Entscheidungsdatum
30.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W272 2243028-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Ukraine, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ost, vom 04.05.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. – VII. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VIII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbots gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG auf ein Jahr herabgesetzt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge: BF), ein volljähriger ukrainischer Staatsangehöriger, stellte am 01.05.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am Tag der Antragstellung wurde der BF einer Erstbefragung des BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen, wobei der BF angab, in der Ukraine geboren und ukrainischer Staatsbürger zu sein, Ukrainisch als Muttersprache und Russisch zu sprechen und an keinen Beschwerden oder Krankheiten zu leiden, die ihn an der Einvernahme hindern würden. Er gab an, sich bis vor eineinhalb Monaten in der Ukraine aufgehalten zu haben, danach etwa zehn Tage in Polen, zwei Wochen in Deutschland und schließlich am 17.04.2021 nach Österreich gelangt sei. Er habe Österreich erreichen wollen, um hier zu arbeiten. Der BF gab weiters an, er habe als 2014 zwischen der Ost-Ukraine und Russland Krieg ausgebrochen sei, gegen die Russen gekämpft. Der russische Geheimdienst wolle ihn deshalb verhaften. Bei einer Rückkehr in die Ukraine habe er Angst verhaftet oder getötet zu werden.
3. Der BF ist im Besitz eines Visum D, ausgestellt vom polnischen Konsulat in XXXX , Ukraine, dass am 24.09.2020 ausgestellt wurde und von 30.09.2020 bis zum 16.08.2021 gültig ist.
Er hatte auch zwei weitere, vom polnischen Konsulat in XXXX , Ukraine, ausgestellte Visum D, die vom 12.11.2017 bis 30.04.2018 und vom 23.09.20219 bis zum 03.09.2020 gültig waren.
4. Am 01.05.2021 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: BFA) unter Beiziehung eines Dolmetschers für die russische Sprache statt. Der BF erklärte, an keinen chronischen Krankheiten zu leiden und gesund zu sein. Er sei in XXXX , Ukraine geboren, gehöre der Volksgruppe der Ukrainer und dem orthodoxen Christentum an. Er sei geschieden und kinderlos, seine Eltern seien 2019 in der Ukraine verstorben. Er habe noch eine Schwester, die in der Ukraine lebe. In Österreich habe er keine Familienangehörigen. Der BF habe acht Jahre die Grundschule und drei Jahre eine Berufsschule zum Metallarbeiter besucht und diese abgeschlossen. Der BF brachte vor, seine wirtschaftliche Situation in der Ukraine sei schlecht gewesen. Er sei 2017 nach Polen gereist und sei für eine polnische Firma als Kraftfahrer durch ganz Europa gereist. Zu seinem Fluchtgrund befragt, erklärte der BF, er sei von 2014 bis 2015 in XXXX als freiwilliger Soldat im Krieg gewesen und sei in der Folge vom russischen Geheimdienst gesucht worden. Er habe sich bis 2017 in der Ukraine versteckt und sei dann nach Polen gereist. Vor eineinhalb Monaten sei er aus Polen zurück in die Ukraine gereist und dort etwa zehn Tage geblieben. Seine Freunde und Bekannte hätten ihm gesagt, dass nach ihm gesucht werde. Er sei dann am 23.03.2021 wieder nach Polen gereist. Auf Nachfrage, gab der BF an, dass er die Ukraine nicht aufgrund einer Verfolgung oder Bedrohung verlassen habe, sondern wegen der besseren Arbeitsmöglichkeiten in Österreich. In der Ukraine gebe es keine Arbeit. Er sei in der Ukraine nie verhaftet worden, nie Mitglied einer politischen Partei gewesen und habe auch keine Probleme mit den ukrainischen Behörden gehabt.
Vorgelegt wurde: Kopie vom Führerschein
5. Am 04.05.2021 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA unter Beiziehung seines Rechtsberaters und einer Dolmetscherin für die russische Sprache statt. Der BF gab an, er fühle sich geistig und körperlich in der Lage die Einvernahme durchzuführen. Seine bisherigen Aussagen hätten der Wahrheit entsprochen und hinsichtlich der Einvernahme vom 01.05.2021 wolle er nichts ergänzen, er habe alles gesagt und bitte darum, dass sein Antrag nicht abgewiesen werde. Auf Frage seiner Rechtsberatung, gab der BF an, er sei nicht persönlich bedroht worden und könne konkret nicht sagen, dass er verfolgt werde. Er habe nur mitbekommen, dass unbekannte Männer nach ihm gefragt hätten. Er vermute, dass er vom russischen Geheimdienst verfolgt werde, habe aber keine Beweise.
