TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/30 W261 2168588-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.06.2021
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Entscheidungsdatum

30.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W261 2168588-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 14.07.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach Einreise als unbegleiteter Minderjähriger am 12.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 16.06.2015 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der minderjährige Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, sein Vater habe einen Lkw gehabt, mit dem er die Container der Amerikaner befördert habe. Das habe den Taliban nicht gefallen und deswegen seien sein Vater und er von den Taliban entführt worden. Sie hätten aus ihrer Gefangenschaft fliehen können, aus diesem Grund habe ihn seine Mutter hierher geschickt, weil sie Angst um sein Leben gehabt habe. Er habe Angst vor den Taliban und möchte nicht zurückkehren.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 06.06.2017 statt. Dabei gab der minderjährige Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, er sei Paschtune und sunnitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Wardak, habe aber „nur in Kabul“ und vor seiner Ausreise kurze Zeit in Kandahar gelebt. Er wisse nicht, ob sein Heimatort zu Kabul oder zu Wardak gehöre. Er habe in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule besucht. Seine Eltern, drei Brüder und vier Schwestern würden nun im Dorf XXXX in der Provinz Wardak leben. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie. Er habe auch Tanten und Onkel, wisse aber nicht, wo sie leben würden. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der minderjährige Beschwerdeführer zusammengefasst an, sie hätten einen Laden gehabt, in dem sie Benzin verkauft hätten. Sie hätten auch einen Lkw gehabt und mit den Amerikanern zusammengearbeitet. Einmal hätten sie Ware zusammen mit den Amerikanern nach Kandahar gebracht. Bei der Rückfahrt seien sie von den Taliban angegriffen und er und sein Vater seien festgenommen worden. Die Taliban hätten sie in ein Haus gebracht und ihre Hände gefesselt. Er sei nicht mit seinem Vater, sondern mit einem anderen Herrn in einem Zimmer gewesen. Der andere Herr habe seine Hände befreien können und dann auch ihm die Hände befreit. Sie seien zusammen weggelaufen und nach Kabul geflohen. Er sei nicht einmal eine Nacht bei den Taliban gewesen. Dann habe seine Mutter Angst bekommen und gesagt, es könne sein, dass ihn die Taliban nochmal entführen, er müsse das Land verlassen. Als er in Österreich gewesen sei, habe ihn sein Vater angerufen. Er habe ihm erzählt, dass er durch Zahlung von Lösegeld freigekommen sei. Sein Vater könne sich nicht frei bewegen, er sei immer nur zuhause. Nur sein Bruder könne in ihrem Laden arbeiten, davon lebe seine Familie. Wenn er zurück nach Afghanistan gehe, dann könnten ihn die Taliban trainieren, sodass er mit ihnen zusammenarbeite.

3. Mit Eingabe vom 21.06.2017 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, aus den aktuellen Länderfeststellungen gehe hervor, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan sehr schlecht sei, dies gelte auch für die Hauptstadt Kabul. Aufgrund seines Glaubens und der Tatsache, dass er im wehrfähigen Alter und noch jugendlich sei, falle der Beschwerdeführer in zumindest drei Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016. Seine Eltern würden über keinen Besitz verfügen und ihre Vermögensverhältnisse seien nicht unbedingt gut. Im Fall einer Rückkehr wäre seine Unterstützung durch seine Eltern somit nicht gewährleistet. Der Beschwerdeführer verfüge lediglich über Schulbildung und habe keine Berufsausbildung. Die Aufnahmekapazitäten und Infrastruktur und Kabul seien massiv überlastet, somit werde es immer schwerer Arbeit und eine Unterkunft zu finden. Weiters habe sich der Beschwerdeführer an die österreichische Gesellschaft angepasst und deren Freiheiten und Werte angenommen. Auch der Umstand, dass er sich im Westen aufgehalten habe, könnte ihn zur Zielscheibe von Übergriffen machen. Angesichts seiner persönlichen Umstände und der aktuellen Sicherheitslage laufe er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr, in eine existenzbedrohende ausweglose Notlage zu geraten. Die Asylrelevanz des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers ergebe sich aus seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden, seines jungen Alters und der Gefahr, von den Taliban oder der Regierung schwer bestraft oder sogar ermordet zu werden. Es müsse auch berücksichtigt werden, dass er zum Zeitpunkt der Antragstellung 12 Jahre alt gewesen sei. Dem Beschwerdeführer sei daher internationaler Schutz zuzuerkennen. Mit der Stellungnahme wurden Länderberichte vorgelegt.

