Entscheidungsdatum
25.06.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W119 2226578-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX XXXX , StA: Afghanistan, vertreten durch Mag.a Hannah Schöffmann, Caritas Diözese Graz-Seckau, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 8.11.2019, Zl 1225402704-190359612/BMI-BFA_STM_AST_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin, Staatsangehörige Afghanistans, stellte am 8.4.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Anlässlich der am 8.4.2019 durchgeführten Erstbefragung nach dem AsylG gab die Beschwerdeführerin zunächst an, in Afghanistan, Kabul geboren und aufgewachsen zu sein. Zu ihrem Fluchtgrund führt die Beschwerdeführerin aus, dass sie aufgrund einer drohenden Zwangsheirat ihren Heimatstaat habe verlassen müssen. Da sich die Beschwerdeführerin der für sie vorgesehenen Zwangsheirat nicht fügen wollte, sei sie von ihrem Vater mehrmals misshandelt worden. Im Übrigen sei die Beschwerdeführerin bereits mit XXXX verheiratet und habe diesen nicht – wie von ihr gefordert – verlassen wollen. Dieser befinde sich seit ca. eineinhalb Jahren in einem Gefängnis in Österreich.
Am 11.4.2019 wurde die Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) einvernommen und gab eingangs an, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören und sunnitische Muslimin zu sein. Sie beherrsche die Sprachen Dari, Paschtu und etwas Urdu. Als Identitätsnachweis könne die Beschwerdeführerin eine Kopie des Reisepasses sowie der Tazkira vorlegen. Weiters gab sie an, in Kabul, im Stadtteil XXXX , im XXXX Bezirk gemeinsam mit ihren Eltern, zwei Schwestern und drei Brüdern bis zu ihrer Ausreise gelebt zu haben. Die Beschwerdeführerin habe bis zur 12. Klasse die Schule besucht und als Schneiderin gearbeitet. In Österreich habe sie von den Angehörigen ihren Ehegatten, XXXX , sowie eine Tante, XXXX . Kabul habe die Beschwerdeführerin mit dem Flugzeug verlassen.
Am 21.5.2019 wurde die Beschwerdeführerin erneut beim Bundesamt einvernommen und gab ergänzend an, ihren Ehegatten XXXX über Facebook kennengelernt zu haben, wobei im September 2014 die Verlobung stattgefunden habe. Im Jahr 2016 sei die traditionelle Hochzeit in XXXX (in Pakistan) vollzogen worden. Nach der Hochzeit habe die Beschwerdeführerin noch neun bis elf Tage mit ihrem Ehegatten verbracht, anschließend sei sie nach Kabul und ihr Ehegatte nach Österreich zurückgekehrt. Nach diesem Zeitraum habe bis dato kein Zusammenleben mehr mit ihrem Ehegatten stattgefunden. Die Ehe sei allerdings noch aufrecht. Zu ihrer Schulbildung befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, die Schule bis zur 12. Klasse besucht zu haben, wobei sie vorerst die XXXX -Schule und anschließend die XXXX Schule im Ortsteil XXXX besucht habe. Nachfolgend habe die Beschwerdeführerin einen Vorbereitungskurs für die staatliche Universität besucht, diesen allerdings aufgrund der Ausreise aus Afghanistan abgebrochen. Die Beschwerdeführerin führte ebenfalls aus, ein Geschäft in Kabul gemietet und dort die Tätigkeit als Schneiderin ausgeübt zu haben. Zusätzlich habe sie im Rahmen dieser Tätigkeit andere Frauen ausgebildet.