Zu den Länderfeststellungen der Ukraine, brachte er vor, es gebe in der Ukraine im Prinzip keine Rechte. Es gebe auch keine Arbeit und selbst wenn man einen Job bekomme, verdiene man nur sehr wenig Geld. Soziale Dienste gebe es nicht und im Osten herrsche Krieg. Oligarchen hätten die ganze Macht, Korruption blühe auf und die Polizei verübe Gesetzlosigkeiten.
6. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 04.05.2021 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in weiterer Folge: AsylG) abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag es BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht. In Spruchpunkt VII. wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-V die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).
Begründend führte das BFA aus, dass der BF eine konkrete, gegen seine Person gerichtete Verfolgung durch staatliche Stellen, heimatliche Behörden, Militär oder private Dritte nicht einmal behauptet worden sei. Die Angaben des BF hinsichtlich seiner Verfolgung in der Ukraine aufgrund seiner freiwilligen Teilnahme am Krieg gegen Russland, seien als nicht glaubhaft einzustufen. Der BF habe mehrfach zwischen Polen und der Ukraine ohne Probleme ein- und ausreisen können, weswegen eine Verfolgung durch einen Geheimdienst ausgeschlossen werden könne. Der BF habe auch keine glaubhaften Gründe angegeben, dass der russische Geheimdienst ihn verfolgen würde. Seinem Vorbringen sei jegliche Asylrelevanz abzusprechen, da eine Gefährdung aufgrund seiner ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit, seiner politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nicht behauptet worden sei. Beim BF handle es sich um einen gesunden und arbeitsfähigen Mann, welchem es bis zur Ausreise möglich gewesen sei, sich den notwendigen Lebensunterhalt zu sichern. Es sei nicht davon auszugehen, dass dem BF im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention droht. Anhaltspunkte für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG hätten sich nicht ergeben. Der BF habe in Österreich kein schützenswertes Familienleben und liege aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer von rund vier Monaten auch kein schützenswertes Privatleben vor. Die Rückkehrscheidung stelle deswegen keinen Eingriff in Art. 8 EMRK dar. Von einer Frist für die freiwillige Ausreise sei abzusehen, weil gemäß § 18 BFA-VG eine durchführbare Entscheidung vorliege. Bezüglich des Einreiseverbotes führte die Behörde aus, dass der Antrag auf internationalen Schutz des BF offensichtlich unbegründet und missbräuchlich gestellt worden sei. Dies könne zwar nicht unter § 53 FPG subsumiert werden, sei jedoch geeignet die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden und wiederlaufe somit den Interessen des Art. 8 EMRK. Zudem sei festzuhalten, dass der BF nicht in der Lage sei die Mittel für seinen Unterhalt aus Eigenem nachzuweisen. Die Mittel aus der Grundversorgung seien nicht geeignet, die in § 53 Abs. 2 Z 6 FPG vorzuhaltende Mittellosigkeit zu entkräften. Der Umstand, dass der BF auch künftig nicht in der Lage sein werde, die Mittel für seinen Unterhalt aus Eigenem und ohne staatliche Zuwendungen zu besorgen, ergebe sich daraus, dass der BF über kein Aufenthaltsrecht in Österreich verfüge und daher auch keiner legalen Beschäftigung nachgehen könne.
7. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein. Darin wurde vorgebracht, dass der angefochtene Bescheid in vollem Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgrund unschlüssiger Beweiswürdigung und mangelhaftem Ermittlungsverfahren angefochten werde. Der BF habe die Gründe für das Verlassen seines Heimatlandes im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 01.05.2021 detailliert und ausführlich dargelegt und werde auf diese auf verwiesen. Der BF habe in freier Erzählung wie auch auf Nachfrage konkrete und detaillierte Angaben zu seinem Fluchtgrund vorgebracht und seien seine Angaben hinreichend substantiiert, plausibel, glaubhaft und nachvollziehbar gewesen.
8. Am 25.06.2021 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige BF führt den Namen XXXX , ist ukrainischer Staatsangehöriger und Angehöriger des orthodoxen Christentums. Er wurde am XXXX in XXXX , Ukraine geboren. Er gehört der Volksgruppe der Ukrainer an. Seine Muttersprache ist Ukrainisch, er beherrscht auch Russisch und Polnisch. Er ist geschieden und hat keine Sorgepflichten.
