Entscheidungsdatum
21.06.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W123 2205618-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2018, Zl. 1138956304-161725259, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 24.12.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 25.12.2016 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Beschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und täglich bei Anschlägen viele unschuldige Menschen sterben würden. Es gebe mächtige Männer, die alles machen würden, was sie wollen. Man lebe ständig in der Angst, getötet zu werden.
3. Am 19.06.2018 fand die Einvernahme der Beschwerdeführerin vor der belangten Behörde statt. Die Niederschrift lautet auszugsweise:
„[…]
F: Aus welchem Grund verließen Sie Ihren Herkunftsstaat? Schildern Sie Ihre Ausreisegründe bitte chronologisch und detailliert, sodass die Behörde Ihr Vorbringen nachvollziehen kann! Nehmen Sie sich im Rahmen einer freien Erzählung ruhig Zeit.
A: Wir verließen Afghanistan wegen Taliban. Mein Sohn XXXX besaß ein Auto, und die Taliban wollten dieses Auto für Transporte bzw. Lieferungen. Die Taliban nahmen öfter sein Auto weg für ca. 2-3 Nächte oder so. Deshalb konnte mein Sohn nicht regelmäßig arbeiten. Die Taliban brachten das Auto spät nachts immer zurück. Die Taliban nahmen sein Auto mit Gewalt weg. Wir waren machtlos gegen die Taliban. In einer solchen Situation konnten wir nicht mehr leben. Meinen Sohn schlugen die Taliban öfter. Er wurde brutal geschlagen, einmal war sein Bein gebrochen, einmal seine Hand. Deshalb entschieden wir uns, das Land zu verlassen. So also reisten wir aus. Mein Sohn transportierte mit dem Auto Waren und Menschen zwischen unserer Stadt und dem Dorf hin und her. Die Situation mit den Taliban war immer so schwierig, nicht nur für kurze Zeit. Deshalb konnten wir dort nicht mehr leben.
F: Konnten Sie alle Ausreisegründe nun vollständig vorbringen?
A: Ja. Das, woran ich mich erinnern kann, gab ich an.
[...]
F: Bei der EB meinten Sie: „Es gibt mächtige Männer, die alles machen, was sie wollen." Meinten Sie damals die Taliban?
A: Ja.
F: Wurden Sie in Afghanistan persönlich bedroht?
A: Nein. Immer wenn die Taliban kamen, versteckten wir uns aus Angst.
F: Wer sorgt/e in Ihrem Heimatort für Sicherheit (Regierungstruppen, Polizei, Militärs, Taliban)?
A: Arbaki (lokale Polizei).
F: Welche Taliban (Gruppe, Kommandant) haben in Ihrem Heimatgebiet das Sagen?
A: Ich weiß nicht.
F: Hatten Sie jemals persönlichen Kontakt mit Taliban?
A: Nein. Ich versteckte mich.
F: Kennen Sie jemanden aus Ihrem Umfeld, der sich den Taliban anschloss?
A: Nein.
F: Wandten Sie sich wegen Ihrer Probleme jemals an staatliche Behörden oder Dorfälteste?
A: Dort hilft niemand. Mächtige haben dort das Sagen, Arme haben keine Rechte und sind hilflos.
F: In Afghanistan gibt es kein Meldesystem. Warum ließen Sie sich nicht in einer anderen Provinz nieder?
A: Wir konnten nicht. Nachgefragt: Weil man dort an anderen Orten keinen Fuß fassen kann. Wir verkauften alles, was wir hatten, und reisten aus.
F: Welche Ängste haben Sie in Bezug auf eine mögliche Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat?
A: Wohin sollte ich gehen? Ich habe dort niemanden.
[…]“
4. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 22.07.2019 erteilt (Spruchpunkt III.).
5. Gegen Spruchpunkt I. des obgenannten Bescheids der belangten Behörde richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 21.08.2018, in der die Beschwerdeführerin zusammenfassend ausführte, sie werde von den Taliban sowie als westlich orientierte Frau, die lange Zeit im Iran gelebt habe, in Afghanistan verfolgt. In Österreich sei sie gut integriert.