Befragt zu den Fluchtgründen, führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie bereits im Kindesalter von ihrem Vater jemanden für die Heirat versprochen worden sei. Als die Beschwerdeführerin zwölf Jahre alt gewesen sei, sei dieser Verlobte allerdings im Zuge einer Explosion verunglückt. Später habe die Beschwerdeführerin ihren Ehemann, XXXX , kennen gelernt und diesen auch geheiratet. Ihr Ehemann sei nach der Hochzeit wieder nach Österreich zurückgekehrt und sie bei ihrer Familie in Kabul geblieben. Dieser befinde sich aktuell in einem Gefängnis in Österreich. Bevor die Beschwerdeführerin ausgereist sei, habe die Familie des verstorbenen Verlobten die Einlösung des Eheversprechens - durch die Heirat der Beschwerdeführerin mit dem älteren Bruder des ehemaligen Verlobten - verlangt. Diese habe Druck auf die Beschwerdeführerin ausgeübt, ihren Ehemann zu verlassen und die Zwangsehe einzugehen. Nach Ansicht der Familie sei es ihre Verpflichtung gewesen die versprochene Heirat innerhalb der Familie zu vollziehen. Da die Beschwerdeführerin sich geweigert habe diesen Anforderungen Folge zu leisten, habe sie - seitens der Familienangehörigen des verstorbenen Verlobten - Morddrohungen erhalten. Ihr Vater habe sie auch misshandelt, da seiner Ansicht nach die Beschwerdeführerin durch die Verweigerung der Zwangsehe nur Probleme für die Familie bedeutet habe. Aus all diesen Gründen sei sie gezwungen gewesen Afghanistan zu verlassen. Sollte die Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Kabul zurückkehren, wäre ihr beider Leben in Gefahr. Ihre Familie sei verpflichtet, entweder die Beschwerdeführerin oder eine jüngere Tochter für die Heirat heranzuziehen. Die Familie des ehemaligen Verlobten sei außerdem sehr mächtig und könne die Beschwerdeführerin überall im Land finden. Zu ihrem Leben in Österreich befragt, brachte die Beschwerdeführerin zusammenfassend vor, aktuell bei Ihrer Tante XXXX zu leben. Sie sei kein Mitglied eines Vereines oder einer Organisation in Österreich.
Ergänzend legte die Beschwerdeführerin eine Kopie der Teilnahmebestätigung am Deutschkurs (Niveau A1) vom 16.03.2015, das Maturazeugnis vom 10.07.2016 sowie die Bestätigung des sechsmonatigen Lehrganges der Schneidertätigkeit vor.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 8.11.2019, Zl 1225402704-190359612/BMI-BFA_STM_AST_01, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV), wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI).
Mit Verfahrensanordnung vom 11.11.2019 wurde der Beschwerdeführerin die Organisation ARGE-Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater zur Seite gestellt.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Rechtsberaterin mit Schriftsatz vom 5.12.2019 Beschwerde, in der die mangelnde Berücksichtigung der bei der Beschwerdeführerin bestehenden westlichen Lebensweise sowie die drohende Zwangsheirat gerügt wurde.
Mit Schriftsatz vom 3.9.2020 wurde eine Stellungnahme eingebracht, in der die (noch nicht rechtskräftige) Scheidung von XXXX sowie die drohende Gefährdung der Beschwerdeführerin als geschiedene Frau in Afghanistan ausgeführt wurden. Für die Familie der Beschwerdeführerin sei die Scheidung eine Beschmutzung der Familienehre, sodass diese deshalb strikt abgelehnt wird. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan drohe der Beschwerdeführerin erneuert die sofortige Zwangsheirat oder sogar ein „Ehrenmord“ durch ihre Verwandten, um die durch die Scheidung verletzte Ehre der Familie wiederherzustellen. Zusätzlich drohe ihr seitens der Familie von XXXX ebenfalls Gefahr, da diese durch die Scheidung ihre Ehre auch als „beschmutzt“ ansehe und die Beschwerdeführerin dafür verantwortlich mache. Daraus folgend drohe der Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr akute Gefahr für Leib und Leben, sowohl seitens der Familie ihres (Noch-) Ehemannes als auch seitens ihrer eigenen Familie.
Zu ihrem Leben in Österreich führte die Beschwerdeführerin zusammenfassend aus, seit Februar 2020 die Abendschule zu besuchen und einen Deutschkurs (Niveau A2) absolviert zu haben. An den Wochenenden habe sie sich bis zum Ausbruch des Coronavirus ehrenamtlich in einem Pflegeheim engagiert. Dazu legte die Beschwerdeführerin eine Bestätigung über die Absolvierung des Deutschkurses (Niveau A2) vom 13.02.2020, eine Schulbesuchsbestätigung des Bundesgymnasium, Bundesrealgymnasium und Wirtschaftskundliches BRG für Berufstätige XXXX vom 3.3.2020, eine Therapiebestätigung des Transkulturellen Zentrum für psychische und physische Gesundheit und Integration vom 11.3.2020, eine Vereinbarung über freiwilliges Engagement bei der Caritas vom 24.10.2019 sowie das Scheidungsurteil des XXXX vom 22.6.2020 vor.
