Entscheidungsdatum
19.07.2021Norm
ASVG §5 Abs2Spruch
I422 2146705-2/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas BURGSCHWAIGER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , StA. Irak, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2019, Zl. 1047331407-140248113, 180956960, 181238905/BMI-BFA_STM_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.06.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I, II., III., IV. sowie VIII. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 AsylG iVm § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ auf die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
III. Die Spruchpunkte VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste am 04.12.2015 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid vom 03.01.2017, Zl. 1047331407-140248113 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Zugleich erkannte sie dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.01.2018 (Spruchpunkt III.).
Eine dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gab das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 25.06.2018, GZ: L524 2146705-1/4E statt und wurde die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückverwiesen.
2. Im Rahmen des aufgetragenen Ermittlungsverfahrens leitete die belangte Behörde infolge der geänderten Sicherheitslage im Irak ein Verfahren zur Aberkennung des Schutzstatus des Beschwerdeführers ein.
Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 08.01.2019, Zl. 1047331407-140248113, 180956960, 181238905/BMI-BFA_STM_RD wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Zugleich erkannte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.) und entzog ihm die befristet erteilte Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt III.). Des Weiteren erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt IV.), erließ über ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt V.) und erklärte seine Abschiebung nach Irak für zulässig (Spruchpunkt VI.). Als Frist für seine freiwillige Ausreise setzte die belangte Behörde einen Zeitraum von 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VII.), entzog ihm zugleich den Fremdenpass und trug ihm auf, diesen unverzüglich bei der belangten Behörde abzugeben.
Eine dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde vom 29.01.2019 wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 11.07.2019, GZ: I422 2146705-2/6E als unbegründet ab.
Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer außerordentliche Revision und hob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 04.03.2020, Ra 2019/18/0359 die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes mangels Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf.
3. Am 08.06.2021 fand in Anwesenheit des Beschwerdeführers eine mündliche Verhandlung statt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitisch islamischen Glaubensrichtung. Seine Muttersprache ist Arabisch. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.
Der Beschwerdeführer ist gesund, erwerbs- und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer wurde in Bagdad geboren und besuchte dort neun Jahre lang die Grund- und Mittelschule. Anschließend absolvierte er vier Jahre lang eine HTL für Mechanik und besuchte im Anschluss daran eine Fachschule für allgemeine Mechanik. Der Beschwerdeführer war in den darauffolgenden fünf Jahren als Lebensmittelverkäufer und im Baugewerbe tätigt. Von November 2010 bis Oktober 2014 arbeitete der Beschwerdeführer als Polizist. Durch diese Tätigkeit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt und lebte in guten finanziellen Verhältnissen. Bis zu seiner Ausreise im November 2014 lebte der Beschwerdeführer in Bagdad, im Stadtgebiet von Al Rasafa, in einem gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder und dessen Familie. Zwischenzeitig sind diese in den Stadtteil Al Dora umgezogen und leben dort einem Haus, dass sich im Besitz der Familie befindet. Darüber hinaus leben noch drei weitere Brüder und drei Schwestern mit deren Familien in Bagdad. Zu seinen im Irak aufhältigen Familienangehörigen steht der Beschwerdeführer nach wie vor in aufrechtem Kontakt. Mit seinen Eltern telefoniert der Beschwerdeführer beinahe täglich. Zu seinen Brüdern beläuft sich der telefonische Kontakt auf rund einmal pro Woche.
1.2. Zum Aufenthalt in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und hält sich nachweislich seit 04.12.2014 durchgehend im Bundesgebiet auf.
Mit Bescheid vom 03.01.2017, Zl. 1047331407-140248113 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.01.2018 erteilt. Begründet wurde dies mit der allgemeinen Lage und der fehlenden innerstaatlichen Fluchtalternative im Irak.