6. Am 01.06.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.
7. Mit Schriftsatz vom 10.06.2021 erstattete die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme und brachte zusammenfassend vor, dass sie als alleinstehende und verwitwete Frau im Falle einer Rückkehr nach Afghanistaneinem Klima ständiger latenter Bedrohung, strukturelle Gewalt und unmittelbarer Einschränkungen ausgesetzt wäre. Hinzu komme, dass sie eine persönliche Wertehaltung habe, die im Gegensatz zu dem in Afghanistan vorherrschenden und das traditionelle-religiöse Rollenbild der Frau prägende Werteverhältnis stehe, sodass sie insofern einem erhöhten Gefährdungsrisiko unterliege.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen/Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführerin:
1.1.1. Die Beschwerdeführerin ist eine afghanische Staatsangehörige und sunnitische Muslima. Sie gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, spricht Dari und stammt aus der Provinz Baghlan. Dort lebten die verwitwete Beschwerdeführerin und deren vier Kindern in einem Lehmhaus und betrieben eine Landwirtschaft.
1.1.2. Die Beschwerdeführerin war nach ihrer Ausreise aus Afghanistan nicht für eine längere Zeit im Iran. Sie kam gemeinsam mit ihrer älteren Tochter und deren Familie nach Österreich und stellte am 24.12.2016 Anträge auf internationalen Schutz. Wegen der westlichen Orientierung der Tochter wurde dieser sowie deren Mann und fünf minderjährigen Kindern der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Die jüngere Tochter und der jüngere Sohn der Beschwerdeführerin leben im Iran. Wo der ältere Sohn der Beschwerdeführerin lebt, kann nicht festgestellt werden. Ihr Vater ist bereits verstorben. Ihre Mutter lebt mit ihrem Bruder im Iran. In Afghanistan hat sie keine Verwandten.
Der Mann oder die Söhne der Beschwerdeführerin waren nie politisch tätig oder arbeiteten für die Regierung. Die Beschwerdeführerin ist in Afghanistan weder vorbestraft noch war sie dort inhaftiert.
1.1.3. Die Beschwerdeführerin wuchs in einem traditionellen Umfeld in Afghanistan auf. Ihr Mann sowie ihre Söhne waren Landwirte. Die Beschwerdeführerin besuchte nie die Schule und verfügt über keine Berufsausbildung. Sie arbeitete nur im Haushalt und in der Landwirtschaft. Sie durfte nicht selbst einkaufen gehen. Zu Hause trug sie ein Kopftuch, wenn sie hinausging, musste sie eine Burka tragen.
Sie ist gläubige Muslima und übt ihren islamischen Glauben auch in Österreich aus. Wenn sie außer Haus geht, trägt sie aus Gewohnheit ein Kopftuch. Eine Burka möchte sie nie wieder tragen müssen.
In Österreich wohnt die Beschwerdeführerin gemeinsam mit der Familie ihrer Tochter in einer Wohnung. Sie hat kein eigenes Bankkonto. Manchmal nimmt eine ihr bekannte Österreicherin sie mit dem Auto zu einem anderen Supermarkt mit und gibt ihr Bargeld, damit die Beschwerdeführerin die Einkäufe bezahlen kann. In einen Supermarkt in der Nähe der Wohnung geht sie auch alleine einkaufen.
Die Beschwerdeführerin besuchte keinen Deutschkurs in Österreich und kennt nur einzelne Wörter auf Deutsch (etwa „Hallo“, „Danke“ und „Tschüss“). Vom AMS bekam sie aufgrund ihres Alters keinen Deutschkurs. Sie erhielt privat etwas Deutschunterricht.
An einem durchschnittlichen Tag in Österreich hilft die Beschwerdeführerin im Haushalt ihrer Tochter, indem sie auf die Kinder aufpasst oder beim Kochen hilft. Ansonsten geht sie spazieren.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin während ihres Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.
Die Beschwerdeführerin konnte nicht glaubhaft machen, dass sie selbst oder ihre Familie von den Taliban bedroht wurde. Ferner konnte sie nicht glaubhaft machen, nach ihrer Ausreise aus Afghanistan längere Zeit im Iran gewesen zu sein.
Nicht festgestellt werden kann weiters, dass bei einer allfälligen Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Afghanistan diese mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wäre bzw. ein besonderes Interesse an der Person der Beschwerdeführerin besteht bzw. bestehen könnte.
1.2. Zum Herkunftsstaat:
1.2.1. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021
20.1. Frauen
Letzte Änderung: 01.04.2021
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.7.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018).