Am 17.5.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der ein Vertreter des Bundesamtes nicht teilnahm. Die Beschwerdeführerin legte zunächst eine Schulbesuchsbestätigung des Bundesgymnasiums, Bundesrealgymnasium und Wirtschaftskundliches BRG für Berufstätige XXXX , ein Semesterzeugnis sowie mehrere Empfehlungsschreiben vor.
Weiters führte sie aus, aufgrund der drohenden Zwangsheirat sowie der vorherrschenden Stellung der Frauen in der afghanischen Gesellschaft, ihren Heimatstaat verlassen haben zu müssen. Zusätzlich gab die Beschwerdeführerin an, dass bei der Rückkehr nach Afghanistan ihr Leben in Gefahr wäre. Zu einem, da sie jetzt eine geschiedene Frau sei und sie weder von ihrer Familie noch von der Gesellschaft akzeptiert werden würde. Zum anderen würde sie durch die Familie ihres Ex-Ehemann für die Scheidung Rache erfahren. Darüber hinaus habe sie – da sie jetzt geschieden sei – eine erneuerte Zwangsheirat zu befürchten. Aufgrund der Tatsache, dass ihrer eigenen Familie gegen die Scheidung sei und erneuert die sofortige Wiederheirat für die Beschwerdeführerin beabsichtige, könne sie auch hier keine Zuflucht erwarten.
Auf Vorhalt der Richterin, wie Beschwerdeführerin habe widersprüchliche Angaben bezüglich des Kennenlernens mit XXXX angegeben – vor dem Bundesamt habe diese nämlich ausgesagt XXXX über Facebook kennengelernt zu haben, während in der Stellungnahme von einer Zwangsehe durch den Vater die Rede sei – erklärte diese, dass es sich tatsächlich um eine Zwangsehe gehandelt habe. Da XXXX ein laufendes Verfahren in Österreich hatte und im Zuge dessen derart ausgesagt habe, sei von der Beschwerdeführerin verlangt worden die gleichen Angaben zu tätigen. Ihre Familie sei diesbezüglich ebenfalls unter Druck gesetzt worden, sodass sie gezwungen gewesen sei unrichtige Angabe zu tätigen. Tatsächlich habe es sich um eine Zwangsehe gehandelt, wobei sie XXXX anlässlich der Hochzeit erstmals gesehen habe.
Im Anschluss an die Einreise nach Österreich habe die Beschwerdeführerin für einige Monate bei ihrer Tante in XXXX gelebt. Von dem Ehemann ihrer Tante sei sie allerdings diversen Einschränkungen und Befehlen ausgesetzt worden. Dieser sei nämlich gleichzeitig der Onkel ihres (damals Noch-) Ehemannes, XXXX , sodass dieser durch den Onkel Druck und Kontrolle auf die Beschwerdeführerin ausübte. Der Besuch eines Deutschkurses sowie jeglichen Kontakt zu anderen Personen sei ihr verboten worden. Ihre Aufgaben seien ausschließlich Haushaltstätigkeiten sowie der Besuch von XXXX im Gefängnis gewesen. Darüber hinaus sei die Beschwerdeführerin unter Druck gesetzt worden, ein Kind zu Welt zu bringen, damit XXXX einen Grund für den Verbleib in Österreich vorweisen könne. Da es sich um eine Zwangsheirat gehandelt habe und das Verhalten ihres (damals Noch-) Ehemannes ihr gegenüber alles andere als gut gewesen sei, habe sich die Beschwerdeführerin geweigert, sodass sie durch den Onkel bedroht worden sei in diesem Falle nach Afghanistan zurückkehren zu müssen. Die Beschwerdeführerin sei auch der ständigen Kontrolle des Onkels ausgesetzt gewesen. Aus all diesen Gründen habe sich die Beschwerdeführerin an die Caritas gewendet, sei aus der Wohnung ihrer Tante ausgezogen und anschließend in einem Frauenheim untergebracht worden. Darüber hinaus sei sie von der Caritas bei dem Scheidungsverfahren unterstützt worden.