4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 14.07.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine bis 14.07.2018 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer und sein Vater von den Taliban entführt worden seien oder dass er im Fall seiner Rückkehr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt wäre. Auch aus den sonstigen Umständen habe eine Bedrohung oder Verfolgung aus asylrelevanten Gründen nicht festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Heimat. Von seiner Kernfamilie würden sich sein Vater, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern nach wie vor in seiner Herkunftsprovinz Maidan Wardak befinden. Er habe eine sechsjährige Schulausbildung erfahren. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer Gefahr laufen, in Kampfhandlungen verwickelt und verletzt oder getötet zu werden. Die Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz sei dergestalt, dass für ihn nicht ausreichend Lebenssicherheit bestehe. Ebenso sei ihm aufgrund seiner Minderjährigkeit und des Fehlens von familiären Anknüpfungspunkten in sicheren Provinzen Afghanistans eine Rückkehr zum aktuellen Zeitpunkt nicht zumutbar, weshalb ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.

5. Der Beschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids mit Eingabe vom 18.08.2017 durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, die beweiswürdigenden Schlussfolgerungen der belangten Behörde würden jeglicher nachvollziehbaren Grundlage entbehren, da der Beschwerdeführer eine für sein Alter genaue und vor allem glaubhafte Fluchtgeschichte vorgebracht habe. Woher die Behörde die Schlüsse ziehe, dass er Afghanistan aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe, um danach seine Familie nachzuholen, lasse diese gänzlich offen. Die Asylrelevanz iSd GFK begründe sich im gegenständlichen Vorbringen aufgrund der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur sozialen Gruppe der Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden, seines jungen Alters und der Gefahr, von den Taliban oder der Regierung schwer bestraft oder sogar ermordet zu werden. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass er zum Zeitpunkt der Antragstellung 12 Jahre alt gewesen sei. Auch der Verwaltungsgerichtshof betone in ständiger Rechtsprechung die niedrigere Schwelle zur Asylrelevanz bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Fallbezogen sei daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer angesichts des ihn betreffenden Verfolgungsrisikos keinen ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden könne. Ihm sei daher internationaler Schutz zuzuerkennen. Dem Beschwerdeführer sei aufgrund seines Alters wenig über die Lage in Afghanistan bekannt, sodass er vieles auch nicht selbst vorbringen habe können. Dies dürfe ihm jedoch nicht zum Nachteil gereichen. Aufgrund der Tätigkeiten seines Vaters für die US-Truppen, seines Aufenthalts im Ausland und der Tatsache, dass er im wehrfähigen Alter und noch jugendlich sei, falle er in zumindest vier Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016. Der Beschwerdeführer lebe seit 2015 in Österreich und sei dort auch sozialisiert worden. Angesichts seines Akzents und der westlichen Lebensweise würde er in Afghanistan sehr schnelle als „Rückkehrer“ auffallen und sei damit einer erhöhten Gefahr ausgesetzt. Weiters habe er sich an die österreichische Gesellschaft angepasst und deren Freiheiten angenommen. Auch der Umstand, dass er sich im Westen aufgehalten habe, könnte ihn zur Zielscheibe von Übergriffen machen. Aufgrund der kumulativen Risikoprofile des Beschwerdeführers liege jedenfalls eine asylrelevante Verfolgungsgefahr vor. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht.

6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 22.08.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 24.08.2017 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte.

7. Mit Eingabe vom 30.11.2017 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen § 127 StGB geführtes Verfahren am 11.09.2017 nach § 190 Z 1 StPO aus dem Grunde des § 4 Abs. 2 Z 2 JGG eingestellt worden sei.

8. Mit Eingabe vom 07.02.2018 übermittelte die belangte Behörde eine den Beschwerdeführer betreffende Betreuungsvereinbarung.

9. Mit Eingabe vom 15.02.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen § 164 StGB geführtes Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.

10. Mit Eingabe vom 15.02.2018 übermittelte die belangte Behörde einen Abschlussbericht der Polizeiinspektion XXXX vom 04.09.2017, wonach der Beschwerdeführer eines Diebstahls am 23.06.2017 verdächtig sei.

11. Mit Eingabe vom 06.03.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX vom 14.02.2018, wonach der Beschwerdeführer einer Körperverletzung und einer gefährlichen Drohung an diesem Tag verdächtig sei.