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (HRW 30.6.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, AA 16.7.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.7.2020; vgl.: REU 2.12.2019, STDOK 25.6.2020). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020).
Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.6.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.7.2020).
Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. STDOK 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sowohl national als auch international zum Thema regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.6.2020; vgl. AT 6.11.2019). Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.6.2020; vgl. RY 1.8.2019, BBC 10.7.2019).
Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Gemäß Artikel 83 und 84, sind Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm "Women's Economic Empowerment" gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 28.2.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das Projekt "Enhancing Gender Equality and Mainstreaming in Afghanistan" (EGEMA) beispielsweise ist ein Gemeinschaftsprojekt der afghanischen Regierung und des UNDP (United Nations Development Program) Afghanistan und hat den Hauptzweck, das Ministerium für Frauenrechte (MoWA) zu stärken. Es läuft von Mai 2016 bis Dezember 2020 (UNDP o.D)
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.6.2020; vgl. BBC 27.2.2020, BP 31.8.2020, TN 31.5.2019, Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (BP 31.8.2020; vgl. WP 12.9.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.8.2020).
Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.6.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).
Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 - November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.6.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.3.2020; vgl. STDOK 25.6.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.3.2020). Die afghanische Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte, die für sexuelle Übergriffe verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.1.2021).
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.7.2020).
Anmerkung: Ausführliche Informationen zur Lage der Frauen in Herat können der Analyse der Staatendokumentation vom 13.6.2019 entnommen werden (Abschnitt 6, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf). Weitere Informationen zum Thema Frauen in Afghanistan können der Analyse der Staatendokumentation "Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan" vom 25.6.2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/document/2032387.html, entnommen werden.
[…]
20.1.1. Bildung für Mädchen
Letzte Änderung: 01.04.2021
Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt worden war, Schulbildung erhalten (HRW 30.6.2020; vgl. KUR 17.12.2019, STDOK 25.6.2020), Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ist seitdem ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 2.12.2019). Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren (STDOK 25.6.2020; vgl.: OI 3.12.2019, AT 6.11.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.3.2020; vgl. UNICEF 8.2020). Untersuchungen von Human Rights Watch (HRW) und anderen belegen eine steigende Nachfrage nach Bildung in Afghanistan, einschließlich einer wachsenden Akzeptanz eines Schulbesuchs von Mädchen in vielen Teilen des Landes. NGOs, die "gemeindebasierte Bildung" unterstützen - Schulen, die sich in Häusern in den Gemeinden der Schülerinnen und Schüler befinden - waren oft erfolgreicher, wenn es darum ging, Mädchen den Schulbesuch in Gegenden zu ermöglichen, in denen sie aufgrund von Unsicherheit, familiärem Widerstand und Gemeindeeinschränkungen nicht in der Lage gewesen wären, staatliche Schulen zu besuchen. Doch das Versäumnis der Regierung, diese Schulen in das staatliche Bildungssystem zu integrieren, hat in Verbindung mit der uneinheitlichen Finanzierung dieser Schulen dazu geführt, dass vielen Mädchen die Bildung vorenthalten wird (HRW 30.6.2020).
Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).
Schätzungen zufolge sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).
Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die nun vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (STDOK 13.6.2019).
Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Obwohl die Taliban offiziell erklären, dass sie nicht mehr gegen die Bildung von Mädchen sind, gestatten nur sehr wenige Taliban-Entscheidungsträger Mädchen tatsächlich den Schulbesuch nach der Pubertät. Andere gestatten Mädchenschulen überhaupt nicht. Diese Ungereimtheiten führen zu Misstrauen in der Bevölkerung. Beispielsweise haben Taliban in mehreren Distrikten von Kunduz den Betrieb von Mädchen-Grundschulen zugelassen und in einigen Fällen Mädchen und jungen Frauen erlaubt, in von der Regierung kontrollierte Gebiete zu reisen, um dort höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen von den Taliban kontrollierten Distrikten in der Provinz Helmand keine funktionierenden Grundschulen für Mädchen, geschweige denn weiterführende Schulen - einige dieser ländlichen Distrikte hatten keine funktionierenden Mädchenschulen, selbst als sie unter Regierungskontrolle standen. Ihre inkonsistente Herangehensweise an Mädchenschulen spiegelt die unterschiedlichen Ansichten der Taliban-Kommandeure in den Provinzen, ihre Stellung in der militärischen Kommandohierarchie der Taliban und ihre Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften wider. In einigen Distrikten hat die lokale Nachfrage nach Bildung die Taliban-Behörden überzeugt oder gezwungen, einen flexibleren Ansatz zu wählen (HRW 30.6.2020).
Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung, genannt Kankor, ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).
Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).
Es gibt aktuell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28%) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a). Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht.
Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studentinnen zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Mithilfe des Higher Education Development Programms haben 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, 65 Frauen waren dabei im Ausland ein Masterstudium abzuschließen und 41 weitere standen vor ihrem Studienbeginn (WB 6.11.2018).
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für 'Frauen- und Genderstudies' (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018, Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).
Anmerkung: Weitergehende Informationen zum Bildungswesen in Afghanistan können dem Kapitel 'Kinder', Unterkapitel 'Schulbildung in Afghanistan' entnommen werden.
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20.1.2. Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Letzte Änderung: 01.04.2021
Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.6.2020, vgl. WS 2.12.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.7.2020; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019) wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8% angegeben wurde (WB 21.6.2020). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die, als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.7.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 20.5.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.6.2020; vgl. WS 26.11.2019).
Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollten mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 hatten 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen waren in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019).
Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 11.3.2020); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 11.3.2020). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses, oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.7.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women's Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019).
Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).
Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.7.2020), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 11.3.2020). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.7.2020).
Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 11.3.2020).
Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).
Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Mitarbeiterinnen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).
Anmerkung: Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 'NGOs und Menschenrechtsaktivisten', 'Meinungs- und Pressefreiheit' und 'Sicherheitsbehörden' entnommen werden.
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20.1.3. Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung
Letzte Änderung: 01.04.2021
Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Häusliche Gewalt wird Berichten zufolge vor Gericht nicht als legitimer Grund für eine Scheidung angesehen (STDOK 21.7.2020). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z.B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den 'Familienfrieden' durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 16.7.2020). Im Fall einer Scheidung wird häufig die Frau als alleinige Schuldige angesehen. Auch ist es verpönt, Probleme außerhalb der Familie, vor Gericht zu lösen (STDOK 21.7.2020). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 11.3.2020). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen (USDOD 12.2019).
EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch
Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch Maßnahmen gegen die weit verbreitete häusliche Gewalt. Das EVAW sowie Ergänzungen im Strafgesetzbuch werden jedoch nur unzureichend umgesetzt (AA 16.7.2020). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung, Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, und bis zu 20 Jahre oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 11.3.2020).
Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).
Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch, obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter das EVAW-Gesetz fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, verweisen EVAW-Institutionen und NGOs Fälle von Ehrenmorden und anderen schweren Straftaten oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018).
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20.1.4. Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Letzte Änderung: 01.04.2021
Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 16.7.2020). Es gibt 27 - 28 Frauenhäuser (USDOS 11.3.2020) in Afghanistan unter dem MOWA (Ministry of Women Affairs) und der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), die vom Staat und von NGOs betrieben werden (RA KBL 12.10.2020a).
Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt (AA 16.7.2020). Selbst in Städten wie Mazar-e Sharif ist es nur schwer vorstellbar, dass Frauen völlig alleine leben (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 16.7.2020). Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 16.7.2020). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Auch das Ministerium für Frauenangelegenheiten arrangiert manchmal Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 11.3.2020).
Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 16.7.2020).
Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 22 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten (USDOS 11.3.2020).
In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal, wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Die Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert. Es kommt auch vor, dass Frauen stellvertretend für männliche Verwandte inhaftiert werden, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 11.3.2020).
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weit verbreitet und kaum dokumentiert (AA 16.7.2020; vgl. AI 30.1.2020). Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben (AIHRC 23.3.2020).
Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 16.7.2020). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (STDOK 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 11.3.2020). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (UNAMA/OCHR 5.2018).
Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018), wobei die Datenlage hierzu sehr schlecht ist (AA 16.7.2020). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.7.2020). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht hat, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 11.3.2020). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 11.3.2020). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens eine Person unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).
Mahr ist eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen - das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist - selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).
