TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/1 W231 2159282-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.07.2021
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Entscheidungsdatum

01.07.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W231 2159282-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in Folge: „BF“) stellte in Österreich am 29.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.07.2015 gab der BF an, Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem zu sein. Er stamme aus der Provinz Ghazni. Er sei von einem Mann aufgefordert worden, Bücher zu transportieren, am gleichen Tag sei er von der Polizei verhaftet und inhaftiert worden. Nach einem Monat im Gefängnis von Jaghori (Ghazni) sei er davongelaufen und habe sein Heimatland verlassen.

I.3. Am 06.09.2016 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich („BFA“), im Beisein einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Er wiederholte die Angaben zu seiner Identität. Er habe eine Tazkira und einen Pass gehabt, aber beide Dokumente verloren. Seine Eltern lebten in Ghazni, er habe noch einen Bruder und vier Schwestern, die alle verheiratet seien, eine Schwester sei in Österreich. Außerhalb von Ghazni habe er keine Angehörigen. Er sei traditionell in zweiter Ehe verheiratet und habe drei Töchter mit seiner Frau und eine Tochter aus erster Ehe, alle lebten aktuell im Iran. Zu seinen Fluchtgründen sagte er zusammengefasst aus, er habe am Bazar in Jaghori (Ghazni) ein Geschäft betrieben. Eine Person habe ihm einen Karton Bücher gebracht, es sollte sich um den Koran handeln. Dann sei die Polizei gekommen und habe den BF verhaftet und für ca. 1 Monat inhaftiert, man habe ihm vorgeworfen, dass es sich bei den Büchern um christliche Bücher handle. Er sei gegen Geld freigekommen. Außerdem sei er vom Ex-Verlobten seiner (zweiten) Frau bedroht worden, weil er ihm die Frau weggenommen habe, und so wollte dieser die Tochter aus erster Ehe zu sich nehmen bzw. entführen.

I.4. Das BFA wies mit dem angefochtenen Bescheid den gegenständlichen Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), und erkannte dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs.1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.). Eine befristete Aufenthaltsberechtigung wurde erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend heißt es zusammengefasst, dass der BF eine aktuelle asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft habe machen können. Aufgrund der Sicherheitslage und den persönlichen Umständen des BF sei allerdings subsidiärer Schutz zu gewähren.

I.5. Gegen Spruchpunkt I dieses Bescheides richtet sich die vorliegende, fristgerecht eingebrachte und zulässige Beschwerde. Der BF focht den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und Nichtbeachtung von Verfahrensvorschriften an.

I.6. Am 31.07.2020 langten der Taufschein des BF (Nachweis der Taufe des BF am 27.06.2020, Erzdiözese Wien) und eine Niederschrift des BF vor dem BFA, RD NÖ, vom 31.07.2020 (sohin rd. einen Monat nach der Taufe) ein.

I.7. Am 07.06.2021 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner Rechtsberatung statt. Der Taufspender und der Taufpate wurden als Zeugen einvernommen, ebenso die in Österreich aufhältige Schwester des BF.

Von der erkennenden Richterin wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan, Version 3 vom 01.04.2021,“ sowie die aktuellen UNHCR-Richtlinien und EASO-Guidelines in das Verfahren eingeführt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Identität und sozialem Hintergrund des BF:

Der BF ist volljährig, führt den im Spruch angeführten Namen und das dort genannte Geburtsdatum, ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die Feststellungen zur Identität des BF gelten ausschließlich für die Identifizierung seiner Person im Asylverfahren. Der BF ist in zweiter Ehe traditionell verheiratet, seine erste Ehefrau ist verstorben. Er hat mit seiner zweiten Ehefrau drei gemeinsame Töchter und eine Tochter aus erster Ehe; seine Ehefrau und Kinder befinden sich im Iran. Seine Muttersprache ist Dari. In seiner Herkunftsprovinz Gahzni hat der BF noch Geschwister sowie Onkel und Tanten. Eine Schwester des BF lebt in Österreich.

Der BF ist in Afghanistan, Provinz Ghazni, geboren, und hat dort bis zu seiner Ausreise nach Europa gelebt. Er hat in Jaghori neun Jahre die Grundschule besucht und in der Landwirtschaft, als Verkäufer und gelegentlich auf Baustellen gearbeitet.

II.1.2. Zum Leben des BF in Österreich:

Der BF stellte am 29.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

In Österreich leben eine Schwester des BF sowie deren Ehemann seit 2007; sie haben den Status von Asylberechtigten. Die Schwester des BF ist schiitische Muslima, betet und fastet und besucht die Moschee. Der BF hat ein gutes Verhältnis zu seiner Schwester.