12. Mit Eingabe vom 20.08.2018 übermittelte die belangte Behörde einen von der Staatsanwaltschaft XXXX gegen den Beschwerdeführer erhobenen Strafantrag wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 erster Fall StGB sowie eine Verständigung über eine in dieser Sache am 03.09.2018 anberaumte Hauptverhandlung.

13. Mit Eingabe vom 05.11.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Vollzugsinformation der Justizanstalt Wels, wonach sich der Beschwerdeführer seit 30.10.2018 bzw. 01.11.2018 wegen des Verdachts nach § 28 SMG in Anhaltung bzw. Untersuchungshaft befinde.

14. Mit Eingabe vom 19.11.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung des Landesgerichts XXXX , wonach der Beschwerdeführer am 02.11.2018 wegen § 28a Abs. 1 SMG in Untersuchungshaft genommen worden sei, und eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach gegen ihn wegen § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG Anklage erhoben worden sei.

15. Mit Eingaben vom 04.01.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Strafkarte und eine gekürzte Urteilsausfertigung des Landesgerichts XXXX , wonach der Beschwerdeführer am 10.12.2018 wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG zur einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wurde, wovon ihm acht Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Zugleich wurde ihm die Weisung erteilt, in den XXXX in XXXX Unterkunft zu nehmen. Dieses Urteil erwuchs am 11.12.2018 in Rechtskraft.

16. Mit nicht verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.01.2019 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 14.07.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und sein Antrag vom 12.06.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.), es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.) und gegen ihn ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

17. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid mit Eingabe seiner bevollmächtigten Vertretung vom 31.01.2019 fristgerecht Beschwerde.

18. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 05.02.2019 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 07.02.2019 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte und zur Zl. 2168588-2 geführt wird.

19. Mit Eingabe vom 27.02.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen §§ 15, 127, 137 StGB geführtes Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.

20. Mit Eingabe vom 01.04.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Strafverfügung des Polizeikommissariats XXXX vom 01.03.2019, wonach der Beschwerdeführer am 21.02.2019 die öffentliche Ordnung gestört und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 81 Abs. 1 SPG begangen habe. Über ihn werde deshalb eine Geldstrafe von 150,00 Euro verhängt.

21. Mit Eingabe vom 23.04.2019 übermittelte die belangte Behörde ein Straferkenntnis des Polizeikommissariats XXXX vom 17.04.2019, wonach der Beschwerdeführer am 21.02.2019 den öffentlichen Anstand verletzt und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 1 Abs. 1 OÖ Polizeistrafgesetz begangen habe. Über ihn werde deshalb eine Geldstrafe von 20,00 Euro verhängt.

22. Mit Eingabe vom 16.05.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX vom 13.05.2019, wonach der Beschwerdeführer am 08.05.2019 wegen des Verdachts nach § 27 Abs. 1 SMG angezeigt worden sei.

23. Mit Eingabe vom 16.05.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX vom 28.05.2019, wonach der Beschwerdeführer an diesem Tag wegen des Verdachts nach §§ 11 und 11a Waffengesetz angezeigt worden sei.

24. Mit Eingabe vom 26.06.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Strafverfügung des Polizeikommissariats XXXX vom 06.06.2019, wonach der Beschwerdeführer am 28.05.2019 eine Waffe, nämlich ein Springmesser, besessen habe, obwohl ihm das als Asylwerber und Mensch unter 18 Jahren verboten sei, und dadurch Verwaltungsübertretungen nach §§ 51 Abs. 2 iVm 11a bzw. 11 Abs. 1 Waffengesetz begangen habe. Über ihn werde deshalb eine Geldstrafe von jeweils 80,00 Euro, insgesamt somit 160,00 Euro, verhängt.

25. Mit Eingabe vom 02.07.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor, darunter einen Lehrvertrag für eine am 01.08.2019 begonnene Lehre als Spengler in der XXXX GmbH & Co KG, eine Stellungnahme seiner Bewährungshelferin vom 22.06.2020 und ein (positives) Jahreszeugnis der Berufsschule XXXX für das Schuljahr 2019/2020.

26. Mit Eingabe vom 18.11.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung ein (positives) Jahreszeugnis der Berufsschule XXXX für das Schuljahr 2020/2021 vor.

27. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 01.04.2021 einlangte.

28. Mit Eingabe vom 15.04.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor, darunter Kopien seines österreichischen Führerscheins und eines Staplerführerausweises sowie einen von ihm abgeschlossenen privaten Mietvertrag ab 01.04.2021, vor.