Die Praktiken des Badal (Vergeltung) und Ba‘ad/Swara (die Praxis der Streitschlichtung, bei der die Familie des Täters ein Mädchen an die Familie des Opfers verkauft) (STDOK 7.2016), sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Das Gesetz kriminalisiert Zwangs-, Minderjährigen- und Ba'ad-Ehen sowie die Einmischung in das Recht der Frau, ihren Ehepartner zu wählen. NGOs berichten von Fällen, in denen Ba'ad nach wie vor praktiziert wird, oft in abgelegenen Provinzen. Die Praxis des Brautaustauschs zwischen Familien wurde nicht kriminalisiert und bleibt weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).
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20.1.5. Familienplanung und Verhütung
Letzte Änderung: 01.04.2021
Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 16.7.2020; vgl. UNPF 17.7.2018). Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben (UNPF 17.7.2018). Dem Strafgesetzbuch zufolge ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (USDOS 11.3.2020).
Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen an und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Gebieten hingegen stoßen solche Maßnahmen meistens auf Unverständnis und werden nicht akzeptiert. Internationale NGOs und das Gesundheitsministerium bieten hauptsächlich in den Geburtenabteilungen der Krankenhäuser Aufklärungskampagnen durch Familienplanungsberater an (STDOK 13.6.2019).
Ein von den US-Amerikanern initiiertes Programm, welches im Zeitraum von 1.2015 bis 1.2020 (RA KBL 20.10.2020) lief, USAID’s Helping Mothers and Children Thrive (HEMAYAT), zielte darauf ab, den Zugang und die Verwendung von Verhütungsmitteln, Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheitsdienstleistungen zu erhöhen. Ein weiteres Ziel war das Zuweisungssystem auf Provinzebene zu verbessern. Allein durch die Ausbildung und die Bereitstellung von Ausrüstung konnten 25 Hebammenzentren in den Provinzen Balkh, Herat und Kandahar etabliert werden (SIGAR 30.7.2019).
Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 16.7.2020). Frühe und Kinderheiraten und eine hohe Fertilitätsrate mit geringen Abständen zwischen den Geburten tragen zu einer sehr hohen Müttersterblichkeit [Anm.: Tod einer Frau während der Schwangerschaft bis 42 Tage nach Schwangerschaftsende] bei. Diese ist mit 638 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten die höchste in der Region (UNICEF 8.2020; zum Vergleich Österreich: 4).
Es gibt keine Berichte zu Zwangsabtreibungen oder unfreiwilligen Sterilisierungen (USDOS 11.3.2020).
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20.1.6. Reisefreiheit von Frauen
Letzte Änderung: 01.04.2021
Diesbezüglich bewegen sich die Aussagen der Quellen innerhalb einer gewissen Bandbreite. Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen definitiv eingeschränkt (USDOS 11.3.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, STDOK 4.2018, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). Eine Quelle gibt an, dass Frauen sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen können. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen (STDOK 4.2018). Generell hängt das Ausmaß an Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit der Frauen unter anderem vom Wohnort, der Einstellung ihrer Familien, der Sicherheitslage und dem Bildungsgrad ab (STDOK 21.7.2020). In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (MBZ 7.3.2019).
Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 13.6.2019). Es gibt in Mazar-e Sharif eine Fahrschule für Frauen. In rund drei Jahren haben dort ca. 500 Frauen einen Führerschein gemacht, was von der DoWA (Departments of Women’s Affairs) unterstützt wird (STDOK 21.7.2020).
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1.2.2. Auszug aus der Analyse der Staatendokumentation vom 25.06.2020 „Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan“
“Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan
Zur Zeit der Taliban-Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 verhängten die Taliban eine rigide Form des islamischen Rechts. Afghanische Frauen und Mädchen waren von Bildung, Arbeit und Politik ausgeschlossen – ohne männliche Begleitung durften sie nicht außer Haus. Seitdem hat Afghanistan beträchtliche Fortschritte gemacht – Frauenrechte, aber auch die Verfassung aus dem Jahre 2004 zählen unter anderem zu den Errungenschaften, die seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 erzielt wurden. In dieser nach wie vor gültigen Verfassung haben alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz. So ist das Recht auf Bildung für Frauen in der Verfassung festgehalten. Gleichzeitig ist aber auch der Islam als Staatsreligion gesetzlich verankert, gegen dessen Grundsätze und Bestimmungen kein anderes Gesetz verstoßen darf. Dadurch ergeben sich konservative Interpretationen des islamischen Rechts, die nach wie vor richtungweisend innerhalb der afghanischen Gesellschaft sind. Diese Interpretationen verstoßen in vielen Bereichen gegen westliche Menschenrechtsstandards, wovon speziell afghanische Frauen und Mädchen betroffen sind. Aus dieser Situation heraus fordern afghanische Frauen politische Mitspracherechte und sprechen sich gegen Ungerechtigkeit aus.