Der BF arbeitet seit rd. 1,5 Jahren als Elektro-Helfer und verdient damit ca. 1.750,0 EUR/monatlich.

Der BF ist unbescholten.

Der BF ist grundsätzlich gesund und arbeitsfähig. Er gehört keiner Risikogruppe in Bezug auf COVID-19 an. Er nimmt das Medikament Sertralin 100mg gegen Stress.

II.1.3. Zum Fluchtvorbringen des BF:

Der BF hat sich im Herkunftsland nicht politisch oder religiös betätigt und hatte keine Probleme mit den Behörden seines Heimatlandes.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsland wegen des Besitzes von christlichen Büchern bzw. dem Vorwurf deren Verteilung verhaftet und verfolgt wurde. Die vom BF vorgebrachten Gründe für seine Ausreise werden mangels Glaubwürdigkeit des Vorbringens nicht festgestellt. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem BF aus den vorgebrachten Gründen weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

Ein Religionswechsel des BF zum Christentum aus innerer Überzeugung kann nicht festgestellt werden. Das Christentum ist nicht wesentlicher Bestandteil der Identität des BF geworden. Dem BF droht aus diesem Grund keine Verfolgung in Afghanistan.

Dem BF droht auch aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit (Hazara) oder aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland keine Verfolgung in Afghanistan.

Der BF konnte insgesamt nicht glaubhaft machen, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

II.1.4. Zur aktuellen Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 3, 01.04.2021, mit letzten Änderungen vom 31.03.2021):

Religionsfreiheit:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 6.10.2020; vgl. AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.7.2020; vgl. CIA 6.10.2020, USDOS 10.6.2020). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.6.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.6.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.6.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.6.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.6.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.6.2020).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.6.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.6.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.6.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.6.2020).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 10.6.2020).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 10.6.2020).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 10.6.2020). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 10.6.2020).

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (FH 4.3.2020; vgl AA 16.7.2020, USDOS 10.6.2020).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 16.7.2020). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 10.6.2020) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323).

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020); jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.6.2020) Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen (LIFOS 21.12.2017; vgl. RA KBL 10.6.2020) - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird (AA 16.7.2020). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 4.3.2020). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 10.6.2020).

Ethnische Gruppen:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.3.2020).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.3.2020).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 10.6.2020). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 10.6.2020).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 10.6.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische (vorwiegend Hazara) Gemeinschaften fort. Beispielsweise griff der ISKP einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt (USDOS 11.3.2020; vgl. STDOK 10.2020). Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren aber Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Der ISKP nannte ein religiöses Motiv für den Angriff (USDOS 11.3.2020). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 10.6.2020). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 11.3.2020).

Rückkehr:

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. TNH 26.1.2021). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 19.3.2021) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 18.3.2021; vgl. F 24 19.3.2021). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 18.3.2021).

Seit 12.8.2020 ist der Grenzübergang Spin Boldak an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021).

"Erfolglosen" Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des "Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; cf. Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer drückten ihr Bedauern und ihre Scham über die Rückkehr aus, die sie als eine vertane Chance betrachteten, bei der Geld und Zeit verschwendet wurden (Seefar 7.2018; vgl. VIDC 1.2021, MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020, IOM AUT 23.1.2020, VIDC 1.2021). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.7.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (VIDC 1.2021; vgl. AA 16.7.2020, IOM KBL 30.4.2020, STDOK 10.2020). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 11.3.2020). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (STDOK 13.6.2019).

Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben der afghanischen Regierung für Rückkehr sind essenzielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (STDOK 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z. B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (STDOK 4.2018; vgl. Asylos 8.2017).

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Zu den Feststellungen zur Person des BF:

Die Identität des BF ergibt sich aus seinen im verwaltungsbehördlichen, wie auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren getätigten gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben dazu; ebenso war auf Basis der Angaben des BF von seiner Staatsangehörigkeit Afghanistans und seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sowie von Dari als seiner Muttersprache auszugehen. Mangels Vorlage von Identitätsdokumenten steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest, weshalb die Feststellungen zur Identität des BF ausschließlich für die Identifizierung seiner Person im Asylverfahren gelten können.

Die Feststellungen zu den individuellen Verhältnissen des BF in seinem Herkunftsstaat, insbesondere auch zu seiner Herkunft, Schulbildung und Berufserfahrung und zu seinen familiären Verhältnissen, folgen aus seinen diesbezüglich glaubwürdigen Angaben im gesamten Asylverfahren, einschließlich der mündlichen Verhandlung.

