TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/18 I405 2167633-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.06.2021
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Entscheidungsdatum

18.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
AVG §13 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §52
FPG §55 Abs2
VwGVG §17
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1
VwGVG §7 Abs2

Spruch


I405 2167633-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Mali, vertreten durch den Verein - Legal Focus, Lazarettgasse 28/3, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.08.2017, Zl. 1076555105-150775064, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.04.2021,

A)

I. beschlossen:

Das Verfahren zu Spruchpunkt I. und II. des verfahrensgegenständlichen Bescheides wird nach Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

II. zu Recht erkannt:

1. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III., erster Spruchteil, wird als unbegründet abgewiesen.

2. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist. Amidoulaye KONE, wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

3. Der Spruchpunkte IV. wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein malischer Staatsbürger, stellte am 01.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am darauffolgenden Tag wurde er durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und am 26.08.2016 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen.

3. Mit gegenständlich bekämpftem Bescheid der belangten Behörde vom 02.08.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Mali zulässig sei (Spruchpunkt III.). Ferner wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt IV.)

4. Mit Schriftsatz vom 14.08.2017 erhob der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.04.2021 in Anwesenheit des BF, seiner Rechtsvertretung und einer Dolmetscherin für die französische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des BF:

Der volljährige BF ist Staatsangehöriger von Mali, bekennt sich zum christlichen Glauben und gehört der Volksgruppe der Bambara an. Seine Muttersprache ist ebenfalls Bambara. Er spricht überdies Französisch. Seine Identität steht nicht fest.

Der BF leidet an keinen schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ist er auch erwerbsfähig.

Der BF verfügt über keine Schulausbildung und hat in seinem Herkunftsstaat seinen Lebensunterhalt als Landwirt bestritten. Es leben noch Angehörige (u.a. seine Freundin mit der gemeinsamen Tochter) des BF in Mali.

Der BF hält sich spätestens seit seiner Asylantragstellung im Juli 2015 in Österreich auf.

Der BF hat sich in all den Jahren seines Aufenthaltes sowohl in wirtschaftlicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht in Österreich integriert.

Der BF hat mehrere Deutschkurse besucht und verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2.

In Österreich verfügt er über keine familiären Bindungen. Er verfügt jedoch aufgrund seines jahrelangen Aufenthaltes im Bundesgebiet über einen dementsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis.

Der BF geht seit 2017 in einem gemeinnützigen Verein namens „ XXXX “ einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Zudem hat er sich beim Roten Kreuz engagiert und dort auch Kurse besucht.

Der unbescholtene BF bezieht derzeit Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er verkauft auch seit 2016 eine Straßenzeitung, wodurch er etwa € 100,-- bis 150,-- ins Verdienen bringt. Des Weiteren verfügt er auch über einen Arbeitsvorvertrag für eine Vollzeitbeschäftigung.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde und Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor dieser am 26.08.2016 und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.07.2015, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu . Zudem konnte sich die erkennende Richterin einen persönlichen Eindruck im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 22.04.2021 machen. Außerdem wurden Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Zentralen Fremdenregister (IZR) und der Grundversorgung GVS) ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

2.2. Zur Person des BF:

Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen im Herkunftsstaat, zu seiner Volljährigkeit, seinen Angehörigen, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Einreise nach Österreich gründen sich auf den glaubhaften und gleichbleibenden Angaben des BF im Verfahren vor der belangten Behörde und im Beschwerdeverfahren.

Die Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand ergeben sich aus den Angaben des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und den vorgelegten Unterlagen vom 03.05.2021.

Nachdem der BF im Verfahren keine unbedenklichen identitätsbezeugenden Dokumente in Vorlage bringen konnte, steht die Identität des BF nicht fest.

Die Feststellungen zu seiner Einreise und seinem Aufenthalt im Bundesgebiet lassen sich zweifellos dem vorliegenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister entnehmen.

Dass der BF nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte in Mali verfügt, er über Arbeitserfahrung in seinem Herkunftsstaat verfügt, ergibt sich aufgrund der glaubhaften Angaben des BF.

Die Feststellungen zum Privatleben des BF bzw. zum fehlenden Familienleben in Österreich beruhen auf den Angaben des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die Feststellung hinsichtlich seiner Deutschkenntnisse ergeben sich aufgrund der diesbezüglich vorgelegten Teilnahmebestätigungen. Die erkennende Richterin konnte sich auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein persönliches Bild über die Deutschkenntnisse und den Integrationswillen des BF machen.

Die Feststellungen zu den freundschaftlichen Kontakten des BF gehen aus den Angaben des BF und den vorgelegten Unterstützungsschreiben hervor. Die Feststellungen zu seiner gemeinnützigen Tätigkeit im Verein „ XXXX “ geht aus dem Schreiben dieses Vereins vom 10.08.2020, die Feststellung zu seinem Engagement beim Roten Kreuz geht aus dessen Schreiben vom 01.08.2016 hervor. Die Feststellung zum Arbeitsvorvertrag geht aus dem Schreiben der Firma N. vom 03.05.2021 hervor. Die Feststellung zum Zeitungsverkauf geht aus der undatierten Bestätigung der Zeitschrift M. hervor.

Die Feststellungen, dass der BF Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergeben sich aus einem aktuellen GVS-Auszug.

Die Feststellung über die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) I.:

3.1. Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides:

§ 7 Abs. 2 VwGVG normiert, dass eine Beschwerde nicht mehr zulässig ist, wenn die Partei nach Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Beschwerde verzichtet hat. Eine Zurückziehung der Beschwerde durch den BF ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich (Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, § 7 VwGVG, K 6). Dasselbe folgt sinngemäß aus § 17 VwGVG iVm § 13 Abs. 7 AVG.

Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Beschwerde zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offen lässt. Maßgebend ist daher das Vorliegen einer diesbezüglich eindeutigen Erklärung (vgl. zB VwGH 22.11.2005, 2005/05/0320 uvm. zur insofern auf die Rechtslage nach dem VwGVG übertragbaren Judikatur zum AVG).

Eine solche Erklärung lag im gegenständlichen Fall zweifelsfrei vor. Der BF hat die Zurückziehung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 22.04.2021 durch seinen Rechtsvertreter eindeutig zum Ausdruck gebracht.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder einzustellen ist.

Da der BF seine Beschwerde gegen die Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen hat, war das Beschwerdeverfahren insoweit einzustellen.

Zu A) II.:

3.2. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 58 Abs. 1 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z 2) oder wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt (Z 5). Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK) von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen (§ 58 Abs. 3 AsylG). Auch wenn der Gesetzgeber das Bundesamt im Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung zur Prüfung und spruchmäßigen Erledigung der Voraussetzungen der §§ 55 und 57 AsylG 2005 von Amts wegen, dh auch ohne dahingehenden Antrag des BF, verpflichtet, ist die Frage der Erteilung eines solchen Titels auch ohne vorhergehenden Antrag im Beschwerdeverfahren gegen den negativen Bescheid durchsetzbar und daher Gegenstand der Sachentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/20/0121).

Indizien dafür, dass der BF einen Sachverhalt verwirklicht, bei dem ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") zu erteilen wäre, sind weder vorgebracht worden, noch hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt des BF seit mindestens einem Jahr im Sinne des § 46 Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch ist dieser zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch ist der BF Opfer von Gewalt im Sinne des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005. Eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß § 57 AsylG 2005 war daher nicht zu erteilen.

Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie hinsichtlich Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe abzuweisen war.

4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides – zweiter Spruchteil):

Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

Zu prüfen ist daher, ob eine Rückkehrentscheidung mit Art 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art 8 EMRK ist aus nachstehenden Gründen gegeben:

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, ergibt sich aus § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG. Dieser lautet:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre."

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Bei dieser Interessensabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007 sowie VwGH vom 03.04.2009, Zl. 2008/22/0592; vom 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216; vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479 und vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423).

Wie sich aus den bisherigen Angaben des BF im Verfahren vor der belangten Behörde und vor dem erkennenden Gericht ergibt, hat der BF keine in Österreich lebenden Verwandten und auch sonst keine familiären Anknüpfungspunkte. Die Rückkehrentscheidung bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Schutz des Familienlebens.

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen sowie der in § 9 Abs. 2 BFA-VG normierten Integrationstatbestände, die bei der Beurteilung eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, ist im gegenständlichen Fall der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers nicht durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen gerechtfertigt. Dies aus folgenden Gründen:

Wie oben unter den Feststellungen ausgeführt wurde, hat der BF seinen knapp sechsjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet für seine Integration in sprachlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht genützt.

Zunächst ist hinsichtlich der langen Verfahrensdauer anzumerken, dass diese nicht dem BF anzulasten ist. So hat der BF sich nie dem Verfahren entzogen oder seine Mitwirkungspflicht verletzt.

So hat der BF mehrere Sprachkurse besucht und verfügt über ein Sprachzertifikat auf dem Niveau A2. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung konnte er auf einfache Fragen adäquat antworten.

Der BF ist zwar derzeit nicht vollumfänglich selbsterhaltungsfähig, da der BF neben dem Einkommen aus dem Zeitungsverkauf auf die Grundversorgung angewiesen ist, jedoch ist der BF arbeitswillig und verfügt auch über eine Einstellungszusage, wodurch er nicht nur für seinen Lebensunterhalt aufkommen können wird, sondern sich weiterhin in die österreichische Gesellschaft und insbesondere auch am österreichischen Arbeitsmarkt integrieren wird.

Aufgrund seines jahrelangen Aufenthaltes im Bundesgebiet verfüg der BF über einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis, wie dies aus den vorgelegten Unterstützungsschreiben hervorgeht. Zudem ist der BF in einem gemeinnützigen Verein seit Jahren tätig und engagiert sich auch beim Roten Kreuz, womit er seine Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben tatkräftig bekundet hat.

Der BF ist auch strafrechtlich unbescholten. Der BF hat somit gezeigt, dass er in den letzten Jahren um eine möglichst umfassende und auf Dauer angelegte Integration in Österreich bemüht war bzw. ist.

Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes im vorliegenden Fall die privaten Interessen des BF angesichts der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den BF unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen die BF auf Dauer unzulässig ist.

Da die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG im Fall des BF gegeben sind, war der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides stattzugeben und dem BF1 eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wird daher - unter der Voraussetzung der Erfüllung der allgemeinen Mitwirkungspflicht im Sinne des § 58 Abs. 11 AsylG - dem BF den Aufenthaltstitel im Sinne des § 58 Abs. 4 AsylG auszufolgen haben.

Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

5. Angesichts des Verfahrensergebnisses war daher in Hinblick auf den Spruchpunkt IV. diesem stattzugeben und dieser zu beheben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asylverfahren Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK befristete Aufenthaltsberechtigung Beschwerdeverzicht Beschwerdezurückziehung Einstellung Einstellung des (Beschwerde) Verfahrens ersatzlose Teilbehebung Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Kassation mündliche Verhandlung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Rückkehrentscheidung behoben Spruchpunktbehebung subsidiärer Schutz Verfahrenseinstellung Zurückziehung Zurückziehung der Beschwerde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I405.2167633.1.00

Im RIS seit

25.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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