In Österreich bzw. seit der Scheidung müsse die Beschwerdeführerin nicht mehr auf die Befehle anderer hören und könne ihre Entscheidungen aus eigenem Willen und vor allem eigenständig treffen. Es gebe niemanden der ihr verbiete Deutsch zu lernen und sich aus- bzw. weiterzubilden. Sie können sich endlich sportlich betätigen und in der Form kleiden, wie sie es schon immer wollte. Selbst die Partnerwahl könne sie in Österreich schließlich eigenständig treffen. Die Beschwerdeführerin besuche derzeit die Abendschule und beabsichtige anschließend Wirtschaft zu studieren. Außerdem tanze sie zweimal in der Woche Zumba und wolle auch in einem Basketball- oder Volleyballverein spielen. Endlich könne sie ein Leben nach eigenen Vorstellungen und ohne auferlegten Einschränkungen führen.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurden der bevollmächtigten Vertreterin der Beschwerdeführerin die Länderfeststellungen zur Situation in Afghanistan übergeben, wozu dieser eine zweiwöchige Frist zur Abgabe einer Stellungnahme gewährt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an.
Sie stellte am 8.4.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Die Beschwerdeführerin wurde in Kabul geboren und lebte bis zu ihrer Ausreise gemeinsam mit ihren Eltern, zwei Schwestern und drei Brüdern im Stadtteil XXXX , im XXXX Bezirk. Sie besuchte bis zur 12. Klasse die Schule und absolvierte zusätzlich eine Ausbildung als Schneiderin. Die Tätigkeit der Schneiderin übte sie in einem gemieteten Geschäftslokal bis zu ihrer Ausreise aus Kabul aus.
Die Beschwerdeführerin wurde bereits im Kindesalter von ihrem Vater jemanden für die Heirat versprochen. Als die Beschwerdeführerin zwölft Jahre alt war, starb dieser Verlobter im Zuge einer Explosion. Im Jahr 2016 heiratete die Beschwerdeführerin XXXX , den sie anlässlich der Hochzeit erstmals sah. Dabei handelte sich um eine Zwangsehe, die seitens ihres Vaters arrangiert wurde. Nach der Hochzeit kehrte XXXX wieder nach Österreich, die Beschwerdeführerin hingegen mit Ihrer Familie nach Kabul zurück. Ein Zusammenleben zwischen der Beschwerdeführerin und XXXX hat es nach der Hochzeit, abgesehen von den neun bis elf Tagen im Anschluss an die Hochzeit, nicht mehr gegeben. Unmittelbar vor der Ausreise der Beschwerdeführerin aus Afghanistan, forderte die Familie des verstorbenen Verlobten die Einlösung des Eheversprechens, indem die Beschwerdeführerin den Bruder des verstorbenen Verlobten heiraten soll. Abgesehen von der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet war, verweigerte sie eine neuerliche Zwangsehe einzugehen. Hilfestellung seitens der eigenen Familie konnte die Beschwerdeführerin nicht erwarten, da ihr Vater die Zwangsehe befürwortete. Aus Angst vor der Zwangsehe flüchtete die Beschwerdeführerin nach Österreich.
In Österreich lebte die Beschwerdeführerin einige Monate bei ihrer Tante in XXXX . Zu diesem Zeitpunkt saß ihr (damals Noch-)Ehemann XXXX im Gefängnis. Aufgrund der herrschenden Unstimmigkeiten sowie diversen Einschränkungen durch den Ehemann der Tante, der gleichzeitig auch der Onkel von XXXX ist, zog die Beschwerdeführerin nach fünf Monaten wieder aus und kam anschließend in ein Frauenheim unter. Unterstützt durch die Caritas reichte die Beschwerdeführerin die Scheidung ein. Nach dem Auszug aus der Wohnung der Tante, hat sich das Leben der Beschwerdeführerin bedeutend gewendet.