Dass der BF grundsätzlich gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich aus den Angaben des BF im Verfahren, sowie daraus, dass der BF in Österreich einer regelmäßigen Arbeit nachgeht. Er gab an, gegen Stress Sertalin 100mg zu nehmen.

II.2.2. Zum Leben des BF in Österreich:

Die Feststellung zu seinem Antragsstellungszeitpunkt beruht auf seinen Angaben in der Erstbefragung.

Die Feststellungen zum Privatleben des BF in Österreich ergeben sich aus seinen Angaben in der behördlichen Einvernahme, der Beschwerdeverhandlung sowie den im Verfahren übermittelten Integrationsunterlagen und auch aus den Aussagen der in der mündlichen Verhandlung befragten Zeugen, u.a. der in Österreich lebenden Schwester des BF. In der mündlichen Verhandlung hat der BF eine Lohn/Gehaltsabrechnung vorgelegt.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit des BF folgt aus dem aktuellen Auszug aus dem Strafregister.

II.2.3. Zu den Fluchtgründen des BF:

Die Feststellung, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte, ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am BF, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Mit der Glaubhaftmachung ist auch die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).

Der BF hat sich im Herkunftsland nicht politisch oder religiös betätigt; dies ergibt sich aus seinen Aussagen in der Einvernahme vor dem BFA.

II.2.3.1. Festzuhalten ist, dass der BF keine Belege für sein Vorbringen beibringen konnte. Besondere Bedeutung kommt daher dem Vorbringen des BF zu, das auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen ist. Dieses muss genügend substantiiert, plausibel und in sich schlüssig sein. Es obliegt dem BF, die in seiner Sphäre gelegenen Umstände seiner Flucht einigermaßen nachvollziehbar und genau zu schildern. Schließlich muss der BF auch persönlich glaubwürdig sein.

Das Bundesverwaltungsgericht erachtet zunächst das grundlegende Fluchtvorbringen des BF, er sei im Zusammenhang mit dem Besitz von christlichen Büchern rd. einen Monat lang in Ghazni inhaftiert gewesen, als konstruiert und nicht glaubhaft, dies aus den folgenden Gründen:

Bereits vor der Behörde wurde der BF zu einer detaillierten Schilderung der Vorkommnisse, einschließlich der Haftbedingungen und Hafträume, aufgefordert. Die Angaben des BF blieben allerdings äußerst vage und oberflächlich. So sprach bereits die Behörde den Angaben die Glaubwürdigkeit ab, der BF habe eine Rahmengeschichte erzählt, ohne Details und emotionalem Ausdruck, befragt zu Einzelheiten und Details habe der BF keine Angaben machen können. Auch das Gericht schließt sich nach ausführlicher Befragung des BF in der mündlichen Verhandlung dieser Ansicht an.

Vor dem Gericht wurde der BF erneut zur ausführlichen Schilderung der Vorkommnisse, einschließlich der Haftbedingungen- und räume, der gegen den BF erhobenen Vorwürfe, der Bewachungssituation, etc. befragt. Allerdings blieb das Vorbringen des BF dazu auch in der mündlichen Verhandlung auffallend vage und detailarm, der BF berichtete emotionslos und musste mehrmals zur ausführlicheren Schilderung aufgefordert werden, er blieb aber auch dann eine lebensnahe Schilderung der Vorkommnisse schuldig. Auffallend war auch, dass der BF vielfach nicht von sich aus über die Vorkommnisse berichtete, sondern meist nur auf konkrete Fragen der Richterin, und auch diese beantwortete der BF nur knapp.

So konnte der BF weder über den Mann, vom dem er angeblich die Bücher in einem Karton zur Aufbewahrung erhielt, Näheres berichten, das sei ein Kunde gewesen, über seinen Beruf, seine Familienverhältnisse oder seinen Wohnort wisse er nichts (VH, 10). Genauso verhielt es sich zu dem Kunden, der angeblich diese Kiste mit Büchern hätte abholen sollen (VH, 11). Dass der BF zu den beiden Männern so wenig sagen konnte überrascht jedoch, zumal in der Umgebung des Bazars nur rd. 500-100 Familien leben, sodass davon auszugehen wäre, der BF, auch als Besitzer eines Geschäfts am Bazar, kenne seine Kunden und deren beruflichen und familiären Hintergrund zumindest im Ansatz (VH, 10).

