TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/12 I405 1407258-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.05.2021
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Entscheidungsdatum

12.05.2021

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
IntG §9
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I405 1407258-3/8E

Schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gregor KLAMMER, Jordangasse 7/4, 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.04.2021 zu Recht:

A) I. Der Beschwerde wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

II. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) stellte am 15.05.2009 im österreichischen Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Mit Bescheid vom 25.05.2009, Zl. 09 05.778-BAT, hat das Bundesasylamt den Antrag der BF auf internationalen Schutz vom 15.05.2009 gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen, ihren Antrag hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Heimatstaat Nigeria gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. ebenfalls abgewiesen und diese Entscheidung gem. § 10 Abs. 1 Z 2 leg. cit. mit einer Ausweisung nach Nigeria verbunden.

3.       Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 11.11.2009, Zl. A13 407.258-1/2009/5E, als unbegründet abgewiesen.

4.       In der Folge war die BF vom 11.02.2010 bis 11.12.2015 behördlich nicht gemeldet. Sie weist erst seit 07.09.2017 eine durchgehende Meldung im Bundesgebiet auf.

5.       Am 15.11.2017 stellte die BF den gegenständlichen Antrag auf einen humanitären Aufenthaltstitel gemäß § 55 Abs. 1 AsylG.

6.       Die BF wurde am 07.02.2019 einer niederschriftlichen Befragung unterzogen und zu ihrem Privat- und Familienleben befragt.

7.       Mit angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) wurde der Antrag der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK vom 15.11.2017 gemäß § 55 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.) Gemäß § 10 Absatz 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt II.). Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Absatz 4 FPG wird eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 18 Absatz 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz, BGBI I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung aberkannt (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 2 Ziffer 6, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wird gegen die BF ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).

8.       Dagegen wurde fristgerecht am 11.06.2019 von der Vertretung der BF Beschwerde erhoben.

9.       Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 17.09.2019 vorgelegt.

10.      Das Bundesverwaltungsgericht führte am 28.04.2021 in Anwesenheit der BF und einer Dolmetscherin für die Sprache Englisch eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde der BF über ihre privaten und persönlichen Verhältnisse einvernommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

Die volljährige BF ist ledig, Staatsangehörige von Nigeria und christlichen Glaubens. Sie gehört der Volksgruppe Esan an. Sie ist somit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 20b Asylgesetz.

Die Identität der BF steht fest.

Die BF ist gesund und befindet sich in einem arbeitsfähigen Alter. Sie leidet an keiner behandlungs- bzw. therapiebedürftigen Erkrankung.

Die BF reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 15.05.2009 einen Asylantrag, der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 11.11.2009 rechtskräftig abgewiesen wurde.

Sie verfügte zwischen 2010 und 2015 über keine aufrechte Meldeadresse im Bundesgebiet. Sie verfügt seit 07.09.2017 über eine durchgehende Meldung im Bundesgebiet.

Die BF hat keine Familienangehörigen oder sonstigen Verwandten in Österreich. Sie führt jedoch eine Beziehung zu einem in Österreich aufenthaltsberechtigten nigerianischen Staatsangehörigen, ein gemeinsamer Haushalt liegt jedoch nicht vor.

Die BF hat mehrere Sprachkurse besucht und die Deutschprüfung A2 erfolgreich absolviert. Derzeit ist sie bemüht, die B1 Deutschprüfung abzulegen, ihr erster Versuch am 20.03.2021 blieb erfolglos. Sie hat sich für die Integrationsprüfung ÖIF erneut angemeldet.

Die BF verkauft eine Straßenzeitung, wodurch sie etwa € 1.000,- monatlich ins Verdienen bringt. Daneben betreut sie ein Kleinkind, wofür sie wiederum € 100,- monatlich verdient. Des Weiteren verfügt sie über eine Einstellungszusage im Ausmaß von 20 Wochenstunden.

Die BF ist Mitglied in einer afrikanischen Glaubensgemeinschaft, an deren Aktivitäten sie sich beteiligt.

Die BF ist strafrechtlich unbescholten.

