXX vom Verein Suara mit sofortiger Wirksamkeit gemäß § 119 AußStrG zum Rechtsbeistand im Verfahren, in dem die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters geprüft wird und gemäß § 120 AußStrG zum einstweiligen Erwachsenenvertreter zur Besorgung folgender dringender Angelegenheiten bestellt: Vertretung vor Behörden zur Abklärung des Aufenthaltsstatus sowie im Verfahren zur Erlangung eines legalen Aufenthaltsstatus in Österreich.
3. Dem Beschwerdeführer wurde mittels Verfahrensanordnung gemäß § 29 Abs. 3 und § 15a AsylG am 19.07.2019 mitgeteilt, dass die belangte Behörde beabsichtige, seinen Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen und er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
4. Der Erwachsenenvertreter des Beschwerdeführers übermittelte der belangten Behörde am 19.07.2019 eine Stellungnahme zur Situation psychisch Erkrankter in Nigeria sowie den Beschluss des BG XXXX vom 15.07.2019, in welchem der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Univ. Doz. Dr. XXXX zum Sachverständigen bestellt und beauftragt wurde, binnen zwei Monaten ein schriftliches Gutachten zu bestimmten Fragen betreffend den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zu erstatten.
5. Mit Ladungen vom 05.08.2019 und 17.09.2019 wurde der Beschwerdeführer ersucht, jeweils zu einer psychiatrischen Untersuchung bei DDr. XXXX , Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, am 16.09.2019 und 07.10.2019 zu erscheinen. Gemäß der Bestätigung des Arztes für Allgemeinmedizin, XXXX vom 13.09.2019 war der Beschwerdeführer in der Zeit von 13.09.2019 bis einschließlich 17.09.2019 arbeitsunfähig. Laut Schreiben von DDr. XXXX vom 16.09.2019 und 07.10.2019 ist der Beschwerdeführer zu beiden Ladungsterminen ohne Angabe von Gründen nicht erschienen, weshalb eine Gutachtenserstellung nicht möglich gewesen sei.
6. Am 02.12.2019 legte der von der belangten Behörde bestellte Sachverständige und Klinische Psychologe, Gesundheitspsychologe, Militärpsychologe, Notfallpsychologe Mag. Dr. XXXX der belangten Behörde sein erstelltes psychologisches Gutachten nach einer psychologischen Untersuchung des Beschwerdeführers am 27.11.2019 vor, wonach der Beschwerdeführer an einer dissoziativen Störung (ICD-10: F44) leide und eine derartige psychische Erkrankung durchaus gut medikamentös mit milden Antidepressiva behandelbar sei. Zudem sei der Beschwerdeführer grundsätzlich einvernahmefähig.
7. Am 21.01.2020 erfolgte vor der belangten Behörde eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Beisein seines Erwachsenenvertreters, jedoch konnte der Beschwerdeführer im Rahmen dieser Einvernahme keinerlei sachdienliche Angaben tätigen.
8. Der Erwachsenenvertreter des Beschwerdeführers übermittelte der belangten Behörde am 29.01.2020 eine Stellungnahme, einen Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 10.11.2017 zum Thema „Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen“ sowie eine Behandlungsbestätigung der Psychosozialen Dienste XXXX vom 28.01.2020.
9. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 04.05.2020 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Zudem wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt V.). Ihm wurde für die freiwillige Rückreise eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt VI.) und wurde ausgesprochen, dass er sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 13.09.2018 verloren hat (Spruchpunkt VII.).
10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen Erwachsenenvertreter am 03.06.2020 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und führte darin an, dass er im Falle einer Rückkehr nach Nigeria in eine für ihn existenzbedrohende Notlage geraten oder Art. 2 oder 3 EMRK-widrige Behandlung erfahren würde. Zudem gehöre er der sozialen Gruppe der psychisch Erkrankten an, welche aufgrund der in Nigeria weit verbreiteten Annahme, psychisch Erkrankte seien verhext, bis zum Tode gequält werden, ohne dass ihnen staatliche Hilfe zukommen würde. Der Beschwerde wurde eine ACCORD-Anfragebeantwortung zu Nigeria zum Thema: „Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen“ beigefügt.
11. Am 08.06.2020 langte die Beschwerde samt Bezug habenden Akt am Bundesverwaltungsgericht – Außenstelle Innsbruck ein.
12. Am 07.01.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Beschluss des BG XXXX vom 04.11.2019 zu XXXX ein, mit welchem XXXX für den Beschwerdeführer zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter gemäß § 271 ABGB bestellt wurde.
13. Mit Anfrage des erkennenden Richters vom 04.03.2021 an die nunmehr zuständige Richterin des BG XXXX wurde um Zusendung des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. XXXX ersucht, auf welches im Beschluss zu XXXX verwiesen wurde. Am 09.04.2021 langte eine entsprechende Rückmeldung unter Beifügung des in Rede stehenden Sachverständigengutachtens beim erkennenden Gericht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der umseits unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang und dessen Ausführungen werden zu Feststellungen erhoben.
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Nigeria, Angehöriger der Volksgruppe der Igbo an und bekennt sich zum christlichen Glauben. Seine Identität steht fest.
Beim Beschwerdeführer besteht im Langzeitverlauf eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis und liegt eine Minussymptomatik im Rahmen einer Schizophrenie vor. Eine Kontaktaufnahme und Kommunikation ist ihm störungsbedingt nur sehr eingeschränkt möglich. Es finden sich Störungen des Gedankengangs, des Antriebes, der Psychomotorik und der emotionalen und affektiven Befindlichkeit. Seine Kritik- und Urteilsfähigkeit ist nicht erhalten und ist die Überblicksgewinnung einfache und komplexe Angelegenheiten betreffend nicht gegeben. Der Realitätsbezug ist deutlich herabgesetzt und findet sich ein deutliches Selbstfürsorgedefizit. Er steht seit 18.04.2019 in regelmäßiger Betreuung und Behandlung in einem sozialpsychiatrischen Ambulatorium und nimmt seither täglich das Medikament Risperdal ein.