Mit Bescheid vom 02.01.2018, Zl. 104733147 – 140248113/BMI-BFA_STM_RD wurde das befristete Aufenthaltsrecht bis zum 05.01.2020 verlängert.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Er führt seit Februar 2019 eine Beziehung mit der tschechischen Staatsangehörigen Alena J.. Seit September 2019 lebt der Beschwerdeführer mit seiner Lebensgefährtin in einem gemeinsamen Haushalt. Im österreichischen Bundesgebiet halten sich keine Verwandte des Beschwerdeführers auf. Ein Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich ist vorhanden. Eine integrative Verfestigung des Beschwerdeführers in sprachlicher, sozialer und beruflicher Hinsicht liegt vor. Der Beschwerdeführer besuchte im August 2015 einen von der Stadtgemeinde K. organsierten Basisbildungskurs Deutsch. Im April und im Mai 2016 nahm er an zwei Deutschkursen eines kirchlichen Vereins teil. Im März 2017 nahm der Beschwerdeführer am Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds teil und besuchte von Juni bis September 2017 einen Deutschkurs im Niveau A1. Er schloss im Mai 2017 die Deutschprüfung A1 des Österreichischen Integrationsfonds ab. Im Oktober 2017 und im März 2018 bestand der Beschwerdeführer die Deutschprüfung im Niveau A2. In weiterer Folge besuchte der Beschwerdeführer von im Zeitraum von März bis Juni 2018 und im Zeitraum von August 2018 bis Jänner 2019 einen Deutschkurs im Niveau B1. Die Sprachprüfung im Niveau B1 vom 07.12.2018 bestand der Beschwerdeführer nicht. Im Oktober und November 2016 arbeitete der Beschwerdeführer ehrenamtlich als Straßenreinigungskraft in einer steirischen Gemeinde. Der Beschwerdeführer verfügt im Bundesgebiet über einen Freundeskreis. Er trifft sich mit diesen in seiner Freizeit und besucht regelmäßig das Fitnessstudio. Seit Dezember 2018 geht der Beschwerdeführer im Bundesgebiet einer legalen Beschäftigung als Reinigungskraft nach. Er war von 03.12.2018 bis zum 01.03.2019 bei der G. P. S. GmbH beschäftigt und befindet sich seit 13.03.2019 in einem aufrechten Beschäftigungsverhältnis zur W. GmbH. Der Beschwerdeführer sichert sich aus seiner beruflichen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt im österreichischen Bundesgebiet und ist selbsterhaltungsfähig. Er bezieht seit Dezember 2018 keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer unterliegt in seinem Herkunftsstaat keiner Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, Staatsangehörigkeit oder politischen Gesinnung.
Insbesondere wird der Beschwerdeführer weder wegen seiner Tätigkeit als Polizist verfolgt, noch hat er wegen eines von ihm vereitelten Waffentausches Probleme mit einem ehemaligen Vorgesetzten und der Miliz Asa‘ib Ahl Al Haqq.
Der Beschwerdeführer ist daher im Fall seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer hat im Falle seiner Rückkehr die Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer finanziellen Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe.
1.4. Zur Rückkehrsituation:
Die allgemeine Lage im Irak und die dortige Sicherheitslage hat sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer mit Bescheid der belangten Behörde vom 03.01.2017 nachhaltig verbessert.
Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat ist möglich und zumutbar und führt nicht dazu, dass er dort als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes erfahren oder in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten würde. Es ist ihm zumutbar wieder in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren, sich dort eine Unterkunft zu nehmen, am Erwerbsleben teilzunehmen und sich daraus sein Einkommen zu sichern und sein Leben in seinem Herkunftsstaat wieder fortzuführen.
Der Beschwerdeführer hat zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.
1.5. Zur Situation Irak:
Die wesentlichen Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers lauten:
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage:
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete.
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren.
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten. Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern. Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen, aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet.
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar. Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August, erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein. Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen.
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen.
1.5.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:
Die Zahl der durch Gewalt ums Leben gekommenen ist zwischen 2017 und 2019 erheblich gesunken. Waren 2015 noch etwa 17.500 zivile Gewaltopfer im Irak zu beklagen, so ist diese Zahl im Jahr 2019 auf rund 2.300 Gewaltopfer gesunken. Im Jahr 2020 gab es nach vorläufigen Schätzungen bis einschließlich August 650 zivile Todesopfer im Irak.