Auch die Männer, die den BF verhafteten, konnte der BF nicht näher beschreiben. Angeblich habe es sich bei den Männern, die ihn festnahmen, um (offizielle) Polizisten gehandelt. Der BF wurde aufgefordert, die Polizeiuniformen zu beschrieben, er vermischte in der Folge Polizei- und Militäruniformen und konnte letztlich keine Beschreibung abgeben, außer dass die Männer Hose und Oberteil trugen (VH, 10).

Ob es in Bezug auf die Verhaftung des BF eine Verfahrenszahl, eine Einvernahme oder einen konkreten Vorwurf gegeben habe, konnte der BF nicht angeben (VH, 9). Ebenso oberflächlich waren die Angaben des BF dazu, was man eigentlich während der einmonatigen Haft von ihm wollte, zumal er den Namen des Kunden, von dem er die Bücher zur Aufbewahrung übernommen hatte, bereits verraten haben soll. In diesem Zusammenhang überraschte der BF erstmals in der mündlichen Verhandlung mit einer neuen Wendung der Fluchtgeschichte, als er behauptete, der Ex-Verlobte seiner (zweiten) Ehefrau stecke vermutlich hinter der Verhaftung, weil sie sich von ihm getrennt habe (VH, 11). Aber auch diese Vermutung konnte der BF letztlich nicht substantiieren.

Ebenso detailarm war die Schilderung des BF dazu, was ihm in einem Monat Haft widerfahren sei, wie die Haftbedingungen waren, und wie die Hafträumlichkeiten ausgesehen hätten. Der BF war nicht in der Lage, dazu eine anschauliche, lebensnahe Beschreibung zu bieten, sondern wiederholte stereotyp einige Angaben bzw. Eckpunkte aus der Einvernahme (VH, 8ff).

Der BF war auch nicht in der Lage, den Vorfall der Verhaftung zeitlich einzuordnen, zumal er nur angeben konnte, das sei vor ca. 2 Jahren im Frühling gewesen, den Monat könne er nicht angeben (AS 127; VH, 8).

Zudem sind die Behauptungen des BF zu seiner Freilassung nicht lebensnahe und darüber hinaus teilweise widersprüchlich: Der BF behauptete grob, er sei gegen Geld freigekommen. Im Detail sind dazu jedoch Widersprüche aufgetreten. Während der BF in der Einvernahme in diesem Zusammenhang zunächst behauptete, er (also der BF selbst) habe dem Polizisten Geld für die Freilassung gegeben (AS 129), auf Frage, woher er das Geld gehabt habe, korrigierte er sodann, dass sein Schwager das Geld gegeben hätte. Es sei niemand zu ihm ins Gefängnis gekommen, sein Schwager habe der Polizei das Geld ausgehändigt (AS 129). In der mündlichen Verhandlung sprach der BF jedoch davon, dass der Schwager ihn im Gefängnis besuchen habe dürfen und ihn auch einmal besucht habe und es daraufhin zur Geldübergabe an den Polizisten gekommen sei (VH, 13). Dass der BF nach einmonatiger Haft und Folter bzw. ständigen Schlägen und Misshandlungen wegen dem Vorwurf des Besitzes bzw. der Verteilung von christlichen Büchern dann letztlich einfach durch die von einem Polizisten geöffnete Tür gehen und das Gefängnis – das ohne weitere Bewachung gewesen sei – unbehelligt verlassen konnte, konnte der BF schließlich nicht überzeugend dartun und ist dies nicht lebensnahe. In dieses unplausible Bild passt auch, dass der Schwager auf den BF vor dem Gefängnis gewartete und ihm weitergeholfen haben soll, zumal nicht klar wurde, woher der Schwager den genauen Zeitpunkt der Entlassung bzw. Flucht des BF kennen hätte sollen.

Außerdem ist die persönliche Glaubwürdigkeit des BF in Zweifel zu ziehen, zumal er vor dem Gericht in der mündlichen Verhandlung auch vorbrachte, er habe vor der Behörde (in Bezug auf seinen Glaubenswechsel) nicht die (volle) Wahrheit sagen wollen, bzw. einräumen musste, jedenfalls einmal auch bewusst die Unwahrheit gesagt zu haben (VH, 32; dazu noch näher im Detail später); es ist daher davon auszugehen, dass der BF nicht scheut, vor den österreichischen Gerichten und Behörden Unwahres anzugeben bzw. die volle Wahrheit zu verschweigen.