29. Mit Eingabe vom 10.05.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, er befinde sich seit mehr als fünf Jahren in Österreich und sei mit 12 Jahren eingereist. Er sei in Österreich sozial aktiv, habe einen großen Freundeskreis und spreche sehr gut Deutsch. Seit 14.07.2017 sei er subsidiär schutzberechtigt. Am 10.12.2018 sei der Beschwerdeführer wegen Suchtgifthandels zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, davon acht Monate bedingt, verurteilt und unmittelbar nach der Hauptverhandlung aus der Haft entlassen worden. Der herangezogene Aberkennungsgrund nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG erfordere eine Gefährdungsprognose, bei der das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen sei. Die Art und Schwere der begangenen Straftaten in Zusammenhang mit seinem jungen Alter würden nicht ausreichen, um den Beschwerdeführer als Gefahr für die Sicherheit des Landes zu sehen. Er sei bei Begehung der strafbaren Handlung gerade 15 Jahre alt gewesen. Er habe seine Familie mit 12 Jahren verlassen und sei allein unter schwierigen Bedingungen nach Europa gereist. Auch in Österreich habe er dauernd umsiedeln müssen und habe es nicht geschafft, zu den Betreuern Vertrauen aufzubauen oder bei ihnen den für Kinder notwendigen festen Halt zu finden. Der Beschwerdeführer sei seit zweieinhalb Jahren nicht mehr strafrechtlich oder sonst negativ aufgefallen. Er befinde sich in einem aufrechten Lehrverhältnis und sei selbsterhaltungsfähig. Die Bewährungshilfe sei erfolgreich beendet worden und er halte den Kontakt zu den Betreuern des Vereins XXXX aufrecht. Er habe in Österreich den Führerschein und Staplerschein gemacht. Der Beschwerdeführer sei außerordentlich gut integriert. Es sei auch zu beachten, dass er im Alter von nur 12 Jahren nach Österreich gekommen sei und wesentliche Jahre seiner Sozialisierung hier erfahren habe, was ebenso zu einer starken Bindung an Österreich führe. Vom Beschwerdeführer gehe keinerlei Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus und es sollte ihm zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten verlängert werden. Mit der Stellungnahme wurde ein Entwicklungsbericht der XXXX GmbH vom 05.05.2021 vorgelegt.

30. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.05.2021 eine gemeinsame mündliche Verhandlung in den Beschwerdeverfahren 2168588-1 und 2168588-2 durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen, den Gründen der Aberkennung subsidiären Schutzes und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

Die Parteien erstatteten keine weiteren Stellungnahmen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist 18 Jahre alt. Für Identifikationszwecke wird sein Geburtsdatum mit XXXX festgelegt. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari und seine Vatersprache ist Paschtu, er spricht auch Deutsch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Maidan Wardak geboren. Sein Vater heißt XXXX und seine Mutter heißt XXXX . Er hat fünf Schwestern, XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , sowie vier Brüder, XXXX , XXXX , XXXX und XXXX . Das Alter seiner Familienmitglieder ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt, er ist das älteste Kind.

Seine Familie lebt in Kabul. Sein Bruder XXXX befindet sich derzeit in der Türkei. Er hat gelegentlich Kontakt mit seiner Familie.

Der Beschwerdeführer ist in Kabul aufgewachsen und hat dort bis zur Ausreise nach Europa gelebt. Er hat dort für sechs Jahre die Grundschule besucht und im Geschäft seiner Familie gearbeitet. Sie haben dort auch Benzin verkauft.

Er hat Tanten und Onkel, ihm ist aber nicht bekannt, wo diese leben, und er hat keinen Kontakt zu ihnen. Er hat einen Cousin in Österreich.

Der Beschwerdeführer stellte am 12.06.2015 nach Einreise als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer und sein Vater wurden in Afghanistan nicht wegen Zusammenarbeit mit den Amerikanern von den Taliban gefangen genommen und festgehalten. Der Beschwerdeführer wurde von den Taliban auch nicht bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder andere Personen. Dem Beschwerdeführer droht auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban.

1.2.2. Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in Österreich bzw. im westlichen Ausland in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Juni 2015 durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 12.06.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG bzw. seit 14.07.2017 aufgrund einer befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer war im Schuljahr 2015/16 außerordentlicher Schüler an der Neuen Mittelschule XXXX und hat im Schuljahr 2016/17 dort die Beta-Klasse besucht. Im Schuljahr 2017/18 hat er als außerordentlicher Schüler die Neue Mittelschule XXXX besucht. Er verfügt mittlerweile über sehr gute Deutschkenntnisse.