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden. Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren. Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind.
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder.
1.5.3. Sicherheitslage in Bagdad:
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden.
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt.
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen, doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden.
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad.
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren.
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
Für den Zeitraum von Jänner 2019 bis 30 Juni 2020 verzeichnete ACLED im Gouvernement Bagdad insgesamt 393 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 58 Toten und 18 Verletzten. Die Vorfälle fanden in allen Distrikten des Gouvernements statt, wobei die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet wurde. Dabei zeichnete UNAMI insgesamt 46 Vorfälle auf, von denen 42 Fälle das Jahr 2019 und 4 Vorfälle den Zeitraum 1. Jänner 2019 bis 31 Juli 2020 betrafen.
1.5.4. Protestbewegung:
Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern.
So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben.
Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen. Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung, aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak. Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).
Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt. Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma, sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala.
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen. Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an. Zeitweilig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus und implementierten zeitweilige Internetblockaden.
Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden, darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden. Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste.
Die Proteste konzentrierten sich primär auch Bagdad und den schiitisch dominierten Provinzen im Zentral- und Südirak. Die Proteste in der ersten Oktoberwoche und am 25. Oktober fanden in den Provinzen Karbala, Babil, Waist, Najaf, Qadisiyya, Muthanna, Dhi Qar, Maysan und Basra sowie zusätzlich in Bagdad statt. In Bagdad konzentrierten sich die Proteste auf den Tahir und Khilani Platz mit häufigen Zusamenstößen zwischen Protestierenden und den Sicherheitskräften auf der oder bei der al-Jumhuriyya Brücke und anderen Brücken in der Nähe. In anderen Provinzen, die meisten der großen Proteste scheinen in den Stadten Nasiriyya, Basra, Karbala und Najaf stattgefunden zu haben. Die Zahl der Protestierenden variierte sehr stark während des Herbstes und des Winters 2019 und 2020, wobei nach manchen Quellen tausende, nach andere einige zehntausend Personen an den größeren Protesten teilgenommen haben. Nach UNAMI haben 1.000 Personen am 01. Oktober teilgenommen und zwischen 29. Oktober und 4. November betrug die Zahl der Protestierenden in Bagdad geschätzt eine Million. Die Zahlen sanken im Feber/März, wonach nach Berichten nur hunderte teilnahmen. Am 17. März 2020 verkündete die Regierung eine nationale Ausgangssperre als Antwort auf die COVID-19-Pandemie und die Protestierenden kündigten eine teilweise Sistierung der Demonstrationen wegen der Krise an, obwohl nach einigen Berichten Sit-Ins auf manchen Plätzten, einschließlich des Tahir-Platzes in Bagdad fortgesetzt wurden. Anfang Mai und Anfang Juni fanden wieder Proteste mit hunderten Teilnehmern statt. Zusätzlich zu den Demonstrationen und Sit-Ins blockierten Protestierende in einigen Gebieten Brücken und Straßen, um die ökonomische Aktivität zu unterbinden, wobei ua der Hafen von Basra und die Anlagen zur Erdölförderung betroffen waren. Außerdem wurde von zahlreichen Attacken auf öffentliches und privates Eigentum während der Proteste berichtet, ua auf die iranischen Konsulate in Najaf und Kerbala.
Insgesamt wurden von ACLED zwischen 01.01.2019 und 31.07.2020 1.558 Ereignisse, die als Proteste oder Unruhen gekennzeichnet waren, im Irak (ohne Kurdistan) registriert, wobei am meisten das Gouvernement Basra betroffen war (329), gefolgt von Muthanna (226) und ThiQar (217). Die Hauptstadt Bagdad verzeichnete 130 Proteste. In großen Städten waren in Basra Stadt mit 199 Protesten die meisten zu verzeihcne, gefolgt von Diwaniyah mit 168 und Nassiriyah mit 167. Bagdad-Stadt verzeichnete 62 Proteste in diesem Zeitraum.
1.5.5. Allgemeine Menschenrechtslage:
Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft.
Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften.
Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten. Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohen sind, von zentral-irakischen und kurdischen Kräften willkürlich verhaftet wurden und nach wie vor als vermisst gelten. Sicherheitskräfte einschließlich PMFs haben Personen mit angeblichen IS-Beziehungen auch in Lagern inhaftiert und gewaltsam verschwinden lassen.
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt.
Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten.
Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet.
Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005.
1.5.6. Asa´ ib Ahl Al Haqq:
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch. Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF.
1.5.7. Situation sunnitische Araber in Bagdad:
Milizen in Bagdad werden von Sunniten häufig beschuldigt, Gewalt gegen sie auszuüben. Sunniten fürchten vor allem Opfer von Erpressung, Entführung oder Enteignung ihres Eigentums durch schiitische Milizen in Bagdad zu werden. Quellen berichteten, dass es schwierig sei die Verantwortung für derartige Angriffe bestimmten Tätern in Bagdad zuzuschreiben. Zudem bergen solche Schuldzuweisungen die Gefahr, sowohl für politische als auch für kriminelle Zwecke verwendet zu werden, um Ziele anzugreifen und einzuschüchtern. Die genaue Bestimmung der Akteure erweist sich deshalb als schwierig, da die Milizen selbst in einem hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt sind; Aufgrund der starken Verflechtung zwischen den Milizen und den kriminellen Banden sind eine exakte Unterscheidung zwischen den beiden und eine klare Zuordnung der Gründe für einen Angriff nicht immer möglich.
1.5.8. Grundversorgung und Wirtschaft:
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt.
Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig.
Wirtschaftslage:
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019. Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet.
Im zweiten Halbjahr 2019 berichtete die Weltbank über eine „umfassende“ Erholung der irakischen Wirtschaft infolge der steigenden Erdölförderung sowie der Verbesserungen in der Landwirtschaft und bei der Stromversorgung. Dem Bericht zufolge wuchs der Erdölsektor um schätzungsweise 4,4 %, und auch im Dienstleistungssektor waren Fortschritte zu beobachten. Weiter heißt es in dem Bericht, dass der Verbrauch im Jahr 2019 „zulegte“, während bei den „Gesamtinvestitionen“ aufgrund der „anhaltenden Einschränkungen bei der Verwaltung der öffentlichen Investitionen und des ungünstigen Geschäftsklimas“ kaum Fortschritte erzielt wurden. Dem Bericht zufolge nahm die Staatsverschuldung im Jahr 2019 aufgrund der steigenden inländischen Finanzierung zu.220 Dem Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) zufolge ist der Privatsektor im Irak schwach und die „Unternehmen sind überwiegend staatlich oder halbstaatlich“.
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat.
Im Bericht des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wurde erneut darauf hingewiesen, dass „die wirtschaftliche Lage im Irak durch die COVID-19-Pandemie und die sinkenden Erdölpreise erheblich beeinträchtigt wird“.
Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung.
Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen. Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an. Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen. Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an.
Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv.
Stromversorgung:
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste.
Wasserversorgung:
Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen.
Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist. Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich.
Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Die ländliche Bevölkerung hat dabei die größten Schwierigkeiten, Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen zu erhalten. Der Zugang zu Wasser hat sich seit 2010 verbessert. Allerdings sind viele Iraker weiterhin auf „informelle Brunnen, Wassertankwagen des Staates oder von NRO sowie unzuverlässige Wasserleitungssysteme“ angewiesen, während sich die Süßwasserreserven des Irak weiter erschöpfen. Berichten zufolge gibt es Engpässe bei der Wasserversorgung. Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten.
Nahrungsmittelversorgung:
Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019. Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk. 22,6% der Kinder sind unterernährt.
Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen. Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt.
Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken.
Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt.