Der Beschwerdeführer wird seit 15.07.2019 durch den gerichtlichen Erwachsenenvertreter XXXX vom Verein Suara zur Besorgung dringender Angelegenheiten in Hinblick auf die Vertretung vor Behörden zur Abklärung des Aufenthaltsstatus und im Verfahren zur Erlangung eines legalen Aufenthaltsstatus in Österreich sowie seit 04.11.2019 im folgenden Wirkungskreis vertreten: Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern; Verwaltung von Einkommen, Vermögen und Verbindlichkeiten; Vertretung gegenüber privaten Vertragspartnern bei Rechtsgeschäften, die über die Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen; Bestimmung des Wohnortes. Die Erwachsenenvertretung endet vorbehaltlich der vorzeitigen Beendigung oder der Einleitung eines Erneuerungsverfahrens am 04.11.2022. Aufgrund der krankheitswertigen Ausprägung der Symptomatik ist der Beschwerdeführer nicht dazu in der Lage, die angeführten Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils für sich zu besorgen.
Der Beschwerdeführer reiste im Jänner 2016 legal ins österreichische Bundesgebiet ein und wurde ihm erstmals von 07.04.2016 bis 07.04.2017 eine Aufenthaltsbewilligung als Studierender erteilt, welche aufgrund eines entsprechenden Antrags des Beschwerdeführers bis 08.04.2018 verlängert wurde. Ein abermaliger Verlängerungsantrag vom 06.04.2018 wurde hingegen am 10.08.2018 abgewiesen. Er stellte am 15.07.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer ist nunmehr bereits seit 20.01.2016 durchgehend in Österreich melderechtlich erfasst.
Er wurde in XXXX geboren und genoss in Nigeria nach eigenen Angaben eine zwölfjährige Schulbildung und eine vierjährige Universitätsausbildung, wobei er vor seiner Ausreise auch als Bauhelfer tätig war. Der Beschwerdeführer verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in Nigeria, wobei nicht festgestellt werden kann, ob ein aufrechter Kontakt zu seinen Angehörigen besteht.
Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er verfügt in Österreich über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen.
Er ging bereits in den Zeiträumen 12.08.2016 bis 10.10.2016 und 02.12.2016 bis 10.01.2017 einer beruflichen Tätigkeit in Österreich nach. Der Beschwerdeführer ist jedoch derzeit nicht erwerbstätig und somit nicht selbsterhaltungsfähig. Er bezieht keine Leistungen von der staatlichen Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer weist in Österreich keinerlei berücksichtigungswürdige Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher oder sozialer Hinsicht auf.
Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 09.04.2018 zu XXXX , rechtskräftig seit 13.09.2018, wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 3 (iVm Abs. 1) StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 90 Tagessätzen zu je EUR 4,00 verurteilt, wobei ein Teil der Geldstrafe in der Höhe von 45 Tagessätzen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
1.2. Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer brachte kein asylrelevantes Fluchtvorbringen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vor. Er wurde in seinem Herkunftsland Nigeria weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch aufgrund seiner politischen Gesinnung verfolgt und wird er auch im Falle seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Verfolgung aus den genannten Gründen ausgesetzt sein.
Festgestellt wird jedoch, dass der Beschwerdeführer, insbesondere angesichts seiner psychischen Erkrankung sowie des Umstandes, dass er ohne Erwachsenenvertreter nicht in der Lage ist, alle seine Angelegenheiten, welche über die Angelegenheiten des Alltages hinausgehen, ohne der Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen, Gefahr laufen würde, im Falle seiner Abschiebung nach Nigeria in eine existenzbedrohende oder aussichtslose Lage zu geraten.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
1.3.1. Sicherheitslage:
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 10.12.2018). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 10.12.2018; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten, (EASO 11.2018a; vgl. AA 10.12.2018), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Die 2017 deutlich angespannte Lage im Südosten des Landes („Biafra“) hat sich mit dem Eingriff des Militärs und der mutmaßlichen Flucht des Anführers der stärksten separatistischen Gruppe IPOB derzeit wieder beruhigt (AA 10.12.2018).
In den nordöstlichen Bundesstaaten Adamawa, Borno, Gombe und Yobe kommt es häufig zu Selbstmordanschlägen (BMEIA 12.4.2019). Außenministerien warnen vor Reisen dorthin sowie in den Bundesstaat Bauchi (BMEIA 12.4.2019; vgl. AA 12.4.2019; UKFCO 12.4.2019). Vom deutschen Auswärtige Amt wird darüber hinaus von nicht notwendigen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias abgeraten (AA 12.4.2019).
Zu Entführungen und Raubüberfällen kommt es im Nigerdelta und einigen nördlichen Bundesstaaten. Betroffen sind: Abia, Akwa Ibom, Anambra, Bauchi, Bayelsa, Cross River, Delta, Ebonyi, Enugu, Imo, Jigawa, Kaduna, Kano, Katsina, Kogi, Nasarawa, Plateau, Rivers und Zamfara. Für die erwähnten nordöstlichen und nördlichen Bundesstaaten sowie jenen im Nigerdelta gelegenen gilt seitens des österreichischen Außenministeriums eine partielle Reisewarnung; Hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3) in den übrigen Landesteilen (BMEIA 12.4.2019).