Afghanische Frauen – speziell in den städtischen Regionen – haben sich in den letzten zwanzig Jahren verändert: Junge Afghaninnen ergreifen Möglichkeiten sich zu bilden, durch verbesserte Bildungschancen im Inland und Stipendien im Ausland, auch gehen sie vermehrt arbeiten. Sie sind durchsetzungsfähiger und stehen, bestärkt durch die Familie , finanziell oft auf eigenen Beinen. Dennoch ist die afghanische Gesellschaft nach wie vor männlich dominiert. Städtische Regionen sind von traditionellen Werten weniger geprägt, als die ländlichen Gebiete, wo Frauen mit vielen Problemen zu kämpfen haben, sich außerhalb des Hauses frei zu bewegen oder arbeiten zu gehen. In diesen Regionen entscheidet die Familie – insbesondere Väter und Brüder – über das Leben afghanischer Frauen und Mädchen. Städtische Afghaninnen können – die Unterstützung ihrer Familien vorausgesetzt – freier über ihr Leben entscheiden.
In den Straßen der Hauptstadt Kabul, wo Frauen sich ungehindert und ohne männliche Begleiter bewegen können, ist Fortschritt sichtbar. Die Stadt Kabul wird seit zwei Jahrzehnten von einer westlich geprägten Demokratie regiert und ist politisch fortschrittlicher geworden. Dennoch ist auch hier nach wie vor eine sozial-konservative afghanische Kultur vorherrschend, die Frauen oft nachrangige Rollen zuweist. Auch repräsentiert die afghanische Hauptstadt nicht das ganze Land. Die Kluft zwischen urbanen und ruralen Regionen Afghanistans ist evident.
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Arbeitswelt
Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein. Seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 treten afghanische Frauen, insbesondere gebildete, für verbesserte Frauenrechte in Afghanistan ein. Sie berichten nach wie vor mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben – sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamistischer Gruppierungen oder gewöhnlichen afghanischen Männern. Diese ablehnenden Einstellungen, kulturelle Einschränkungen, aber auch sexuelle Belästigung wirken hinderlich für Frauen, wenn es darum geht Eigenverantwortung zu übernehmen. Zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten herrscht eine Kluft; anders als in der Hauptstadt Kabul haben sich westliche Ansichten, vor allem in den von Taliban kontrollierten Gebieten, wie z.B. Kunduz und Kunar, nicht verbreitet. Die Stadt Kabul kann hier nicht als repräsentativ für das ganze Land gesehen werden.
Im Jahr 2017 machten afghanische Frauen 29% der Erwerbsbevölkerung aus – eine Zahl, die seitdem stetig gewachsen ist. Auch haben afghanische Frauen in einer konservativen Gesellschaft, die durch Traditionen die Rolle und Bildung von Frauen stark einschränkt, einen Raum für sich geschaffen: Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women's Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern.
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Der Hijab und dessen Rolle innerhalb der afghanischen Gesellschaft
Afghanistan kann in zwei Teile geteilt werden: die liberalen städtischen Eliten und die konservativen ländlichen Gebiete mit ihren Stammesführern, wo traditionelle Werte stärker verbreitet sind, als in der Stadt. Frauen auf dem Land haben deswegen mit vielen Problemen zu kämpfen, während Frauen in der Stadt – sofern ihre Familien sie dahingehend unterstützen – freier über ihr Leben entscheiden können. Väter und Brüder bestimmen speziell in den ländlichen Gebieten über das Leben der Frauen. Neben der Hauptstadt Kabul – in der man afghanische Frauen bunte Kopftücher, als auch himmelblauen Burkas tragend sieht – existieren weitere Ausnahmen, wie z.B. die Stadt Mazar-e Sharif, wo die Gesellschaft die persönliche Entscheidung einer Frau den Hi