Die Beschwerdeführerin brachte in der mündlichen Verhandlung deutlich zum Ausdruck, dass es ihr ein Anliegen ist, in Österreich jenes Leben führen zu können, das ihr in Afghanistan verwehrt geblieben wäre/ist. Hier lernt sie die deutsche Sprache und ist nunmehr im Besitz eines entsprechenden Zertifikates (Niveau A2). Sie betreibt Sport und hat neue Freundschaften geschlossen. Aufgrund der herrschenden Corona-Situation ist allerdings der Kontakt zu anderen sowie die die Möglichkeit, sich mit der österreichischen Kultur vertraut zu machen, zurzeit nur eingeschränkt gegeben. Dass der Beschwerdeführerin Bildung ein wichtiges Anliegen ist, zeigt der Umstand, dass sie die Abendschule besucht und anschließend den Abschluss eines Wirtschaftsstudiums anstrebt, um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen. Die Bemühungen der Beschwerdeführerin äußern sich insbesondere in den vorgelegten Zeugnissen sowie allerlei Empfehlungsschreiben. Diese spiegeln das Bemühen und Engagement der Beschwerdeführerin sowohl die deutsche Sprache zu erlernen als auch ihre Ausbildung voran zu treiben. Aus diesen geht insbesondere auch hervor, dass die Beschwerdeführerin - trotz der kurzen Zeit in Österreich - in der Lage ist, problemlos einem Unterricht in deutscher Sprache zu folgen.
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine moderne und aufgeklärte Frau, die mit ihrer Flucht nach Österreich ihre Vorstellungen über die einer Frau zustehenden Rechte verwirklichen und nach diesen Maßstäben ihr weiteres Leben gestalten will. Sie ist zudem eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt. Die Einstellung und Lebensweise der Beschwerdeführerin steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit, Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen, Partnerwahl und der allgemeinen Rolle der Frau in der Gesellschaft.
Die Beschwerdeführerin würde im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund ihrer nach außen hin erkennbaren persönlichen Wertehaltung, die sich vorrangig in ihrem Wunsch nach Bildung und Unabhängigkeit geäußert hatte, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein. Außerdem drohe der Beschwerdeführerin als geschiedene Frau bei der Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr einer sofortigen erneuerten Zwangsheirat oder sogar der Ehrenmord durch ihre Verwandten, um die durch die Scheidung „verletzte Ehre“ der Familie wiederherzustellen.
Situation der Frauen in Afghanistan:
(Quelle: Länderinformationsblatt, letzte Information eingefügt am 01.04.2021)
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 6.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.7.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018).
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (HRW 30.6.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, AA 16.7.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.7.2020; vgl.: REU 2.12.2019, STDOK 25.6.2020). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020).
Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.6.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.7.2020).
Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. BFA 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sowohl national als auch international zum Thema regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.6.2020; vgl. AT 6.11.2019). Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.6.2020; vgl. RY 1.8.2019, BBC 10.7.2019).
Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 3.4.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen (Najimi 2018). Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (TN 31.5.2019; vgl. Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (BFA 13.6.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (BP 31.8.2020; vgl. WP 12.9.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.8.2020).
Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018), was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt (PAJ 10.12.2018).
Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.6.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).
Bildung für Mädchen
Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt worden war, Schulbildung erhalten (HRW 30.6.2020; vgl. KUR 17.12.2019, STDOK 25.6.2020), Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ist seitdem ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 2.12.2019). Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren (STDOK 25.6.2020; vgl.: OI 3.12.2019, AT 6.11.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.3.2020; vgl. UNICEF 8.2020). Untersuchungen von Human Rights Watch (HRW) und anderen belegen eine steigende Nachfrage nach Bildung in Afghanistan, einschließlich einer wachsenden Akzeptanz eines Schulbesuchs von Mädchen in vielen Teilen des Landes. NGOs, die „gemeindebasierte Bildung“ unterstützen - Schulen, die sich in Häusern in den Gemeinden der Schülerinnen und Schüler befinden - waren oft erfolgreicher, wenn es darum ging, Mädchen den Schulbesuch in Gegenden zu ermöglichen, in denen sie aufgrund von Unsicherheit, familiärem Widerstand und Gemeindeeinschränkungen nicht in der Lage gewesen wären, staatliche Schulen zu besuchen. Doch das Versäumnis der Regierung, diese Schulen in das staatliche Bildungssystem zu integrieren, hat in Verbindung mit der uneinheitlichen Finanzierung dieser Schulen dazu geführt, dass vielen Mädchen die Bildung vorenthalten wird (HRW 30.6.2020).
Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).
Schätzungen zufolge sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).
Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die nun vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (STDOK 13.6.2019).
Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Obwohl die Taliban offiziell erklären, dass sie nicht mehr gegen die Bildung von Mädchen sind, gestatten nur sehr wenige Taliban-Entscheidungsträger Mädchen tatsächlich den Schulbesuch nach der Pubertät. Andere gestatten Mädchenschulen überhaupt nicht. Diese Ungereimtheiten führen zu Misstrauen in der Bevölkerung. Beispielsweise haben Taliban in mehreren Distrikten von Kunduz den Betrieb von Mädchen-Grundschulen zugelassen und in einigen Fällen Mädchen und jungen Frauen erlaubt, in von der Regierung kontrollierte Gebiete zu reisen, um dort höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen von den Taliban kontrollierten Distrikten in der Provinz Helmand keine funktionierenden Grundschulen für Mädchen, geschweige denn weiterführende Schulen - einige dieser ländlichen Distrikte hatten keine funktionierenden Mädchenschulen, selbst als sie unter Regierungskontrolle standen. Ihre inkonsistente Herangehensweise an Mädchenschulen spiegelt die unterschiedlichen Ansichten der Taliban-Kommandeure in den Provinzen, ihre Stellung in der militärischen Kommandohierarchie der Taliban und ihre Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften wider. In einigen Distrikten hat die lokale Nachfrage nach Bildung die Taliban-Behörden überzeugt oder gezwungen, einen flexibleren Ansatz zu wählen (HRW 30.6.2020).
Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung, genannt Kankor, ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).
Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und - aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).
Es gibt aktuell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28%) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a). Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht.
Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studentinnen zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt.
Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Mithilfe des Higher Education Development Programms haben 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, 65 Frauen waren dabei im Ausland ein Masterstudium abzuschließen und 41 weitere standen vor ihrem Studienbeginn (WB 6.11.2018).
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für ’Frauen- und Genderstudies’ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018, Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).
Berufstätigkeit von Frauen
Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.6.2020, vgl. WS 2.12.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.7.2020; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019) wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8% angegeben wurde (WB 21.6.2020). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die, als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.7.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 20.5.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.6.2020; vgl. WS 26.11.2019).
Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018).
Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollten mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 hatten 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen waren in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019).
Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 11.3.2020); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 11.3.2020). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses, oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.7.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women’s Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).
Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.7.2020), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 11.3.2020). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.7.2020).
Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 11.3.2020). Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).
Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Mitarbeiterinnen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).
Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung
Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Häusliche Gewalt wird Berichten zufolge vor Gericht nicht als legitimer Grund für eine Scheidung angesehen (STDOK 21.7.2020). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z.B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den ’Familienfrieden’ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 16.7.2020). Im Fall einer Scheidung wird häufig die Frau als alleinige Schuldige angesehen. Auch ist es verpönt, Probleme außerhalb der Familie, vor Gericht zu lösen (STDOK 21.7.2020). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 11.3.2020). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen (USDOD 12.2019).
EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch
Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch Maßnahmen gegen die weit verbreitete häusliche Gewalt. Das EVAW sowie Ergänzungen im Strafgesetzbuch werden jedoch nur unzureichend umgesetzt (AA 16.7.2020). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung, Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, und bis zu 20 Jahre oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 11.3.2020).
Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).
Frauenhäuser
Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 16.7.2020). Es gibt 27 - 28 Frauenhäuser (USDOS 11.3.2020) in Afghanistan unter dem MOWA (Ministry of Women Affairs) und der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), die vom Staat und von NGOs betrieben werden (RA KBL 12.10.2020a).
Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt (AA 16.7.2020). Selbst in Städten wie Mazar-e Sharif ist es nur schwer vorstellbar, dass Frauen völlig alleine leben (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 16.7.2020).
Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 16.7.2020). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Auch das Ministerium für Frauenangelegenheiten arrangiert manchmal Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 11.3.2020).
Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 16.7.2020).
Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 22 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten (USDOS 11.3.2020).
In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal, wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Die Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert. Es kommt auch vor, dass Frauen stellvertretend für männliche Verwandte inhaftiert werden, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 11.3.2020).