Aufgrund dieser soeben ausgeführten Detailarmut, Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten, in Zusammenschau mit der mangelnden persönlichen Glaubwürdigkeit des BF, erachtet das Bundesverwaltungsgericht das primäre Fluchtvorbringen des BF, er sei wegen der ihm unterstellten Aufbewahrung bzw. Verbreitung von christlichen Büchern in Afghanistan Verfolgung ausgesetzt, als gänzlich unwahr.

II.2.3.2. Der BF brachte vor der Behörde einen weiteren Fluchtgrund vor, nämlich Verfolgung durch den Ex-Verlobten seiner (zweiten) Ehefrau, weil er diesem Mann die Ehefrau weggenommen habe. Auch diesem Fluchtvorbringen wird die Glaubwürdigkeit versagt:

Festzuhalten ist vorweg, dass der BF diesen Fluchtgrund in der Erstbefragung nicht ansatzweise erwähnte, was in der Beweiswürdigung durchaus Beachtung finden kann. Auch in der Einvernahme vor der Behörde erwähnte der BF erst am Ende der Befragung und eher beiläufig (Einvernahme 11/13), dass seine zweite Ehefrau vor der Hochzeit mit einem anderen Mann verlobt gewesen sei, wovon der BF nichts gewusst habe. Von diesem Ex-Verlobten sei der BF bedroht worden. In der mündlichen Verhandlung wurde der BF eingangs zu seien Fluchtgründen befragt, und er erwähnte zunächst wieder nur seine Inhaftierung in Ghazni/Jaghori. Über Frage, ob dies alle Gründe seien, brachte er eine befürchtete Verfolgung vor, weil er Christ geworden sei; das seien jetzt alle Gründe (VH, 6f). Über Vorhalt der Richterin, dass er seine Probleme mit dem Ex-Verlobten nicht erwähnt habe, meinte er lediglich, dass ihm das plötzlich nicht eingefallen sei (VH, 14f). Bereits vor diesem Hintergrund ergibt sich nicht das Bild, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich Verfolgung in diesem Zusammenhang zu befürchten bzw. zu gewärtigen hätte.

Zudem sind die Angaben des BF zu diesem Fluchtgrund, insb. zu konkreten Bedrohungen in diesem Zusammenhang, sowohl vor der Behörde (AS 137) als auch in der mündlichen Verhandlung (VH, 14f) wieder auffallend oberflächlich, vage und detailarm, obwohl der BF zur detaillierten Schilderung aufgefordert wurde.

Der BF behauptete zunächst, er sei vom Ex-Verlobten bedroht worden, weil dieser gemeint habe, der BF habe seine Verlobte zur Frau genommen, ihm sohin die Frau weggenommen. Den weiteren Ausführungen ist jedoch zu entnehmen, dass der Ex-Verlobte die Tochter des BF aus erster Ehe entführen habe wollen, somit die Bedrohung in Wahrheit diesem Mädchen galt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Ex-Verlobte den BF jemals ernstlich bedroht hätte, der BF gab an, der Ex-Verlobte habe ihn „immer wieder“ bedroht, wie diese Bedrohungen ausgestaltet waren, legte der BF jedoch nicht dar, körperliche Übergriffe verneint der BF jedenfalls (AS 137).

In der mündlichen Verhandlung schwächte der BF zunächst dann die Bedrohung gegen seine Tochter ab, in dem er hinzufügte, er vermute, dass der Ex-Verlobte seine Tochter haben wollte (VH, 15). Andererseits steigerte er sein Vorbringen dahingehend, als er nun behauptete, Männer seien nachts gekommen und hätten mit Steinen an Fenster und Türen geschlagen (VH, 15). Er sei bei diesen Vorfällen aber nicht zu Hause gewesen, sondern habe in seinem Geschäft am Bazar übernachtet. Letztlich handelt es sich selbst nach Angaben des BF nur um Vermutungen, dass hinter den nächtlichen Vorfällen der Ex-Verlobte seiner Ehefrau stecken könnte (VH, 15). Überdies konnte der BF nicht überzeugend darlegen, dass er sich um seine Ehefrau und Tochter bzw. Töchter trotz der nächtlichen Vorfälle ernsthafte Sorgen gemacht hätte, zumal er – bis auf eine Woche – weiterhin am Bazar übernachtete, und seine Ehefrau und Töchter alleine zu Hause ließ, wie sich aus der Befragung des BF in der mündlichen Verhandlung ergibt (VH, 15).