2. Beweiswürdigung:

Die erkennende Einzelrichterin des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

2.1. Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

2.2. Zur Person der BF:

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität und zur Staatsangehörigkeit der BF getroffen wurden, beruhen diese auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen in der gegenständlichen Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.

Die Feststellungen zur Identität ergeben sich aus der vorgelegten Geburtsurkunde und dem Schreiben der nigerianischen Botschaft.

Die Angaben zum Asylverfahren und zum aufenthaltsrechtlichen Status ergeben sich aus den Verwaltungs- und Gerichtsakten.

Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen, dem Gesundheitszustand und den Lebensumständen der BF gründen sich auf ihre diesbezüglich glaubhaften Angaben im vorangegangenen Asylverfahren, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde, in den vorgelegten Unterlagen und in der Beschwerdeverhandlung.

Die Feststellungen zu fehlenden familiären oder verwandtschaftlichen Bezügen der BF in Österreich, zu ihrer Beziehung zu einem aufenthaltsberechtigten nigerianischen Staatsangehörigen ergeben sich aus den Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Die Deutschkenntnisse der BF ergeben sich aufgrund des vorgelegten ÖSD-Zertifikats für A2 vom 24.10.2017, des Prüfungsergebnisses des ÖIF vom 09.04.2021, der Anmeldebestätigung des BFI vom 26.04.2021 sowie aufgrund des persönlichen Eindrucks der erkennenden Richterin.

Die Feststellungen zum Verkauf einer Straßenzeitung ergibt sich aus der Schreiben der ARGE für Obdachlose vom 07.04.2021, zur Kinderbetreuungstätigkeit aus der Bestätigung von O.S. vom 21.04.2021, zur Einstellungszusage aus dem Schreiben von M.M. vom 21.04.2021.

Die Mitgliedschaft der BF in einer afrikanischen Glaubensgemeinschaft ergibt sich aus deren Bestätigung vom 19.04.2021.

Die Feststellung bezüglich der strafgerichtlichen Unbescholtenheit entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes durch Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 2 Abs 4 Z 1 FPG gilt als Fremder, wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt. Gemäß § 2 Abs 4 Z 10 FPG gilt ein Fremder, der nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger ist, als Drittstaatsangehöriger.

Der BF als Staatsangehöriger von Bosnien ist Drittstaatsangehöriger und folglich Fremder iSd. soeben angeführten Bestimmung.

A) Zu Stattgabe der Beschwerde

3.1.    Rechtslage

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Ziffer 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird (Ziffer 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs 1 Z 1 vor, ist gemäß § 55 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Entsprechend § 58 Abs 13 AsylG begründen Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten.

Gemäß Art 8 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs (Abs 1). Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (Abs 2).

Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ titulierte § 9 BFA-VG lautet:

§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

[…]

3.2.    Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Es gilt nun zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG einen zulässigen Eingriff in das Recht der BF auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt (Art 8 Abs 1 und 2 EMRK).

Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VfSlg. 18.224/2007, 18.135/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8.3.2008, Nnyanzi v. The United Kingdom, Appl. 21.878/06; 04.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Bei der Beurteilung der Rechtskonformität von behördlichen Eingriffen ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR, des Verfassungs- und des Verwaltungsgerichtshofes auf die besonderen Umstände des Einzelfalls einzugehen. Die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme ist (nur) dann gegeben, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Betroffenen auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens im Inland einerseits und dem staatlichen Interesse an der Wahrung der öffentlichen Ordnung andererseits gefunden wird. Der Ermessensspielraum der zuständigen Behörde und die damit verbundene Verpflichtung, allenfalls von einer Aufenthaltsbeendigung Abstand zu nehmen, variiert nach den Umständen des Einzelfalls.

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen und ist diese Rechtsprechung zu Art 8 MRK auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. VwGH 15.01.2020, Ra 2017/22/0047 mit Hinweis auf VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Im gegenständlichen Verfahren befindet sich die BF seit zwölf Jahren im Bundesgebiet, auch wenn sie zwischen 2010 und 2015 behördlich nicht gemeldet war und erst seit 07.09.2017 eine durchgehende Meldung im Bundesgebiet aufweist, war sie jedoch im Bundesgebiet, wie dies auch von der belangten Behörde nicht bestritten wurde.