Gewalt an afghanischen Frauen
Afghanische Frauen haben mit Patriarchat, Armut und häuslicher Gewalt zu kämpfen (IDP 23.11.2019, RFERL 25.11.2019). Häusliche Gewalt ist weit verbreitet (RFERL 25.11.2019, TG 21.4.2020); dazu zählen Zwangsehen, Ehen zur Streitbeilegung, sexueller Missbrauch und weitere Formen von Gewalt wie Ehrenmorde. Afghanische Frauen werden oft ihrer Erbschaft, der Möglichkeit zur Bildung und der ihnen nach afghanischem Recht garantierten Rechte beraubt (RFERL 25.11.2019). Gewalt an Frauen wird in der afghanischen Gesellschaft nicht oft als Verbrechen angesehen (UNAMA 27.11.2019), auch erachten viele Behörden häusliche Gewalt nicht als ernsthaftes Vergehen. Obwohl häusliche Gewalt bereits im Jahr 2009 (TG 21.4.2020), mit dem EVAW-Gesetz (Law on Elimination of Violence against Women) (IRoA 2009) unter Strafe gestellt wurde (TG 21.4.2020), werden die meisten Gewalttaten gegen Frauen, darunter auch erzwungene Prostitution und Vergewaltigung, selten strafrechtlich verfolgt. Manchmal begehen afghanische Frauen nach Gewalttaten Selbstmord (NYT 27.2.2020). Gegen den Willen und die Interessen von Frauen, werden Mediationen von Gemeinschaftsältesten oder der Polizei geführt (NYT 27.2.2020, AI 30.1.2020). Den Vereinten Nationen zufolge, wurden im Jahr 2018 nur in 18% der registrierten Mordfälle mit weiblichen Opfern rechtliche Schritte gegen den Täter eingeleitet (NYT 27.2.2020). Häusliche Gewalttäter genießen oft weiterhin Straffreiheit (AI 30.1.2020). Die von afghanischen Männern an ihren Ehefrauen verübten Gewaltverbrechen werden gesellschaftlich oftmals hingenommen, solange sie auch weiterhin ihre Familie versorgen (NYT 27.2.2020).
Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 – November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge, wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (RFERL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHRC 23.3.2020).
Afghanische Frauen und Mädchen aus ländlichen Regionen kennen ihre Rechte oftmals nicht (XIN 24.11.2019). Fehlende Bildung und Krieg haben dazu geführt, dass in manchen Familien selbst elementare Rechte von Frauen nicht akzeptiert werden. Mehrere Quellen sind sich einig, dass eine stärkere Mithilfe religiöser Führer einerseits und eine Einbindung von Frauenrechten bzw. Gleichbehandlungsthematiken in den Schulunterricht andererseits, notwendig sein wird, um negativen Einstellungen gegenüber Frauen innerhalb der afghanischen Gesellschaft entgegenzuwirken (WS (26.11.2019), UNFPA (o.D); BFA 4.2018).
Beispiele häuslicher Gewalt in den Provinzen
Die Provinz Herat ist von häuslicher Gewalt stark betroffen (PAJ 25.11.2019, TG 21.4.2020) die Selbstmordrate von Frauen und die Zahl häuslicher Gewaltfälle ist in der Stadt Herat vergleichsweise hoch (TG 21.4.2020, PAJ 25.11.2019). In Zeitraum eines Jahres (nach afghanischer Zeitrechnung; ca. 2018-2019) registrierten afghanische Behörden in der Provinz Herat 801 Vorfälle häuslicher Gewalt – eine Zunahme von 21% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres mit 645 Vorfällen. Aufgrund kultureller Hindernisse und fehlender Gerichte, waren speziell Frauen in den ländlichen Regionen der Provinz häuslicher Gewalt ausgesetzt (PAJ 25.11.2019). Im Vergleich dazu, wurde in einem siebenmonatigen Berichtszeitraum der AIHRC in den östlichen Provinzen, zu denen Nangarhar, Kunar, Laghman und Nuristan zählen, insgesamt 220 Fälle häuslicher Gewalt registriert (PAJ 5.11.2019). Innerhalb von sechs Monaten des Jahres 2019 wurden von lokalen Behörden der Provinz Daikundi 106 Fälle häuslicher Gewalt registriert – was eine Zunahme von 30% darstellt (PAJ 14.9.2019). In der westlichen Provinz Ghor ging die Gewalt an Frauen 2019 um 33% zurück (2019: 113 Fälle; 2018: 170 Fälle). Ein verbessertes öffentliches Bewusstsein innerhalb der Provinz, wird als Ursache für diese Entwicklung gesehen. Insgesamt wurden 2019 in Ghor 76 Opfer häuslicher Gewalt in Schutzeinrichtungen gebracht (PAJ 26.11.2019).