Überdies konnte der BF seine Behauptungen auch zeitlich nicht plausibel darstellen. Er meinte vor der Behörde, die Drohungen hätten vor ca. sieben Jahren begonnen, als seine erste Tochter mit seiner zweiten Ehefrau geboren worden sei (AS 137). Da wäre die Tochter aus erster Ehe bereits ca. 16 Jahre alt gewesen. Der BF blieb dann noch rund fünf Jahre in Afghanistan, seine Angehörigen verließen erst nach ihm Afghanistan in Richtung Iran. Folgt man diesen Angaben, ist nicht plausibel, dass der Ex-Verlobte seiner zweiten Ehefrau in rund fünf Jahren, in denen der BF sich mit seiner Familie noch in Afghanistan aufhielt, seine Drohungen nicht wahrgemacht hätte, hätte er ernsthaftes Interesse an der Tochter des BF gehabt oder ernsthaft Rache üben wollen. In der mündlichen Verhandlung sprach der BF dann allerdings davon, dass diese Bedrohungen nur 6-7 Monate gedauert hätten (VH, 16), was mit den Angaben vor der Behörde jedenfalls nicht in Einklang zu bringen ist. Der BF war in der mündlichen Verhandlung jedenfalls nicht in der Lage, die diesbezüglichen Bedrohungen zeitlich plausibel einzuordnen.

Auffallend ist zudem, dass der BF nicht gewusst haben will, dass seine Ehefrau vor der Eheschließung mit ihm mit einem anderen Mann verlobt gewesen sein soll, zumal es schon üblich ist, über den künftigen Ehepartner Erkundigungen einzuholen, und er war auch nicht in der Lage, Näheres über den Ex-Verlobten seiner Ehefrau zu berichten, er wisse nichts Besonderes über ihn (VH, 16).

Insgesamt ist es dem BF aus den dargelegten Gründen nicht gelungen, eine drohende Verfolgung im Herkunftsstaat aus diesem Grund glaubhaft zu machen, wobei erneut auch auf die persönliche Unglaubwürdigkeit des BF hinzuweisen ist, weil er in der mündlichen Verhandlung bereits angegeben hat, dass er vor der Behörde (in Bezug auf seinen Glaubenswechsel) nicht die Wahrheit sagen wollte bzw. einräumen musste, jedenfalls einmal bewusst die Unwahrheit gesagt zu haben (vgl. dazu näher II.2.3.3.).

II.2.3.3. Dem BF gelang es insgesamt auch nicht glaubhaft zu machen, dass er tatsächlich ernstlich dem christlichen Glauben angehört und ihm aus diesem Grund eine Verfolgung in Afghanistan drohen würde. Dass beim BF ein Religionswechsel bzw. ein christlicher Glaube aus innerer Überzeugung vorliegt und das Christentum wesentlicher Bestandteil seiner Identität geworden ist, konnte nicht festgestellt werden:

Zwar wurde der BF am 27.06.2020 christlich getauft, der BF hat am 31.07.2020 einen Taufschein der Erzdiözese Wien, römisch-katholische Kirche, vorgelegt (OZ 2). Schon angesichts seiner Aussagen vor der Behörde rd. einen Monat nach der Taufe (!) ist aber keinesfalls davon auszugehen, dass sich der BF aus innerer Überzeugung christlich taufen ließ. Der BF sagte dort auszugsweise aus: „Ich gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bin schiitischer Moslem“. Auf die Frage nach seinen Rückkehrbefürchtungen meinte der BF: „Die Sicherheitslage“. „Sonst nichts“. Befragt, ob er in Österreich Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation sei, antwortete er: „Nein. Ich gehe nur hin und wieder in die Kirche, damit ich mehr über das Christentum lerne.“ Auf die Frage, warum er das mache, meinte er: „Damit ich mich dann entscheiden kann zwischen dem Christentum und dem Islam.“ „Ich hörte, dass das Christentum besser ist als der Islam“. Über Vorhalt, dass er über das Christentum nichts wisse, antwortete er: „Noch nicht“. Wie er dann sagen könne, dass das Christentum besser sei, beantwortete der BF: „Das ist meine Entscheidung“. Die Frage, was er über das Christentum wisse, beantwortete der BF: „Dass das Christentum gut ist.“ Er kenne keine Feiertage, am Christentum sei gut, dass er katholisch sei, außerdem der Frieden und dass man niemanden töten müsse, der liebevolle Umgang der Menschen in der Kirche. Befragt, ob er etwas über das Christentum sagen könne, meinte er: „Liebe ist wichtig. Dass man liebevoll miteinander lebt.“ Es wisse niemand in der Familie, dass der BF in die Kirche gehe. Er habe eingangs nur aus Gewohnheit gesagt, dass er Schiit sei. Er sei am Sonntag nicht in der Kirche gewesen, weil er müde gewesen sei, ansonsten sei er vor drei Wochen in der Kirche gewesen.