Das deutsche Auswärtige Amt rät von Reisen in die Bundesstaaten Kaduna (insbesondere Süd-Kaduna), Plateau, Nasarawa, Benue, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo (insbesondere die Hauptstadt Owerri), Abia, Anambra, Ebonyi, Edo, Enugu, Delta, Kogi, den südlichen Teil von Cross Rivers, Ogun und Akwa Ibom ab (AA 12.4.2019). Das britische Außenministerium warnt (neben den oben erwähnten nördlichen Staaten) vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zum Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers (UKFCO 29.11.2018).
In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Meist dauern diese Auseinandersetzungen nur wenige Tage und sind auf einzelne Orte bzw. einzelne Stadtteile begrenzt. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, das Sokoto (Nordteil) und Plateau (Südteil) sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen (AA 12.4.2019).
In der Zeitspanne April 2018 bis April 2019 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.333), Zamfara (1.116), Kaduna (662), Benue (412), Adamawa (402), Plateau (391). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Jigawa (2), Gombe (2), Kebbi (3) und Osun (8) (CFR 2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)
- AA - Auswärtiges Amt (12.4.2019): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_6, Zugriff 12.4.2019
- BMEIA - Österreichisches Außenministerium (12.4.2019): Reiseinformationen - Nigeria, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/nigeria/, Zugriff 12.4.2019
- CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019
- EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 12.4.2019
- UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (12.4.2019): Foreign Travel Advice - Nigeria - summary, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 12.4.2019
1.3.2. Sicherheitslage Middle-Belt und Jos/Plateau:
Seit Jahrzehnten kommt es in Nigeria – vorwiegend im Middle-Belt – zu religiös motivierter Gewalt zwischen christlichen ansässigen Bauern und nomadisch lebenden muslimischen Viehhirten (USCIRF 4.2018; vgl. EASO 2.2019). Ursprünglich ein Konflikt um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land, hat der Konflikt zunehmend eine ethnisch-religiöse Dimension bekommen (EASO 2.2019). Der Konflikt lädt sich immer stärker ideologisch auf und verstärkt den Antagonismus zwischen Christen und Muslimen bzw. verschiedenen Ethnien (AA 10.12.2018). Eine Polarisierung erfolgt anhand religiöser Linien, da Angriffe oft als religiös motiviert wahrgenommen werden. Im Jahr 2017 setzte sich der Konflikt fort und war Ursache für Todesfälle, Zerstörung und Vertreibung. Desertifikation und Konflikte im Norden führen dazu, dass Viehhirten Richtung Süden ziehen. Der Konflikt um die Landnutzung wird oft gewaltsam ausgetragen. Beide Seiten fühlen sich durch die Sicherheitskräfte nicht ausreichend geschützt, Angreifer bleiben ungestraft. Es wird auch von ethnische Säuberungen im Rahmen des Konflikts berichtet (USCIRF 4.2018).
Immer wieder kommt es zu lokalen Konflikten zwischen einzelnen ethnischen, sozialen und religiösen Gruppen, insbesondere zwischen Hirten und Bauern in Zentralnigeria (AA 9.2018a). Dort flammten im Verlauf des Jahres 2017 die Konflikte zwischen muslimischen Hausa-Fulani Hirten und einheimischen christlichen Bauern wieder stärker auf, besonders in den Bundesstaaten Kaduna, Plateau, Taraba, Nasarawa und Benue. In einzelnen Fällen forderten diese Auseinandersetzungen mehrere hundert Tote (AA 9.2018a; vgl. FH 1.2018; EASO 2.2019). Auch Adamawa ist betroffen (EASO 2.2019). Der Konflikt um Land und Ressourcen nimmt durch die fortschreitende Wüstenbildung in Nordnigeria, das Bevölkerungswachstum und die allgemein angespannte wirtschaftliche Lage zu (AA 9.2018a). Nach einer Eskalation im Jänner 2018 waren in der ersten Jahreshälfte 2018 mehr als 1.300 Todesopfer zu verzeichnen, 300.000 Personen wurden vertrieben. Beide Seiten begingen schwere Menschenrechtsverletzungen wie Morde, Zerstörung von Häusern und anderem Eigentum (EASO 2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (9.2018a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844, Zugriff 7.11.2018
- EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 12.4.2019
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/1443869.html, Zugriff 7.11.2018
- USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom (4.2018): Annual Report 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/1435651/1226_1529393816_tier1-nigeria.pdf, Zugriff 29.11.2018
1.3.3. Allgemeine Menschenrechtslage:
Die am 29.5.1999 in Kraft getretene Verfassung Nigerias enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Dieser ist zum Teil jedoch weitreichenden Einschränkungen unterworfen. Das in Art. 33 der Verfassung gewährte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird z.B. unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person nicht bei der Anwendung legal ausgeübter staatlicher Gewalt zur „Unterdrückung von Aufruhr oder Meuterei“ ihr Leben verloren hat. In vielen Bereichen bleibt die Umsetzung der zahlreich eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen weiterhin deutlich hinter internationalen Standards zurück. Zudem wurden völkerrechtliche Verpflichtungen zum Teil nur lückenhaft in nationales Recht umgesetzt. Einige Bundesstaaten haben Vorbehalte gegen einige internationale Vereinbarungen geltend gemacht und verhindern regional eine Umsetzung. Selbst in Bundesstaaten, welche grundsätzlich eine Umsetzung befürworten, ist die Durchsetzung garantierter Rechte häufig nicht gewährleistet (AA 10.12.2018).
Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt einer zivilen Regierung 1999 zum Teil erheblich verbessert (AA 9.2018a; vgl. GIZ 4.2019a), vor allem im Hinblick auf die Freilassung politischer Gefangener und die Presse- und Meinungsfreiheit (GIZ 4.2019a). Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen den Umgang der Streitkräfte mit Boko Haram-Verdächtigen, der schiitischen Minderheit, Biafra-Aktivisten und Militanten im Nigerdelta. Schwierig bleiben die allgemeinen Lebensbedingungen, die durch Armut, Analphabetismus, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, ein ineffektives Justizwesen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes beeinflusst werden (AA 9.2018a). Es gibt viele Fragezeichen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie z.B. die Praxis des Scharia-Rechts (Tod durch Steinigung), Entführungen und Geiselnahmen im Nigerdelta, Misshandlungen und Verletzungen durch Polizisten und Soldaten sowie Verhaftungen von Angehörigen militanter ethnischer Organisationen (GIZ 4.2019a).
Die in den Jahren 2000/2001 eingeführten strengen strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia haben zu keinem starken Anstieg von Menschenrechtsverletzungen geführt, die wenigen Steinigungsurteile wurden jeweils von einer höheren Instanz aufgehoben, auch Amputationsstrafen wurden in den letzten Jahren nicht vollstreckt (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019).
Es setzten sich nigerianische Organisationen wie z.B. CEHRD (Centre for Environment, Human Rights and Development), CURE-NIGERIA (Citizens United for the Rehabilitation of Errants) und HURILAWS (Human Rights Law Services) für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land ein. Auch die Gewerkschaftsbewegung Nigeria Labour Congress (NLC) ist im Bereich von Menschenrechtsfragen aktiv (GIZ 4.2019a).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)
- AA - Auswärtiges Amt (9.2018a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844, Zugriff 7.11.2018
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 11.4.2019
- USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019
1.3.4. Grundversorgung:
Die nigerianische Wirtschaft hat sich 2017 allmählich aus der schlimmsten Rezession seit 25 Jahren erholt, das BIP ist um 0,55 Prozent gestiegen. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich die nigerianische Wirtschaft seit Ende 2017 allmählich wieder erholt, unter anderem eine Steigerung der Erdölförderleistung, die Erholung des Erdölpreises und eine verbesserte Leistung von Landwirtschaft und Dienstleistungssektor (GIZ 4.2019c).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 10.12.2018). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei-, und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 4.2019c). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 10.12.2018). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 4.2019c).
Über 60 Prozent der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt, in ländlichen Gebieten über 90 Prozent (AA 9.2018c). Der Agrarsektor wird durch die Regierung Buhari stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 4.2019c; vgl. AA 9.2018c). Auch die Mais- und Reisproduktion wurde dadurch kräftig ausgeweitet. Dabei ist das Potenzial der nigerianischen Landwirtschaft bei Weitem nicht ausgeschöpft (AA 9.2018c) und das Land ist nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen (ÖB 10.2018; vgl. AA 9.2018c). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt aus Subsistenzbetrieben (AA 9.2018c). Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt (ÖB 10.2018).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2018; vgl. GIZ 4.2019b). Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung leben in absoluter Armut (BS 2018; vgl. ÖB 10.2018), fast 50 Prozent unter der Armutsgrenze (GIZ 4.2019b).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei Jugendlichen wird sie auf über 20 Prozent geschätzt (GIZ 4.2019b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden (ÖB 10.2018). Der Staat und die Bundesstaaten haben damit begonnen, Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umzusetzen. Die Resultate sind dürftig (BS 2018). Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 4.2019b).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2018). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2018). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2018).
Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Nur eine geringe Anzahl von Nigerianern (2016 ca. fünf Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2018).
Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 4.2019c).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)
- AA - Auswärtiges Amt (9.2018c): Nigeria - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205790, Zugriff 22.11.2018
- BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/1427393/488302_en.pdf, Zugriff 19.11.2018
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019b): Nigeria - Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 10.4.2019
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019c): Nigeria - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 11.4.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria
1.3.5. Medizinische Versorgung:
Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden (GIZ 4.2019b). Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 4.2019b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 4.2019b; vgl. ÖB 10.2018). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch. In den großen Städten findet man jedoch einige Privatkliniken mit besserem Standard (AA 12.4.2019). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor (AA 10.12.2018).
Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 10.12.2018). Krankenhäuser sind bezüglich Ausstattung, Qualifikation des Personals und Hygiene nur in städtischen Zentren vereinzelt mit europäischem Standard vergleichbar. In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung. Religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen und NGOs bieten kostenfrei medizinische Versorgung (ÖB 10.2018).
In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 10.12.2018).
Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2018). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 2.2019). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 109 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten. Die Prozentsätze der Unterernährung (Global Acute Malnutrition) liegen in den nördlichen Staaten konstant über der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen mehr als 1,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2018).
Psychische bzw. psychiatrische Erkrankungen werden in der großen Mehrheit der Bevölkerung immer noch als spiritueller Natur entspringend angesehen. Dementsprechend werden die entsprechenden Patienten besonders im ländlichen Bereich spirituellen Heilern zugeführt. Betreut werden sie in der Regel in der Familie, wenn vorhanden. Viele psychisch Kranke leben auf der Straße, in abgelegenen Regionen werden als gefährlich angesehene Personen in den Dörfern auch gelegentlich noch angekettet. Für die stationäre Unterbringung gibt es in ganz Nigeria acht staatliche psychiatrische Kliniken, die einen Langzeitbereich haben, außerdem sind zahlreiche psychisch Langzeitkranke in gesonderten Bereichen in Gefängnissen untergebracht. Im Wesentlichen findet dort eine reine Verwahrung unter ausgesprochen ärmlichen Bedingungen statt (WPA o.D.). Es existiert also kein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (AA 10.12.2018).