Der Hijab und dessen Rolle innerhalb der afghanischen Gesellschaft
Afghanistan kann in zwei Teile geteilt werden: die liberalen städtischen Eliten und die konservativen ländlichen Gebiete mit ihren Stammesführern (GSR 5.3.2019), wo traditionelle Werte stärker verbreitet sind, als in der Stadt. Frauen auf dem Land haben deswegen mit vielen Problemen zu kämpfen, während Frauen in der Stadt (WS 26.11.2019) – sofern ihre Familien sie dahingehend unterstützen – freier über ihr Leben entscheiden können (WS 26.11.2019). Väter und Brüder bestimmen speziell in den ländlichen Gebieten über das Leben der Frauen (WS 26.11.2019). Neben der Hauptstadt Kabul – in der man afghanische Frauen bunte Kopftücher, als auch himmelblauen Burkas tragend sieht (RUD 4.12.2019) – existieren weitere Ausnahmen, wie z.B. die Stadt Mazar-e Sharif, wo die Gesellschaft die persönliche Entscheidung einer Frau den Hijab zu tragen oder nicht zu tragen, respektiert. Die Familie spielt hier eine wesentliche Rolle, hängt doch von ihr ab, ob Frauen diese Freiheiten ausleben können. In vielen Provinzen Afghanistans, insbesondere in Gebieten unter Taliban Kontrolle, würden afghanische Frauen sich Problemen ausgesetzt sehen, wenn sie weder einen Schal, der ihren Kopf bedeckt, noch einen Hijab tragen. Manchmal entscheiden sich Frauen auch, ohne von ihrer Familie gezwungen zu werden, eine Burka zu tragen – weil das für sie bequemer ist oder weil sie das für sich als notwendig erachten (Interview mit einer Mitarbeiterin einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO (H), 23.10.2019, Camp Marmal).
In Herat begann der religiöse Gelehrte Mujeeb Rahman Ansari eine Kampagne, die zu gemischten Reaktionen innerhalb der afghanischen Gesellschaft führte. Auf dutzenden Plakatwände und Schildern in der Stadt Herat, verlangte er von afghanischen Frauen den islamischen Hijab aufzusetzen. Während seiner Kampagne, die nicht in Zusammenarbeit mit der Regierung geführt wurde, forderte er seine Anhänger in mehreren öffentlichen Reden dazu auf, gegen jene vorzugehen, die diese Regeln missachten und in solchen Fällen "nicht auf die Regierung zu warten". Dem Provinzdirektorat für Hajj und religiöse Angelegenheiten zufolge, verstoßen die Lehren von Ansari gegen den Islam (KP 15.1.2020). In sozialen Medien wird die Kampagne als "extremistisch" und "frauenfeindlich" bezeichnet (TN 16.1.2020) und auch die Herater Bevölkerung ist eher distanziert (TN 14.1.2020).
In einem weiteren Fall wurden zwei Afghaninnen aufgrund der Missachtung des “islamischen Schleiers“ im Zuge eines Aufenthalts bei den 25. asiatischen Bowlingmeisterschaften in Kuwait, aus der afghanischen Bowling-Nationalmannschaft geworfen. Eine der beiden Spielerinnen, nannte dies eine "Verleumdung", weil der „Vorfall“ nicht während eines offiziellen Termins, sondern in der Freizeit geschehen war. Eine afghanische Frauenrechtsaktivistin hält die Entscheidung des Verbandes für diskriminierend und sieht darin eine klare "Gewalt gegen Frauen" (KP 28.12.2019).
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weit verbreitet und kaum dokumentiert (AA 16.7.2020; vgl. AI 30.1.2020). Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben (AIHRC 23.3.2020).
Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 16.7.2020). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (STDOK 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 11.3.2020). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige geb