In der Ukraine besuchte er acht Jahre die Schule und drei Jahre eine Berufsschule. Er hat eine technische Ausbildung als Bediener von Werkbänken mit numerischer Steuerung abgeschlossen.
Von August 2014 bis November 2015 kämpfte der BF als Freiwilliger in einer freiwilligen Abteilung im Gebiet XXXX im Krieg gegen Russland.
Der BF ist im Besitz eines gültigen polnischen Visum D, ausgestellt am 24.09.2020 vom polnischen Konsulat in XXXX , Ukraine. Das Visum D ist von 30.09.2020 bis 16.08.2021 gültig. Davor hatte er zwei weitere Visa der Kategorie D für Polen, die vom 12.11.2017 bis zum 30.04.2018 und vom 23.09.2019 bis zum 03.09.2020 gültig waren und ebenfalls vom polnischen Konsulat in XXXX ausgestellt wurden.
Im Jahr 2016 und in den eineinhalb Jahren zwischen dem ersten und zweiten polnischen Visum D (zwischen Mai 2018 und September 2019), befand sich der BF in der Ukraine und war teilweise arbeitslos, nahm Gelegenheitsarbeiten an und arbeitete auch schwarz, zum Beispiel auf Baustellen.
In den Zeiten in denen der BF polnische Visum D hatte, arbeitete er bei verschiedenen polnischen Firmen als Kraftfahrer. Er hat einen Führerschein der Kategorie B und C. Etwa zwei Wochen vor seiner Einreise nach Österreich befand sich der BF in XXXX und wurde dort von seinem polnischen Arbeitgeber gekündigt.
Vor seiner erstmaligen Ausreise aus der Ukraine im Jahr 2017, lebte er in einer Wohnung in XXXX . Die Wochenenden hat er des Öfteren bei seinen Eltern in deren Haus im Ort XXXX verbracht. Der BF ist dort nach wie vor gemeldet. Auch in der Zeit von 01.05.2018 bis zum 23.09.2019 (Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Visum D) hielt sich der BF in der Ukraine auf und lebte manchmal auch bei seinen Eltern in XXXX .
In der Ukraine verfügt der BF noch über eine Schwester, einen Onkel väterlicherseits, Cousins und Cousinen. Der BF hat weder Kontakt zu seiner Schwester noch zu seinen restlichen Verwandten. Die Eltern des BF sind verstorben, der Vater verstarb am 05.03.2019 und etwa eineinhalb Monate später die Mutter.
Der BF ist grundsätzlich seinem Alter entsprechend entwickelt, gesund und arbeitsfähig. Er leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit, befindet sich nicht in ärztlicher Behandlung und nimmt keine Medikamente. Der BF fällt auch nicht unter die COVID-19-Risikogruppe.
Der BF kennt die ukrainische Kultur und lebte diese.
Der BF ist in seinem Herkunftsstaat Ukraine nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden.
Der BF geht keinen kulturellen oder sozialen Aktivitäten in Österreich nach. Er spricht kein Deutsch, lebt von der Grundversorgung und hat bis auf EUR 40,00 keine weiteren Geldmittel.
Er ist strafrechtlich unbescholten.
Der BF reiste am 17.04.2021 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 01.05.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 04.05.2021 wurde sein Asylantrag abgewiesen und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein zweijähriges Einreiseverbot erlassen. Der BF spricht nicht Deutsch und hat keine sozialen oder familiären Kontakte in Österreich. Er hat keine integrativen Tätigkeiten absolviert und ist in Österreich keiner Beschäftigung nachgegangen.
Die Ukraine ist ein sicherer Herkunftsstaat.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF wird nicht wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht oder verfolgt.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:
Im Falle einer Rückkehr in die Ukraine wird der BF aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter nicht bedroht.
Bezüglich der Rückkehr in die Ukraine in die Stadt XXXX , wird festgestellt, dass diese Stadt relativ sicher ist und sie sich dort ohne Gefahr einen ernstlichen Schaden zu erleiden ansiedeln können.
Nicht festgestellt werden kann, dass der BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Ukraine in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre.
Weitere, den BF betreffende individuelle Gefährdungslagen konnten nicht festgestellt werden.