Insgesamt gibt es für die inzwischen annähernd 200 Millionen Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung (VAÖB 23.1.2019). Laut anderen Angaben gibt es psychiatrische Abteilungen in 15 Universitätskliniken, acht staatlichen psychiatrischen Spitälern und sechs Allgemeinen Spitälern sowie 15 psychiatrischen Privatkrankenhäusern (WPA o.D.). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 10.12.2018).
Nigeria verfügt über 110 registrierte Psychiater (WPA o.D.); nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner (Österreich 2011: 20 Psychiater/100.000 Einwohner). Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen (Österreich 2011: 80 Psychologen/100.000 Einwohner). Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen "aufbewahrt". Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt (VAÖB 23.1.2019).
Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 10.12.2018). Nur weniger als sieben Millionen der 180 Millionen Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017). Eine Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung ist über das jeweils beschäftigende Unternehmen mittels einer Krankenversicherung abgesichert, die jedoch nicht alle Krankheitsrisiken abdeckt (VAÖB 27.3.2019).
Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 4.2019b). Selbst in staatlichen Krankenhäusern muss für Behandlungen bezahlt werden (AA 10.12.2018). Die Kosten medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden. Die staatlichen Gesundheitszentren heben eine Registrierungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein: Tests und Medikamente werden unentgeltlich abgegeben, sofern vorhanden (ÖB 10.2018). Eine basale Versorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (VAÖB 27.3.2019).
Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen (AA 10.12.2018). In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Antibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 10.12.2018). Medikamente gegen einige weit verbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS können teilweise kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben. Schutzimpfaktionen werden von internationalen Organisationen finanziert, stoßen aber auf religiös und kulturell bedingten Widerstand, überwiegend im muslimischen Norden (ÖB 10.2018).
Die Qualität der Produkte auf dem freien Markt ist jedoch zweifelhaft, da viele gefälschte Produkte - meist aus asiatischer Produktion - vertrieben werden (bis zu 25% aller verkauften Medikamente). Diese wirken aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur eingeschränkt. Es gibt zudem wenig zuverlässige Kontrollen hinsichtlich der Qualität der auf dem Markt erhältlichen Produkte (AA 10.12.2018). Gegen den grassierenden Schwarzmarkt mit Medikamenten gehen staatliche Stellen kaum vor (ÖB 10.2018).
Der Glaube an die Heilkräfte der traditionellen Medizin ist nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher traditionelle Heiler als Schulmediziner konsultiert (GIZ 4.2019b). Gerade im ländlichen Bereich werden "herbalists" und traditionelle Heiler aufgesucht (ÖB 10.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)
- AA - Auswärtiges Amt (12.4.2019): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/ 205788#content_6, Zugriff 12.4.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019b): Nigeria - Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 10.4.2019
- Punch (22.12.2017): NHIS: Krankenversicherung für viele Nigerianer noch immer schwer zu fassen, https://punchng.com/nhis-health-insurance-still-elusive-for-many-nigerians/, Zugriff 3.4.2019
- VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (23.1.2019): medizinische Stellungnahme
- VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (27.3.2019): medizinische Stellungnahme
- WPA - World Psychiatric Association (o.D.): Association of Psychiatrists in Nigeria (APN), http:// www.wpanet.org/detail.php?section_id=5&content_id=238, Zugriff 3.4.2019
1.3.6. Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen:
Gesellschaftliche Wahrnehmung und Deutungsmuster sowie Stigmatisierung
Einem Artikel von Human Rights Watch (HRW) vom November 2019 zufolge würden tiefgreifende Probleme innerhalb des nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems dazu führen, dass der Großteil der NigerianerInnen in ihren Gemeinden keine angemessene psychische Gesundheitsversorgung oder Unterstützung erhalte. Stigmatisierung und Missverständnisse hinsichtlich einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit, darunter die falsche Wahrnehmung, diese werde durch böse Geister und übernatürliche Kräfte hervorgerufen, würden Verwandte oftmals dazu veranlassen, sich an religiöse oder traditionelle Heileinrichtungen zu wenden.
Einem Artikel des nigerianischen Online-Magazins Punch zufolge, habe ein Psychiater des University College Hospital in Ibadan, Dr. Olatunde Ayinde, Politiker dazu aufgefordert, soziale Dienste und eine Gesetzgebung zur sozialen Wohlfahrt zu priorisieren, um Personen, die der Hexerei beschuldigt würden, vor Misshandlung und Tod zu schützen. Zudem habe Ayinde zum Schutz von psychisch Kranken aufgerufen, die fälschlicherweise als “blutsaugende Hexen“ stigmatisiert würden. Sie sollen vor Herabwürdigung, unmenschlicher Behandlung und ungerechten Urteilen geschützt werden. Ayinde zufolge würde die nigerianische Öffentlichkeit psychische Erkrankungen nicht verstehen. Es gebe viele übernatürliche Zuschreibungen, die mit psychischen Problemen in Zusammenhang gebracht würden, etwa hinsichtlich der Gründe für psychische Erkrankungen und bei Hexereivorwürfen gegenüber psychisch Kranken. Zudem würden viele psychisch kranke Personen aufgrund der Hexereivorwürfe misshandelt und unmenschlich behandelt.
Einem Artikel von BBC vom Dezember 2019 zufolge würden die englischen Begriffe „witch“ (Hexe, Hexer) und „wizard“ (Zauberer) nicht ausreichend die „Tiefe des Bösen“ vermitteln, die kulturell mit solchen Personen in Verbindung gebracht werde. Deren „Manipulationen“ würden für eine Reihe von Beschwerden verantwortlich gemacht, von Krankheit bis Unfruchtbarkeit, Armut und Versagen. Der Glaube daran und die Verachtung sei so tief verwurzelt, dass ein Abschnitt des nigerianischen Strafgesetzbuchs weiterhin Hexerei verbiete und sie mit einer Gefängnisstrafe geahndet werde. Berichte über Verurteilungen seien nicht häufig, jedoch gebe es in den Medien regelmäßig Berichte über Personen, die als Hexen beschuldigt und brutal behandelt oder gelyncht worden seien.