Sowohl dem BF, als auch den einvernommenen Zeugen, wurden diese Aussagen des BF in der mündlichen Verhandlung vorgehalten. Der BF rechtfertigte sich damit, dass er nicht gewusst habe, dass es sich um eine Einvernahme handle, und dass er sich nicht sicher gewesen sei, ob er von der Konversion erzählen solle; er habe sich erst am Ende der Einvernahme entschieden, den Taufschein vorzulegen. Der BF konnte allerdings nicht nachvollziehbar darlegen, wie er zu dem Entschluss kam, vor der Behörde seine Konversion verheimlichen zu wollen (VH, 32: „R: Wie kommen Sie die Idee, dass Sie vor der Behörde nicht die volle Wahrheit sagen möchten? BF: Ich wusste nicht, ob ich es sagen soll oder nicht. Ich hatte Erfahrung. R: Was meinen Sie damit, sie sind seit 2015 in Österreich, hatten mehrere Einvernahmen und haben subsidiären Schutz. BF: ich habe es nicht vorgehabt, von der Konversion zu erzählen. R: Also haben Sie zu Beginn schon bewusst gesagt, dass Sie Schiite sind? BF: Ja. R: Was haben Sie sich dabei gedacht? Warum wollten Sie das nicht sagen, dass Sie konvertiert sind? BF: Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“). Insgesamt geht die erkennende Richterin davon aus – auch in Zusammenschau mit den übrigen Angaben des BF zu seinem behaupteten Religionswechsel (dazu näher sogleich) – dass der BF seine Taufe keinesfalls aus innerer Überzeugung abgelegt hat.

Auch die konkrete Befragung des BF zu seinen religiösen Aktivitäten ergibt nicht das Bild, dass der BF Christ geworden ist: Ein regelmäßiger Besuch der heiligen Messe (seit der Öffnungen nach der pandemiebedingten Schließung der Kirchen) oder die Ausübung von christlichen Aktivitäten in der Gemeinschaft kann auf Basis der Angaben des BF nicht festgestellt werden: „R: In den letzten eineinhalb Jahren war es wegen Corona schwierig mit der Kirche in Kontakt zu bleiben bzw. vor Ort auch die christliche Glaubensgemeinschaft zu leben. Wie haben Sie das gemacht? Wie haben Sie es geschafft (dass) Ihre intensive Bindung zu Kirche aufrecht geblieben ist? BF: Ich habe zu Hause eine Bibel. Die lese ich täglich, eine Seite. Aber Gott sei Dank kann ich die Kirche wieder besuchen. Ich war gestern dort. R: Seit wann gibt es wieder Gottesdienste zu feiern? BF. Seit Anfang dieses Monats. R: Seit wann gehen Sie wieder regelmäßig zur Kirche? BF: Seit Anfang des Monats. R: Waren Sie jetzt einmal in der Kirche seit der Coronazeit? BF: Ja, einmal war ich.“ Nun widerspricht es aber den Aussagen des als Zeugen einvernommenen Taufspenders und Seelsorgers, dass die Kirche des BF für Gottesdienst erst ab Juni 2021 wieder öffnete: Demnach waren bereits ab Februar 2021 Gottesdienste wieder möglich, und der BF hat nach den Aufzeichnungen des Zeugen seither drei Mal den Gottesdienst besucht. Befragt zu Angeboten der Kirche in Zeiten des harten Lockdowns gab der Zeuge an, einmal in der Woche eine Messe zu halten, die sogar auf Persisch übertragen wird. Dass sich der BF für dieses Angebot seiner Kirche in Zeiten in harten Lockdowns interessierte, sich darüber informiert oder gar in Anspruch genommen hätte, ist den Angaben des BF keinesfalls zu entnehmen. Im Übrigen gab der BF an, auch vor der Corona-Pandemie nur alle zwei Wochen den persisch-sprachigen Unterreicht und „nicht so soft“ den Gottesdienst besucht zu haben (VH, 21). Die religiösen Aktivitäten des BF erreichen daher kein Ausmaß, das eine überzeugte Ausübung des Christentums vermuten ließe. Auffallend ist in diesem Zusammenhang schließlich auch, dass der BF nicht einmal behauptet, alleine oder in Gemeinschaft regelmäßig zu Gott zu beten oder sonst irgendwelche religiösen Aktivitäten auszuüben („R: Wie praktizieren Sie die neue Religion im täglichen Leben? BF: Ich kann es nicht beantworten.“). Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls davon auszugehen, dass es dem BF an einer Ernsthaftigkeit der Religionsausübung mangelt.