Unstrittig verfügte die BF nach Abschluss ihres Asylverfahrens im Jahr 2009 über keinen Aufenthaltstitel und war damit ihr Aufenthalt im Bundesgebiet als unrechtmäßig anzusehen, womit auch ein Verstoß gegen das Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts einhergeht. Allerdings kommt diesem Umstand im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zu.

Entsprechend der oben dargestellten ständigen Judikatur des VwGH ist jedoch bei einer derart langen Aufenthaltsdauer regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Dass die BF ihren bisherigen, mehr als zehn Jahre dauernden Aufenthalt überhaupt nicht genutzt hat, um sich sprachlich und beruflich zu integrieren, kann im gegenständlichen Fall auch nicht gesagt werden. So ist mit der BF ein einfacher Austausch in Deutsch möglich und hat sie auch mehrere Sprachkurse besucht und qualifizierte Sprachprüfungen abgelegt und ist weiterhin bemüht, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, etwa durch den Besuch eines B1-Kurses.

Auch ist sie um eine berufliche Integration bemüht und kann sie aus Eigenem ihren Lebensunterhalt erwirtschaften. So verkauft sie eine Straßenzeitung, wodurch sie etwa € 1.000,- monatlich ins Verdienen bringt. Daneben betreut sie ein Kleinkind, wofür sie wiederum € 100,- monatlich verdient. Des Weiteren verfügt sie über eine Einstellungszusage im Ausmaß von 20 Wochenstunden, wodurch ihre eine weitergehende Integration am Arbeitsmarkt möglich sein wird.

Des Weiteren weist sie eine Mitgliedschaft in einem afrikanischen Verein und auch freundschaftliche Kontakte auf, die ihr Bemühen um sozial bzw. gesellschaftliche Integration erkennen lassen, wie dies aus den vorgelegten Unterlagen und den Angaben der BF hervorgeht.

Zu berücksichtigen ist auch die Beziehung der BF zu einem nigerianischen Staatsangehörigen, er im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt ist, auch wenn mit diesem kein gemeinsamer Haushalt vorliegt.

Obgleich dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts und an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Art 8 Abs 2 EMRK erfassten Interesses – ein hoher Stellenwert zukommt (vgl zB VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086), überwiegt gegenständlich ob der obigen Ausführungen in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände das private Interesse der BF an der – nicht nur vorübergehenden – Fortführung seines Privat- und Familienlebens in Österreich das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme. Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen einer Interessensabwägung gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG festzustellen, dass eine Rückkehrentscheidung zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das erkennende Gericht auf Dauer unzulässig ist.

3.3.    Zum Aufenthaltstitel

Gemäß § 58 Abs 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Entsprechend § 54 Abs 1 AsylG werden Drittstaatsangehörigen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt als:

1.       „Aufenthaltsberechtigung plus“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt,

2.       „Aufenthaltsberechtigung“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt,

3.       „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß § 54 Abs 2 AsylG sind Aufenthaltstitel gemäß Abs 1 sind für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Nach § 55 Abs 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

Da die BF im vorliegenden Fall über ein Sprachzertifikat A2 und somit über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt, erfüllt sie das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG, weshalb ihr eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 und Z 2 AsylG 2005 zu erteilen ist. Der Aufenthaltstitel ist gemäß § 54 Abs. 2 Z 2 AsylG auf eine Dauer von 12 Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen und ist nicht verlängerbar. Das Bundesamt hat diesen Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG auszufolgen.

4.       Zur Aufhebung der Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides:

Da der BF gem. § 55 Abs 1 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen war, waren in Erledigung der Beschwerde die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK befristete Aufenthaltsberechtigung Deutschkenntnisse ersatzlose Teilbehebung Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Kassation mündliche Verhandlung mündliche Verkündung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Rückkehrentscheidung behoben schriftliche Ausfertigung Spruchpunktbehebung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I405.1407258.3.00

Im RIS seit

22.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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