Laut einem Bericht des WFP vom 30. April 2020 war im Irak die Tendenz zu beobachten, Lebensmittel für die Zeit der wegen der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangssperre zu horten, was Ende März zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise führte. Aufgrund der ergriffenen Preiskontrollmaßnahmen und der Verteilung von Grundnahrungsmitteln im Rahmen des PDS stabilisierten sich die Preise jedoch im April wieder. Allerdings stellte das WFP fest, dass „der Verfall der Weltölpreise erhebliche Einnahmeverluste der vom Erdöl abhängigen Volkswirtschaften wie des Irak“ zur Folge hatte, und warnte davor, dass die Netze der sozialen Sicherheit, wie beispielsweise das PDS, im Falle eines Fortdauerns dieser Situation möglicherweise nur schwer aufrechtzuerhalten wären. Die landesweite durchschnittliche Warenverfügbarkeit lag auf einer Skala von 10 bei 8,5, und die Lieferkettenresilienz der Geschäfte war landesweit sehr gut. Bezüglich der Lebensmittelpreise stellte das WFP fest, dass der Preis für Weizenmehl im Irak im Jahr 2019 um 21 % höher war als im Vorjahr. Der höchste Preisanstieg gegenüber dem Vorjahr war bei Eiern (28 %) zu beobachten, während bei Tomaten und Bohnen im April ein Preisanstieg gegenüber dem Vormonat um 24 % bzw. 15 % verzeichnet wurde.
Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist. Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt.
1.5.9. Medizinische Versorgung:
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen. Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. In seinem Bericht stellte der CRS unter Verweis auf die Weltbank fest, dass „der Irak über etwa 0,8 Ärzte und 1,3 Krankenhausbetten je 1 000 Einwohner verfügt (dies liegt unter dem weltweiten Durchschnitt von 1,5 bzw. 2,7). Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art. Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen.
Nach Angaben des WFP stellte der irakische Staat für alle Iraker „eine universelle Gesundheits- und Arzneimittelversorgung zu subventionierten Preisen“ bereit. Allerdings kam dem WFP zufolge weniger als ein Krankenhaus auf 100 000 Einwohner, wobei „in den Gouvernements Kirkuk, Dhi Qar, Ninawa, Maisan und al-Anbar eine noch geringere Krankenhaus- und Ärztedichte zu beobachten ist“. Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt. Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung. In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend. Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren.
Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen. Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind.
EASO vertritt die Ansicht, dass angesichts der medizinischen Versorgung im Irak, welche insbesondere im urbanen Raum sichergestellt ist, nicht jede Person mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung im Fall ihrer Rückkehr in den Irak automatisch dem Risiko ausgesetzt, einen ernsthaften Schaden im Sinne der Statusrichtlinie und somit einer Verletzung in ihren durch Art 3 EMRK geschützten Rechte zu erleiden. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen Schadens anhand der individuellen Umstände, wie z. B. Alter oder Art. der geistigen oder körperlichen Gesundheitsbeeinträchtigung im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen.
1.5.10. Rückkehrsituation:
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird.
Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak.
Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger. Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden. In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist.
Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung.
Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage. Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben.
Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen.
1.5.6. Zur COVID-19-Pandemie:
Mit Stand 08.07.2021 verzeichnete der Irak laut WHO 1.397.100 bestätigte COVID-19 Fälle, 8.777 Neuerkrankungen im Vergleich zum Vortag sowie 17.413 Todesfälle. Mit der Impfung der Bevölkerung wurde bereits begonnen und wurden 1.087.866 Impfdosen verabreicht.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in die Akten der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor dieser, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz des Beschwerdeführers, den vom Beschwerdeführern im Administrativverfahren vorgelegten Unterlagen sowie seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 08.06.2021 und den von ihm vorgelegten Unterlagen. Der Entscheidung wurden zudem das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zum Irak, das EASO Country Guidance: Iraq Common analsysis and guidance note vom Jänner 2021, der EASO Bericht Irak Sicherheitslage vom Oktober 2020, der EASO Bericht Iraq: Key socio-economic indicators for Baghdad, Basra und Erbil vom September 2020 sowie die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehender mit Stand Mai 2019 zu Grunde gelegt. Zusätzlich wurde Einsicht genommen in das Zentrale Melderegister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) das Betreuungsinformationssystem des Bundes über die Gewährleistung von vorübergehender Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftiger Fremde in Österreich (GVS), einen Auszug des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger (SVA) sowie das Strafregister der Republik Österreich.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Volljährigkeit, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache sowie zu seinem Familienstand gründen sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und bestätigte er in der mündlichen Verhandlung die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben. Die Identität des Beschwerdeführers ist durch eine sich im Verwaltungsakt befindliche Kopie seines irakischen Personalausweises belegt.