Als ein weiteres maßgebliches Indiz für einen aus innerer Überzeugung vollzogenen Religionswechsel kann weiters das Wissen über die neue Religion herangezogen werden. Auch dieses ist beim BF nur rudimentär ausgeprägt: Der BF gibt an, täglich in der Bibel zu lesen, und seit fünf Jahren recherchiere er schon über das Christentum. Anzumerken ist auch, dass der BF nicht einmal behauptet, andere christliche Bücher als die Bibel zu lesen (VH, 30).

Vor diesem Hintergrund, und auch vor dem Hintergrund der erfolgten Taufe und damit einhergehendem Taufunterricht überrascht der BF mit auffallend wenig Wissen um das Christentum. Befragt zu Passagen aus der Bibel, die den BF besonders beeindrucken, konnte er lediglich die „Geschichte“ nennen, bei der „Jesus 5000 Menschen mit 5 Broten und 2 Fischen ernährt“, und die „Geschichte auf dem Berg“, ohne jedoch diesbezüglich ins Detail gehen zu können, und andere Passagen aus der Bibel konnte der BF überhaupt nicht nennen (VH, 29). Die „Geschichte auf dem Berg“ verortete der BF in „Martha 14“ und zum Inhalt konnte der BF überhaupt nichts sagen, obwohl er abgab, diese Passage erst am Tag der Verhandlung gelesen zu haben (VH, 30). Zur Bedeutung der christlichen Feiertage Ostern, Pfingsten und Christi Himmelfahrt, und wann diese Feiertage sind, konnte der BF nur zu Ostern ansatzweise etwas sagen (VH, 30). Die Frage, ob diese hohen kirchlichen Feiertage in seiner Kirche gefeiert wurden und er daran teilgenommen habe, beantwortete der BF folgendermaßen: „BF: Es gab in der Kirche eine Feier, aber ich habe nicht teilgenommen. Nachgefragt: Ich habe verschlafen.“ Auch aus diesen Angaben wird deutlich, dass der BF keinerlei Interesse daran hat, selbst hohe kirchliche Feiertage (in seiner christlichen Gemeinde) zu feiern.

Ebenso wenig konnte der BF den Ablauf der heiligen Messe anschaulich beschreiben (VH, 30), er verwechselte die Evangelisten mit den Aposteln (VH, 30), und mit dem Begriff der „Dreifaltigkeit“ wusste der BF nichts anzufangen (VH, 30).

Auch eine mit dem Religionswechsel einhergegangene Verhaltens- bzw. Einstellungsänderung des BF konnte nicht festgestellt werden: So haben die Angaben des BF dazu, was es für ihn bedeutet, getauft zu sein und den christlichen Glauben zu leben, nicht zwingend etwas mit dem christlichen Glauben zu tun: „R: Was bedeutet es für Sie, getauft zu sein und den christlichen Glauben zu leben? BF: Ich fühle mich beruhigt. Ich fühle mich wohl. Ich gehe arbeiten. Ich führe ein ruhigeres Leben.“ Auch in seiner aktuellen Lebensführung hat der christliche Glaube keinen besonderen Stellenwert: „R: Wie zeigen Sie aktuell durch Ihre Lebensführung, im alltäglichen Leben, dass Sie Christ sind? BF: Ich schäme mich oft. Ich bin sehr zurückhalten und rede nicht viel. Vielleicht würde ich es ihnen gar nicht sagen, dass ich Christ bin, wenn wir uns kennenlernen.“

Schließlich blieb der BF auch eine schlüssige Darlegung der Motivation bzw. des auslösenden Moments für den Glaubenswechsel schuldig: Der BF behauptete stereotyp, viel über das Christentum recherchiert und Informationen gesammelt zu haben und so sei sein Interesse geweckt worden (VH, 17). Näher befragt dazu, wie und wo er dazu recherchiert habe, bleiben die Angaben des BF wieder sehr vage: Ein Koreaner sei zu ihnen ins Heim gekommen, habe Essen gebracht und Haare geschnitten und Informationen zum Christentum verteilt. Er könn

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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