Es ist dem BF möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in die Ukraine in der Stadt XXXX , im Gebiet Winniza, in der Ortschaft XXXX oder in einer Metropole wie Kiev, kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Er würde in keine existenzgefährdende Notlage geraten und es ist ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung durch seine Schwester oder seine anderen Verwandten zu erlangen. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Es ist ihm zumutbar sich in den genannten Ortschaften/Städte anzusiedeln.
Die Ortschaften/Städte sind sicher über den internationalen Flughafen zu erreichen.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Coronapandemie in der Ukraine, mit Stand 30.06.2021, kein Rückkehrhindernis darstellt. Zum Zeitpunkt der Entscheidung liegt die Infektionsrate bei 2.299.059 Fällen und 54.531 Todesfällen, der 7-Tages Mittelwert bei 581 Neuinfizierten (Johns Hopkins University). Mit den Impfungen wurde bereits begonnen. Der BF ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei seiner Rückkehr in die Ukraine eine COVI-19-Erkankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Der BF hat als ukrainischer Staatsbürger Zugang zu den medizinischen Einrichtungen in der Ukraine.
1.4. Zum Herkunftsstaat:
Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt (Stand 08.06.2021).
Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 08.06.2021
In der Ukraine gilt ein System der adaptiven Quarantäne (regionales Ampelsystem), welches bis 30. Juni vorgesehen ist. Ein nationaler Lockdown ist nicht geplant (UNIAN 10.5.2021; vgl. UA 28.4.2021, AA 3.5.2021). Gemäß dem Gesundheitsminister ist die dritte Pandemiewelle in der Ukraine vorbei (UP 7.5.2021).
An öffentlichen Orten, nicht jedoch im Freien, besteht die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Das gilt auch für öffentliche Verkehrsmittel. Hygiene- und Gesundheitsmaßnahmen müssen im öffentlichen Verkehr sowie in Geschäften und Gaststättenbetrieben eingehalten werden (AA 3.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). 2020 wurden mehr als 6.800 Personen im Rahmen der IOM Ukraine Covid-19 Response Intervention unterstützt (IOM 10.2.2021).
Am 24.2.2021 begannen in der Ukraine die Covid-Impfungen. Derzeit sind die folgenden Impfstoffe in Verwendung: AstraZeneca, SinoVac und Pfizer. Seit dem 24.4.2021 befindet sich die Ukraine in der zweiten Phase der Impfstrategie und verabreicht Impfungen an medizinisches Personal, Militärpersonal und ältere Personen (KP 10.5.2021). Die Impfungen werden vorwiegend von mobilen Impfteams durchgeführt (UA 28.4.2021; vgl. Gov.ua 10.5.2021). Impfungen sind freiwillig und kostenlos (GM 10.5.2021). Mit Stand 8.5.2021 erhielten 862.639 Personen die erste Teilimpfung und 446 Personen bereits die zweite Teilimpfung (GM 8.5.2021). Es wurden bisher 9.668.937 PCR-Tests durchgeführt (Gov.ua 10.5.2021).
In den Krankenhäusern der Hauptstadt Kiew werden derzeit 33 Covid-Patienten behandelt und 230 Patienten mit Verdacht auf Covid und Lungenentzündung (IU 9.5.2021). Ab 1.5.2021 wurden in Kiew die meisten Quarantänebeschränkungen aufgehoben (KP 10.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). Wieder geöffnet sind unter anderem Restaurants, Geschäfte, Sporteinrichtungen und Kultureinrichtungen (WKO 30.4.2021; vgl. KP 10.5.2021, RFE/RL 1.5.2021). Seit 5.5.2021 ist der Besuch von Vorschuleinrichtungen, Schulen und Hochschulen wieder erlaubt (WKO 30.4.2021; vgl. RFE/RL 1.5.2021).
Ukrainische Staatsangehörige benötigen für die Einreise einen negativen PCR-Test, welcher zum Zeitpunkt der Einreise nicht älter als 72 Stunden sein darf. Die verpflichtende Selbstisolation von 14 Tagen kann durch einen negativen PCR-Test bei einem zugelassenen Testzentrum nach Einreise verkürzt werden. Ein Einreiseverbot bzw. Beschränkungen im internationalen Reiseverkehr sind derzeit nicht vorgesehen, können aber nicht ausgeschlossen werden (AA 3.5.2021). Die Flughäfen in Kiew, Dnipro, Charkiw, Lwiw, Odesa und Saporischschja sind für den internationalen und inländischen Flugverkehr geöffnet (WKO 30.4.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).
Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).
Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).
Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.07.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).
Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).
Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).
Halbinsel Krim
Letzte Änderung: 09.07.2020
Auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Im Februar 2014 besetzten russische Truppen die Halbinsel Krim militärisch. Im März wurde die Krim nach einem Scheinreferendum schließlich annektiert und zum Teil der Russischen Föderation erklärt. Die Vereinten Nationen verurteilten diesen Schritt und riefen dazu auf, dies nicht anzuerkennen. Auf der Krim gilt seither de facto russisches Recht, es wurde eine russische Regierung installiert, die von Sergey Aksyonov als 'Premierminister' des 'Staatsrats der Republik Krim' geführt wird. Der 'Staatsrat' ist für die tägliche Verwaltung und andere Regierungsfunktionen zuständig. Die schwerwiegendsten Probleme in Bezug auf die Einschränkung der Menschenrechte beinhalten: Verschwindenlassen; Folter, einschließlich strafweise psychiatrische Einweisung; Misshandlung von Inhaftierten als Strafe oder zur Erpressung von Geständnissen; harte Haftbedingungen und Überführung von Gefangenen nach Russland; willkürliche Festnahme und Inhaftierung, auch aus politischen Gründen; allgegenwärtige Missachtung der Privatsphäre; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Medien einschließlich Schließungen und Gewalt gegen Journalisten; Beschränkungen des Internets; grobe und weit verbreitete Unterdrückung der Versammlungsfreiheit; Einschränkung der Religionsfreiheit; starke Einschränkung der Vereinigungsfreiheit, einschließlich Verbot der Selbstverwaltung (Mejlis) der Krimtataren; Einschränkung von Bewegungsfreiheit und Teilnahme am politischen Prozess; systemische Korruption; sowie Gewalt gegen und systematische Diskriminierung von Krimtataren und ethnischen Ukrainern. Die russischen Behörden unternehmen kaum Schritte, um Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu verfolgen, wodurch eine Atmosphäre der Straflosigkeit und Gesetzlosigkeit geschaffen wurde (USDOS 11.3.2020b).
Auf der Krim werden seit der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland im März 2014 staatliche Aufgaben von russischen Behörden ausgeübt. Die Einwohner wurden pauschal eingebürgert, es wurde begonnen, sie mit russischen Inlandspässen, seit September 2014 auch mit russischen Reisepässen, auszustatten. Die Einwohner der Krim werden von der Russischen Föderation, wenn sie nicht ihr Widerspruchsrecht genutzt und damit u.a. den Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung verloren haben, als eigene Staatsangehörige behandelt. Die Minderheit der Krimtataren unterliegt erheblichen Restriktionen. Besorgniserregend sind weiterhin Meldungen, wonach exponierte Vertreter der tatarischen Minderheit aufgrund politisch motivierter Vorwürfe inhaftiert werden, verschwinden, nicht mehr auf die Krim zurückreisen dürfen bzw. vielfältigen Diskriminierungen wie willkürlichen Hausdurchsuchungen oder wirtschaftlichem Druck ausgesetzt sind. Außerdem werden tatarische Vereine in ihrer Handlungsfähigkeit beschnitten und unter Druck gesetzt, teilweise auch kriminalisiert oder zur Auflösung gezwungen. Die gewählte Versammlung der Krimtataren (Mejlis) wird von den de-facto-Behörden als terroristische Vereinigung eingestuft, ihre Mitglieder verfolgt. Es gibt Berichte über systematische Diskriminierungen ukrainisch-orthodoxer und muslimischer Gemeinden. Unabhängige Medien werden unterdrückt, dem unabhängigen Fernsehsender der Tataren ATR wurde die Lizenz entzogen; er hat seinen Sitz nach Kiew verlegt. Seine, sowie Sendungen anderer ukrainischer Sender, können auf der Krim nur noch sehr eingeschränkt verfolgt werden. Eine offene Zivilgesellschaft gibt es nicht mehr, Auskunftspersonen haben die Krim verlassen. Religiöse Literatur gilt den Behörden als extremistisch. Auch jüngste Berichte von UNHCR, Amnesty International sowie des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte listen eine Reihe von Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der Krim auf, die von einer Einschränkung des Versammlungsrechts über willkürliche Verhaftungen bis hin zu Entführungen, Folter und willkürlichen Tötungen reicht. Versuche der UN, der OSZE oder des Europarats eine kontinuierliche Beobachtung der Menschenrechtssituation auf der Krim vor Ort vorzunehmen, sind bisher gescheitert (AA 29.2.2020).
Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim häufen sich Berichte über den Versuch der systematischen Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch die russischen Behörden unter dem Vorwand sicherheitspolitischer Erwägungen. Dies wirkt sich insbesondere auf die Aktivitäten der Krimtataren, jedoch auch auf Vertreter der ukrainischen Minderheit aus (ÖB 2.2019; vgl. HRW 17.1.2019). Während des Jahres 2019 setzten die russischen Behörden die Schikanen gegen Krimtataren fort und verfolgten Dutzende von ihnen wegen erfundener Terrorismusvorwürfe (HRW 14.1.2020).
Seit 2014 sind konstant Menschenrechtsverletzungen seitens der russischen Behörden zu beobachten: Gefangene legen Geständnisse ab, die durch Misshandlung und Folter erlangt wurden. Individuen bestimmter Gruppen werden in psychiatrische geschlossene Anstalten zwangseingewiesen. Anwälte können nicht uneingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen. Menschen, die keinen russischen Pass haben, wird der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt. Weiters besteht Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Genderidentität. Menschen mit abweichender politischer Meinung werden verhaftet und unter Bezugnahme auf russische Anti-Terror-Gesetzgebung zu Haftstrafen verurteilt. Auch werden Personen entführt oder verschwinden plötzlich. Wenige bis keine dieser Fälle werden ausreichend strafverfolgt. Besonders die ethnische Gruppe der Krimtataren, aber auch Ukrainer anderer ethnischer oder religiöser Gruppen, sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wird massiv eingeschränkt (ÖB 2.2019).
Ostukraine
Letzte Änderung: 09.07.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).
In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).
In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).
Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).
Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).
Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).
Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).
Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).
Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle um fast 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).
Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).
Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).
2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).
Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 09.07.2020
Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).
Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).
In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 09.07.2020
Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).
Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast immer während der Festnahme und des Verhörs. Die meisten Insassen berichteten, dass die Untersuchungsbeamten eine solche Behandlung einsetzten, um sie einzuschüchtern oder sie zu zwingen, ein angebliches Verbrechen zu gestehen. Der Sonderberichterstatter stellte ferner fest, dass es Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Staatsanwälten und Richtern an grundlegenden Kenntnissen mangelte, um Anschuldigungen von Folter und Misshandlung angemessen zu untersuchen und zu dokumentieren. Folglich erhielten Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen im Allgemeinen keine Hilfe von staatlichen Behörden. Nach Angaben der Charkiwer Menschenrechtsgruppe berichteten diejenigen, die bei der Generalstaatsanwaltschaft Folterbeschwerden eingereicht hatten, dass Strafverfolgungsbeamte sie oder ihre Angehörigen eingeschüchtert und gezwungen hätten, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichteten über Todesfälle aufgrund von Folter oder Vernachlässigung durch Polizei oder Gefängnispersonal (USDOS 11.3.2020).
Im von der Regierung kontrollierten Gebiet erhielt das Office of the UN High Commissioner for Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) weiterhin Vorwürfe, dass der SBU Personen sowohl in offiziellen als auch in inoffiziellen Haftanstalten festhielt und missbrauchte, um Informationen zu erhalten und Verdächtige unter Druck zu setzen, damit sie gestehen oder kooperieren. Die Zahl der gemeldeten Fälle war erheblich geringer als in den vergangenen Jahren. HRMMU vermutete, dass solche Fälle zu wenig gemeldet wurden, weil die Opfer oft in Haft blieben oder aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oder aus mangelndem Vertrauen in das Justizsystem Angst hatten, Missbrauch anzuzeigen. Dem HRMMU zufolge gibt der Mangel an wirksamen Ermittlungen in zuvor dokumentierten Fällen von Folter und körperlicher Misshandlung nach wie vor Anlass zur Sorge (USDOS 11.3.2020). Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse des HRMMU, einige wenige Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlungen wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen. HRMMU, das sonst in regierungskontrollierten Gebieten problemlos Zugang zu Inhaftierten erhält, beklagte in der Vergangenheit gelegentlich erhebliche Verzögerungen beim Erhalt von Besuchsgenehmigungen für Personen, gegen die der SBU ermittelt. Ein im Mai 2017 bekannt gewordener Gesetzentwurf räumt die Existenz illegaler SBU-Gefängnisse ein und zielt darauf ab, diese auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen (AA 29.2.2020).
Aus den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Ost