Die Feststellung zu seinem Gesundheitszustand, ergibt sich aus seinen Angaben vor der belangten Behörde. Zuletzt bestätigte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vom 08.06.2021, dass er gesund sei und keine Leiden habe. In Zusammenschau seines Gesundheitszustandes, seines Alters und seiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit leitet sich die Feststellung zu seiner Erwerbs- und Arbeitsfähigkeit ab.
Dass der Beschwerdeführer in Bagdad geboren wurde, er über eine mehrjährige Schulausbildung verfügt und er seinen Lebensunterhalt als Lebensmittelverkäufer, am Baugewerbe und als Polizist verdiente, ergibt sich ebenso wie seine Angaben zu seiner Familien- und Wohnsituation in seinem Herkunftsstaat aus seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben vor der belangten Behörde und aus den glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung. Seine und die finanzielle Situation seiner Familie im Herkunftsstaat beschrieb er vor der belangten Behörde als gut, er habe ein Gehalt von 1.300 USD bezogen und habe seine Familie normal gelebt. Auch in der mündlichen Verhandlung bestätigte der Beschwerdeführer auf die Frage, ob er sich durch seine beruflichen Tätigkeiten den Lebensunterhalt finanzieren habe könne, dass es so gegangen sei bzw. dass es ihnen gut gegangen sei. Zuletzt brachte er im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor, dass er mit seiner Familie regelmäßig telefonisch in Kontakt stehe, mit seinen Eltern beinahe täglich, mit seinen Brüdern rund einmal in der Woche.
2.3. Zum Aufenthalt in Österreich:
Die Einreise des Beschwerdeführers ist durch einen im Verwaltungsakt befindlichen Polizeibericht vom 04.12.2012 über den Aufgriff des Beschwerdeführers belegt und ergibt sich zudem aus dem Erstbefragungsprotokoll durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 05.12.2014. Sein seither bestehender durchgehender Aufenthalt im österreichischen Bundesgebiet ist durch seine Erfassung im ZMR belegt.
Dass dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 03.01.2017, Zl. 1047331407-140248113 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.01.2018 erteilt wurde, leitet sich ebenso wie die Feststellung, dass ihm mit Bescheid vom 02.01.2018, Zl. 104733147 – 140248113/BMI-BFA_STM_RD das befristete Aufenthaltsrecht bis zum 05.01.2020 verlängert wurde, aus dem vorliegenden Verwaltungsakt und den sich dort einliegenden Bescheiden der belangten Behörde ab.
Dass der Beschwerdeführer ledig ist und keine Sorgepflichten hat, bestätigte er zuletzt in seiner mündlichen Verhandlung vom 08.06.2021. Dabei brachte er auch glaubhaft vor, dass er seit Februar 2019 eine Beziehung zur tschechischen Staatsangehörigen Alena J. führe. Der gemeinsame Haushalt ergibt sich aus der Einsichtnahme in das ZMR. Das Vorhandensein von Verwandten im österreichischen Bundesgebiet verneinte der Beschwerdeführer bei der mündlichen Verhandlung. Die Feststellung, dass ein Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich vorhanden ist, begründet sich einerseits aus seiner Aufenthaltsdauer von rund siebeneinhalb Jahren und andererseits auch aus seinen dahingehend in der mündlichen Verhandlung getätigten Ausführungen betreffend seine Freizeitgestaltung. Aus den sich im Verwaltungsakt einliegenden, den bei seiner mündlichen Verhandlung vorgelegten integrationsbezeugenden Dokumenten sowie dem in der mündlichen Verhandlung gewonnene persönlichen Eindruck des erkennenden Richters resultieren die Feststellungen zur integrativen Verfestigung des Beschwerdeführers in sprachlicher, sozialer und beruflicher Hinsicht.