Einem im Journal of International Women's Studies im August 2017 erschienenem und von Friday Eboiyehi verfassten wissenschaftlichen Paper zufolge würden Hexereivorwürfe einen kritischen Faktor bei der Verletzung der Rechte von älteren Frauen spielen. Ihnen werde unter anderem zugeschrieben, die böse Neigung zu haben, unschuldigen Personen zu schaden, magische Kräfte zu haben und Krankheiten und Unglück hervorzurufen. In vielen Gemeinschaften würden seitens jener, die von einem Unglück, einer Krankheit oder einem Tod innerhalb der Familie betroffen seien, oftmals die Dienste von WahrsagerInnen oder HexendoktorInnen in Anspruch genommen, um jene in der Gemeinschaft zu identifizieren, die sie „verhext“ hätten. Im Großteil der Fälle würden dabei oft ältere Frauen beschuldigt, die dann von den Konsequenzen betroffen seien.
Ein von Leo Igwe, dem Kampagnen-Direktor des Witchcraft and Human Rights Information Network (WHRIN), verfasster Artikel beschreibt etwa das Schicksal einer 70-jährigen Frau aus dem Bundesstaat Edo, die beschuldigt werde, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein (vgl. Igwe, 18. August 2019).
In einem weiteren von Igwe verfassten Artikel vom Oktober 2019 werden christliche nigerianische Kirchenführer beschuldigt, sich Narrativen der Hexerei zu bedienen und Exorzismus zu betreiben. Diese Exorzismen würden oftmals Folter sowie unmenschliche und herabwürdigende Behandlung und Misshandlung beinhalten (vgl. The Guardian (Nigeria), 20. Oktober 2019).
Die britische Tageszeitung The Guardian zitiert in einem Artikel vom September 2019 den Vizevorsitzenden der Initiative Mani (Mentally Aware Nigeria Initiative) in Lagos, demzufolge die Gefahr bestehe, dass von Depression betroffene Personen von der Gesellschaft als „verrückt“ eingestuft würden. Dies bedeute, dass die Mehrheit der Personen mit psychischen Problemen nicht verstehen oder akzeptieren würde, was sie fühle.
Psychisches Gesundheitssystem:
Einem wissenschaftlichen Paper aus dem Jahr 2017 zufolge würden in Nigeria weniger als 15 Prozent der Personen mit schweren psychischen Erkrankungen Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen. Wie auch in anderen Ländern Subsahara-Afrikas werde die psychische Gesundheitsversorgung vernachlässigt und neuropsychiatrische Dienste hätten innerhalb des nationalen Budgets geringe Priorität. Nur etwa ein Prozent des Gesundheitsbudgets werde für psychische Gesundheit aufgewendet, obwohl der Anteil der Krankheitslast („burden of disease“) von psychischen Erkrankungen bei 8 Prozent liege. Diese Mittel würden zudem ineffizient ausgegeben. Psychische Gesundheitsdienste bestünden in Nigeria überwiegend aus großen staatlichen psychiatrischen Krankenhäusern. Es gebe acht föderale neuropsychiatrische Krankenhäuser und eine ähnliche Anzahl psychiatrischer Abteilungen in Universitätslehrkrankenhäusern für die 170 Millionen EinwohnerInnen Nigerias. Nigeria verfüge über etwa einen Psychiater pro einer Million EinwohnerInnen und vier psychiatrische PflegerInnen pro 100.000 Personen. Das Land würde jedoch beginnen, psychische Gesundheitsdienste auf Gemeindeebene zu entwickeln.
Nigeria verfüge mit schätzungsweise 200 Millionen EinwohnerInnen über weniger als 300 PsychiaterInnen, so HRW im November 2019. Mehrere MitarbeiterInnen im psychischen Gesundheitswesen hätten gegenüber HRW angegeben, dass qualitativ hochwertige psychische Gesundheitsdienste nur für wohlhabendere BürgerInnen verfügbar seien, die es sich leisten könnten. Der Mangel an qualitativ hochwertiger psychischer Gesundheitsversorgung und die unerschwinglichen Kosten würden die Menschen oftmals dazu veranlassen, traditionelle oder glaubensbasierte HeilerInnen aufzusuchen.
In einem auf der Website der Universität Yale im Jänner 2020 veröffentlichten Artikel wird beispielhaft für die schlechte Versorgung ländlicher Regionen etwa die Lage im nigerianischen Bundesstaat Imo erwähnt. Es gebe dort keine psychiatrischen Krankenhäuser und nur einen Vollzeit-Psychiater, der die fünf Millionen EinwohnerInnen betreue.
Rechtliche Regelungen:
Adegboyega Ogunlesi erwähnt in einem wissenschaftlichen Artikel vom August 2012, dass die gegenwärtig gültige Gesetzgebung zu psychischer Gesundheit in Nigeria auf eine Anordnung zu Geistesstörungen aus dem Jahr 1916 zurückzuführen sei, die im Jahr 1958 den Status als Gesetz erhalten habe. Im Jahr 2003 sei die Verabschiedung eines Gesetzesvorschlags zu psychischer Gesundheit nicht erfolgreich gewesen. Gegenwärtig (2012) gebe es jedoch erneute Versuche das Gesetz zu reformieren.