Seit 01.08.2019 absolviert der Beschwerdeführer eine vierjährige Lehre als Spengler. Dabei war er von 01.08.2019 bis 01.05.2021 bei der Firma XXXX GmbH & Co KG in XXXX und ist seit 03.05.2021 bei der Firma XXXX GmbH in XXXX beschäftigt. Er besucht die Berufsschule XXXX und schloss dort in den Schuljahren 2019/20 und 2020/21 die erste und zweite Fachklasse für Spengler jeweils positiv ab.

Er ist selbsterhaltungsfähig und nicht auf staatliche Leistungen angewiesen. Seit 01.04.2021 bezieht er keine Leistungen aus der Grundversorgung mehr und wohnt privat in einer Mietwohnung.

In seiner Freizeit übt der Beschwerdeführer Breakdance aus, geht Eislaufen und mit seinen Freunden spazieren. Er hat in Österreich den Führerschein Klasse B und den Staplerschein gemacht.

Er wird von seinen Vertrauenspersonen als freundlich, höflich, interessiert, motiviert, ehrgeizig, engagiert, nett, sportlich, gesundheitsbewusst, hilfsbereit, ehrgeizig, gesellig und gewissenhaft beschrieben.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX als Jugendgericht vom 03.09.2018, Zl. XXXX , wurde er wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB unter Vorbehalt der Strafe schuldig gesprochen, bei Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren und Anordnung der Bewährungshilfe.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX als Jugendgericht vom 10.12.2018, Zl. XXXX , wurde er wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wovon ihm acht Monate bei Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

Der Beschwerdeführer befand sich von 30.10.2018 bis 10.12.2018 in Untersuchungshaft.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Fassung vom 01.04.2021 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo-Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne” vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 25.06.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 25.06.2021 (WHO)

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.4.2. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen. Davon sind ca. 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 19).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 19.1.).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB, Kapitel 19.1.).

1.4.3. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1 % der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (LIB, Kapitel 18).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB, Kapitel 18).

1.4.4. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 01.01.2018 - 31.12.2020 gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 13).

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind. (LIB, Kapitel 13).

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten (LIB, Kapitel 13).

Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht. Im Dezember 2018 würdigte UNAMA die Fortschritte Afghanistans auf dem Gebiet der Menschenrechte, insbesondere unter den Herausforderungen des laufenden bewaffneten Konfliktes und der fragilen Sicherheitslage. Die UN arbeitet weiterhin eng mit Afghanistan zusammen, um ein Justizsystem zu schaffen, das die Gesetzesreformen, die Verfassungsrechte der Frauen und die Unterbindung von Gewalt gegen Frauen voll umsetzen kann (LIB, Kapitel 13).

1.4.5. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein (LIB, Kapitel 20).

Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangarhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 20).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebensowenig „gelbe Seiten“ oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 21.1).

Da es in der Vergangenheit zu Fällen kam, bei denen Wohnungen zur Vorbereitung von terroristischen oder kriminellen Taten verwendet wurden, müssen nun insbesondere in Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif unter Umständen beispielsweise im Stadtzentrum gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass sich Mieter wie auch Vermieter beim Abschluss einer Mietvereinbarung mit einem Identitätsnachweis ausweisen, was jedoch nicht immer eingehalten wird. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potenziellen Mieter ab (LIB, Kapitel 21.1).

1.4.6. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.6.1. Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können. Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (LIB, Kapitel 6.1).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB, Kapitel 6.1).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4).

Rekrutierung durch die Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta /Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich. Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Kapitel 6.5).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Kapitel 6.5).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LIB, Kapitel 6.5).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Kapitel 6.5).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LIB, Kapitel 6.5).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 6.5).

1.4.7. Relevante Provinzen und Städte

1.4.7.1. Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt. Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (LIB, Kapitel 5.1).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt, wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020, für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm. Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich, wobei die Taliban eine Verantwortung. Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt, oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (LIB, Kapitel 5.1).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command-Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 21. ANA Corps. Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LIB, Kapitel 5.1).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet. Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung. Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen. Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (LIB, Kapitel 5.1).

Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen. Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören, zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben. UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45 % im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL-KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (LIB, Kapitel 5.1)

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, lEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (LIB, Kapitel 5.1).

Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen. Im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs“ verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat“ (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (LIB, Kapitel 5.1).

Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind. Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen und kriminelle Banden sowie Luftschläge durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (LIB, Kapitel 5.1).

1.4.8. Situation für Rückkehrer/innen

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union, und die Zahl derer, die freiwillig, unterstützt und zwangsweise

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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