Aus der Einsichtnahme in einen aktuellen Auszug der SVA geht hervor, dass der Beschwerdeführer von 03.12.2018 bis 01.03.2019 bei der G. GmbH beschäftigt war und sich seit 13.03.2019 in einem aufrechten Beschäftigungsverhältnis zur W. GmbH befindet. Dahingehend legte der Beschwerdeführer ergänzend auch ein Konvolut an Lohnabrechnungen von Jänner 2018 bis April 2021, den entsprechenden Dienstvertrag mit der P. GmbH vom Dezember 2018 und den Dienstzettel der W. GmbH vom Mai 2019 vor. Dass der Beschwerdeführer seit seiner Beschäftigung im Dezember 2018 keine Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergibt sich aus der Einsichtnahme in das GVS des Bundes und einer sich im Verwaltungsakt einliegenden Abmeldung aus der Grundversorgung. Seine beinahe durchgehende Beschäftigung und seine Lohnzettel belegen seine Selbsterhaltungsfähigkeit.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit ist durch einen aktuellen Strafregisterauszug belegt.
2.4. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer begründete sein Fluchtmotiv zusammengefasst damit, dass er als Polizist für das irakische Innenministerium tätig gewesen sei und in seinen Aufgabenbereich unter anderem die Verantwortung und die Betreuung eines Waffenlagers gefallen sei. Eines Tages habe ihm ein Major [Anm. im Administrativverfahren als „General“ bzw. „falscher General“ und in der mündlichen Verhandlung als „Offizier“ bezeichnet] ein illegales Angebot unterbreitet. Dabei hätten defekte Waffen mit funktionierenden Waffen aus dem Waffenlager ausgetauscht und im Anschluss daran das Waffenlager niedergebrannt werden sollen. Der Beschwerdeführer habe jedoch Angst gehabt bei diesem Vorschlag mitzumachen und sich Bedenkzeit erbeten. Dem Beschwerdeführer sei in weiterer Folge der Gedanke gekommen, dass es sich bei diesem Vorschlag um eine Prüfung betreffend seine Loyalität und Bestechlichkeit handeln könnte und habe er diesen Vorfall einem ranghöheren General [Anm. im Administrativverfahren als „Vorgesetzer des Generals“ bzw. „echter General“ und in der mündlichen Verhandlung als „General“ bezeichnet] gemeldet. Der General habe diesen Vorfall mit dem Major besprochen, woraufhin ihn der Major zur Rede gestellt habe und das Gespräch dabei eskaliert sei. Der Beschwerdeführer sei daraufhin erneut zum General gegangen und sei die Versetzung des Beschwerdeführers beschlossen worden. Der Beschwerdeführer habe in weiterer Folge seinen Schlüssel für das Waffenlager abgegeben und sein Kollege habe die weitere Schicht übernommen. Nachdem der Beschwerdeführer befürchtete, dass er einer weiteren Gefährdung durch den Major ausgesetzt sei, habe er sich an dem Vorfallstag von seinem Bruder mit dem Auto von der Polizeistation abholen lassen, dabei sei der Beschwerdeführer vom Major nochmals mit dem Tod bedroht worden. Auf dem Nachhauseweg seien sein Bruder und er von zwei schwarzen Fahrzeugen, die er der Miliz Asa´ib Ahl Al Haqq zuordne, verfolgt worden. Die Verfolger haben ihnen aufgeblendet und danach das Feuer auf das Fahrzeug in dem der Beschwerdeführer und sein Bruder saßen, eröffnet. Der Beschwerdeführer und sein Bruder seien den Verfolgern entkommen. Nachdem der Beschwerdeführer befürchtet habe, dass sie die Verfolger zu Hause aufsuchen werden, seien sie zur Wohnung eines weiteren Bruders in einem anderen Stadtteil Bagdads gefahren. Unterweges habe der Beschwerdeführer seine Eltern angerufen und sie gebeten, dass sie mit seinen Dokumenten und Geld zur Wohnung des weiteren Bruders kommen sollen. Dort sei beschlossen werden, dass der Beschwerdeführer den Irak verlassen müsse.
Die Feststellung, dass der Beschwerde