Der Lunacy Act (Gesetz zu Geistesstörungen) von 1958 erlaube HRW zufolge die Internierung von Personen mit psychischen Erkrankungen (mental health conditions) in Einrichtungen zur psychischen Gesundheitsversorgung, auch wenn keine medizinische oder therapeutische Behandlung geleistet werde. Personen würden Jahre – manchmal auch Jahrzehnte - in den Einrichtungen verbringen, weil es in Nigeria an angemessenen Diensten zur Unterstützung innerhalb der Gemeinden fehle. In nur einer der von HRW im Zuge von Recherchen besuchten Einrichtungen sei es Personen erlaubt gewesen, die Einrichtung zu verlassen oder ihre Internierung anzufechten.
Ein Artikel der nigerianischen Tageszeitung The Guardian vom Jänner 2020 erwähnt, dass bereits die erste und zweite Lesung eines nationalen Gesetzesvorschlags zu psychischer Gesundheit erfolgt sei und dieser nun der Nationalversammlung zur öffentlichen Anhörung vorliege. Der Artikel zitiert zudem den Präsidenten der Vereinigung der Psychiater in Nigeria, welcher zur Implementierung der Nationalen Strategie zu psychischer Gesundheit aufgerufen habe, die 2013 verabschiedet worden sei.
Diskriminierung seitens der Gesellschaft bzw. der Familie:
Human Rights Watch erwähnt im Artikel vom November 2019, dass Recherchen der Organisation ergeben hätten, dass Menschen mit tatsächlichen oder angenommenen psychischen Problemen („conditions“), darunter Kinder, gewöhnlicherweise von Verwandten ohne ihre Zustimmung in Einrichtungen gebracht worden seien.
Akanni, eine 22-jährige Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter eine psychische Gesundheitskrise erlitten habe und zum Zeitpunkt des Interviews im März 2019 fünf Monate lang in einer Kirche in Abeokuta festgehalten worden sei, habe angegeben, dass sie nicht gewusst habe, dass sie von ihrem Vater in der Kirche zurückgelassen würde, als dieser sie hergebracht habe. Manchmal würden die Familien HeilerInnen bezahlen, um Verwandte zuhause festzuhalten und sie zu einem Zentrum zu bringen. HRW beschreibt zudem den Fall eines 27-jährigen Mannes mit Depressionen.
Diskriminierung in verschiedenen Einrichtungen:
In psychiatrischen Krankenhäusern und staatlichen Rehabilitationszentren hätten MitarbeiterInnen unter Zwang Medikation durchgeführt. Einige MitarbeiterInnen hätten zugegeben, elektrokonvulsive Therapie bei PatientInnen ohne deren Zustimmung anzuwenden.
In 27 der 28 von HRW im Zuge der Recherchen besuchten Einrichtungen seien alle BewohnerInnen unrechtmäßig inhaftiert gewesen. Sie seien nicht freiwillig in die jeweilige Einrichtung gekommen und hätten diese auch nicht verlassen können. HRW beschreibt zudem den Fall eines 29-jährigen Mannes, der in einem islamischen Rehabilitationszentrum in Kano festgehalten werde.
In einem staatlichen Rehabilitationszentrum im Norden Nigerias habe Human Rights Watch Dutzende Männer und Frauen entdeckt, die in Ketten gelegt worden seien. Bei vielen sei ein Knöchel mittels einer Kette am Betonboden befestigt gewesen. Viele hätten dort seit Jahren gelebt, einige seit bis zu 15 Jahren.
Die MitarbeiterInnen eines psychiatrischen Krankenhauses in Nigeria hätten darauf beharrt, dass auf dem Gelände niemand in Ketten gelegt werde, aber ein Rechercheur habe eine Abteilung mit Personen entdeckt, die eiserne Fußfesseln getragen hätten. Trotz mehrerer Anfragen sei es HRW nicht erlaubt worden, Personen, die in föderalen psychiatrischen Krankenhäusern in Kaduna, Lagos und Abeokuta festgehalten würden, zu treffen oder mit ihnen zu sprechen.
Zwei PsychiaterInnen, ein/e PfelgerIn und ein/e AktivistIn haben angegeben, dass das Anlegen von Fesseln in föderalen psychiatrischen Krankenhäusern landesweit erfolge. Ein/e Arzt/Ärztin eines psychiatrischen Krankenhauses im südlichen Nigeria habe angegeben, dass in einigen Fällen Ketten verwendet werden müssten. Ein Psychiater in einem Krankenhaus in Lagos habe angegeben, dass die MitarbeiterInnen dort Handschellen verwenden würden.
Eine über 30 Jahre alte Frau, die in einer Hütte eines traditionellen Heilers in Abeokuta gemeinsam mit zwei Männern an einen Automotor gekettet gewesen sei, habe angegeben, dass sie an diesem Ort (an dem sie gefesselt sei) mittels Plastiksäcken, die am Abend entfernt würden auf die Toilette gehe. In zwei anderen traditionellen Einrichtungen hätten die Personen auf sich selbst urinieren und defäkieren müssen. Eine 20-jährige Frau habe angegeben, dass sie gefesselt worden sei und drei Tage auf ihrem Rücken gelegen sei. Sie habe, während sie sich im Raum befunden habe, auf sich selbst defäkiert und uriniert.
Das im Südosten des Landes von HRW besuchte staatliche Rehabilitationszentrum habe über funktionierende Toiletten verfügt, jedoch hätten die MitarbeiterInnen den in Ketten gelegten Personen den Zugang verweigert und habe ihnen stattdessen einen Kübel neben die Betten gestellt. In drei Einrichtungen hätten die MitarbeiterInnen den Personen nicht erlaubt, regelmäßig zu baden. Ein traditioneller Heiler in Abuja habe angegeben, dass eingesperrte Personen manchmal, bis sie sich besser fühlen würden, einige Monate nicht baden würden. Man würde sie nur mit Wasser mit Kräutern übergießen, ohne sich ihnen weiter zu nähern.
In einigen christlichen Heilzentren seien Personen mit psychosozialen und intellektuellen Behinderungen HRW zufolge auch Nahrungsmittel verweigert worden. Akanni, die 22-jährige Frau, die seit fünf Monaten in Abeokuta in einer Kirche inhaftiert sei, habe angegeben, dass sie bei ihrer Ankunft drei Tage lang keine Nahrungsmittel und Wasser erhalten habe. Es sei nicht ihre Entscheidung gewesen, aber der Pastor habe gesagt, es sei gut für sie. Manchmal, wenn ihr gesagt werde, sie solle fasten und sie trinke Wasser oder würde essen, würden sie die MitarbeiterInnen in Ketten legen. Dies sei die Bestrafung. Eine weitere 27-jährige Frau, die in derselben Kirche festgehalten worden sei, habe angegeben, dass sie in Ketten gelegt und gezwungen worden sei, sieben Tage zu fasten. Nach einer kurzen Pause sei sie weitere sieben Tage in Ketten gelegt worden. MitarbeiterInnen dieser Kirche und zwei weiterer Kirchen im Süden des Landes hätten diese Praxis bestätigt.
Personen in islamischen Rehabilitationszentren hätten angegeben von MitarbeiterInnen ausgepeitscht („whipped“) worden zu sein. Amina, die nach dem Tod ihrer Mutter zu verschiedenen islamischen HeilerInnen und in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht worden sei, habe angegeben, dass sie in einem Rehabilitationszentrum in Kaduna mit Seilen gefesselt, geschlagen und bespuckt worden sei. Darauf sei sie von einem traditionellen Heiler, der zu ihr nach Hause gekommen sei, in Abuja sexuell belästigt („molested“) worden. Er habe ihr gesagt sie solle sich ausziehen, dies sei Teil des Heilprozesses und dann habe er ihren Körper berührt. Die MitarbeiterInnen in einem psychiatrischen Krankenhaus in Abuja hätten Amina an ein Bett gefesselt und ihr zwangsweise Medikamente verabreicht. Sie habe sich laut eigenen Angaben angepinkelt. Zudem habe sie ihre Periode gehabt, aber sie sei weiterhin ruhig gestellt worden. Akanni habe angegeben, dass sie von MitarbeiterInnen geschlagen worden sei.
Glaubensbasierte und traditionelle Heilzentren könnten das Ziel haben, sich um Menschen zu kümmern, die aufgrund einer psychischen Krise keine andere Möglichkeiten für Unterstützung hätten. Viele traditionelle und glaubensbasierte HeilerInnen würden sich offensichtlich aufrichtig um die Menschen in ihren Einrichtungen sorgen. Jedoch würde die Anwendung von Ketten Menschen mit psychischen Problemen ihre fundamentalsten Rechte auf Würde und menschliche Behandlung entziehen. Körperliche Gewalt und sexuelle Misshandlung würde dem körperlichen, sexuellen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefinden einer Einzelperson weiter schaden und können Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder herabwürdigender Behandlung oder Bestrafung gleichkommen.
In psychiatrischen Krankenhäusern und staatlichen Rehabilitationszentren hätten MitarbeiterInnen angegeben, dass Personen oral einzunehmende und injizierbare Medikamente ohne deren Zustimmung verabreicht worden seien. In zwei von HRW besuchten psychiatrischen Krankenhäusern sei bei PatientInnen ohne deren Zustimmung elektrokonvulsive Therapie durchgeführt worden. In vielen besuchten traditionellen und religiösen Zentren hätten HeilerInnen Personen mit psychischen Problemen eine Behandlung mittels Kräutern und weitere nicht-medizinische Behandlung aufgezwungen.
Ein traditioneller Heiler in Ibadan habe angegeben, dass vier Personen eine Person halten würden, damit er die Kräuter verabreichen könne. Ein weiterer traditioneller Heiler in Ibadan habe angegeben, dass die Personen gezwungen werden müssten, die Kräuter einzunehmen, die sie heilen würden. Manchmal müssten “starke Jungs” die Personen halten, um ihnen Ketten anlegen und ihnen die Kräuter geben zu können. Ein christlicher Pastor in Ibadan habe die Androhung von Ketten als Mittel erklärt, um die Personen zur Einnahme von Kräutern zu bewegen. Vor dem Haus eines oder einer traditionellen HeilerIn in Abuja hätten die RechercheurInnen mehrere Frauen gesehen, die ein 12-jähriges Mädchen festgehalten hätten und diesem mit einer Klinge Schnitte auf ihrem Rücken zugefügt hätten. Dann hätten die Frauen gemahlene Kräuter auf die Schnitte geschmiert. Der oder die HeilerIn habe dies mit der Angabe gerechtfertigt, dass das Mädchen ihre Mutter bestohlen habe und das böse Blut nun aus ihr entweichen müsse.
Quellen:
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen, 30.04.2020; https://www.ecoi.net/de/dokument/2029111.html
1.3.7. Rückkehr:
Generell kann kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen festgestellt werden, welcher geeignet wäre, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Der pauschale Hinweis eines Asylwerbers auf die allgemein herrschende Situation in Nigeria reicht nicht aus, um eine Bedrohung i.S.v Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK darzustellen. Außerdem kann allgemein festgestellt werden, dass eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2018).
Abschiebungen erfolgen auf dem Luftweg, in Linien- oder Chartermaschinen. Rückführungen aus EU-Staaten erfolgen meist durch Charterflüge, die auch durch FRONTEX durchgeführt werden (AA 10.12.2018). Die österreichische Botschaft in Abuja unterstützt regelmäßig die Vorbereitung und Durchführung von Joint Return Operations im Rahmen von FRONTEX als