TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/12 W189 2177586-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.06.2021
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Entscheidungsdatum

12.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs7
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §52
FPG §55 Abs2
IntG §10
IntG §9 Abs4 Z1
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W189 2177586-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, vertreten durch RA Dr. Gregor KLAMMER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 9 BFA-VG wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, und gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 9 und § 10 IntG wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein ukrainischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler, schlepperunterstützter Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt (AS 1 ff). Zu seinem Ausreisegrund gab er an, dass er wegen des Krieges und weil es keine Sicherheit mehr in der Ukraine gebe, sein Heimatland verlassen habe. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.

2. Das Landesgericht XXXX verurteilte den BF am XXXX zur Zl. XXXX wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB, wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 Z 1, 27 Abs. 2 SMG unter Setzung einer dreijährigen Probezeit zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten.

3. Am XXXX wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen (AS 227 ff). Zu seinem Fluchtgrund gab er in freier Erzählung im Wesentlichen an, dass „es“ geschehen sei, als der Krieg begonnen habe. Es sei zu Bombardierungen gekommen. Dann habe die Mobilmachung begonnen. Der BF sei der Mobilmachung unterlegen, weil er während seiner Wehrdienstzeit bei den Truppen des Innenministeriums gedient habe. Er sei ein normaler Mensch, er habe nicht Menschen töten und auf die Russen schießen wollen. Er habe die Folgen des Krieges und das, was dort alles geschehen sei, gesehen. Er hätte aber den ukrainischen Behörden wohl schlecht mitteilen können, dass er den Kriegsdienst verweigere, da sie ihn sonst eingesperrt hätten. Es habe für den BF daher nur zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder in den Krieg zu ziehen oder ins Gefängnis zu gehen. So sei er gezwungen gewesen, die Ukraine zu verlassen.

4. Am XXXX brachte der BF eine als „Ergänzendes Vorbringen“ betitelte Stellungnahme zur Lage in der Ukraine ein (AS 257 ff).

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.) (AS 269 ff).

6. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der BF durch seinen Rechtsvertreter binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde und machte nach Wiederholung des Sachverhaltes im Wesentlichen geltend, dass er von einer Einberufung betroffen sei und die Bestrafung der Wehrdienstverweigerung unverhältnismäßig sei (AS 377 ff).

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer geeigneten Dolmetscherin der russischen Sprache durch, an welcher der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA blieb der Verhandlung entschuldigt fern. Der BF wurde ausführlich zu seiner Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde ihm Gelegenheit gegeben, die Fluchtgründe umfassend darzulegen, sich zu seinen Rückkehrbefürchtungen und der Integration im Bundesgebiet zu äußern, sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten und ihm mit der Ladung zugestellten Länderberichten Stellung zu nehmen (OZ 7Z). Im Rahmen der Verhandlung legte der BF einen Dienstleistungsscheck in Höhe von EUR 50,- vom XXXX , eine Bestätigung der XXXX GmbH vom XXXX über die Einstellung des BF als Hilfsarbeiter im Falle der Erteilung eines positiven Asylbescheides, zwei Empfehlungsschreiben vom XXXX und XXXX (Beilage ./1) und einen Strafantrag der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX , wonach dem BF zur Last gelegt werde, das Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1, Abs. 2 SMG begangen zu haben (Beilage ./2), vor.

13. Mit Schriftsatz vom XXXX legte der BF eine Bestätigung über die Ablegung der Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 am Vortag sowie zwei weitere Empfehlungsschreiben vom XXXX vor (OZ 8).

14. Mit Schriftsatz vom XXXX legte der BF das Zeugnis über die bestandene Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 vor (OZ 9).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des BF

Die Identität des BF steht nicht fest.

Der BF ist ukrainischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Ukrainer und der Religionsgemeinschaft der orthodoxen Christen an. Der BF ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Russisch und Ukrainisch. Er hat XXXX Jahre die Mittelschule sowie XXXX Jahre eine Berufsschule besucht und die Ausbildung zum XXXX abgeschlossen. Er war in der Ukraine zuletzt als XXXX erwerbstätig und konnte dadurch seinen Lebensunterhalt bestreiten.

Der BF ist in XXXX , Donezk Oblast, geboren und aufgewachsen. Es kann nicht festgestellt werden, wann der BF erstmals in das Bundesgebiet einreiste, jedoch lebte der BF spätestens seit XXXX illegal in Österreich. Der BF ist im Jahr XXXX nicht in der Ukraine gewesen. Am XXXX versuchte der BF, mit einem gefälschten Ausweis von Österreich über Tschechien in Deutschland einzureisen und wurde an der Grenze zurückgewiesen. Am XXXX wiesen die tschechischen Behörden den BF nach Österreich zurück, wo er am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der Vater des BF ist verstorben und er hat keine Geschwister. Seine Mutter lebt bei ihrer Schwester in Russland, wo der BF weitere Onkeln und Tanten hat. Der BF hat Kontakt zu seiner Mutter. Er hat keine Angehörigen in der Ukraine und keinen Kontakt dorthin. Er verfügt in der Ukraine über keinen Besitz.

Der BF ist gesund, ledig und kinderlos. Er war früher mit Drogen in Kontakt, hat aber vor etwa XXXX Jahren eine Substitol-Therapie abgeschlossen.

Das Landesgericht XXXX verurteilte den BF am XXXX zur Zl. XXXX wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB, wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 Z 1, 27 Abs. 2 SMG unter Setzung einer dreijährigen Probezeit zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des BF

Der BF wurde in der Ukraine nicht zum Wehrdienst einberufen. Es besteht im Falle einer Rückkehr keine asylrelevante Bedrohungslage.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine

1.3.1. Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

1.3.2. Sicherheitslage in der Ostukraine

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).

In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs-und Religionsfreiheit, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justizund das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zuwahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hartund teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung.Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).

Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede-und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh-und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).

Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom-und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).

Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).

Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).

Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).

Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle umfasst 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).

Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        FH – Freedom House (2020): Freedom in the World Index 2020, Eastern Donbas

?        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine

?        KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1

?        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

?        PCU – Protection Cluster Ukraine (3.2019): Mine Action in Ukraine

?        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (16.4.2020): Ukraine, Russia-Backed Separatists Hold Another Prisoner Swap

?        TMT – The Moscow Times (3.1.2020): Kyiv Post: Moscow Says it Issued Nearly 200,000 Russian Passports in Ukraine’s Donbass

?        UN –United Nations (1.2020): UKRAINE, At a glance: 2020 Humanitarian Needs Overview

?        USDOS –US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 -Ukraine

?        USDOS –US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 -Ukraine

1.3.3. Wehrdienst und Rekrutierungen

Die Wehrpflichtigen in der Ukraine werden folgendermaßen unterteilt: Stellungspflichtige (Pre-conscripts); Wehrpflichtige (Conscripts); aktive Soldaten; zum Wehrdienst verpflichtete Personen (persons liablefor military service) –sie haben bereits den Grundwehrdienst geleitet und können nötigenfalls wieder temporär mobilisiert werden; Reservisten –zum Wehrdienst verpflichtete Personen, die freiwillig regelmäßige Waffenübungen absolvieren (BFA/OFPRA 5.2017).

Die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes besteht für Männer im Alter zwischen 20 und 27 Jahren. Er dauert grundsätzlich eineinhalb Jahre, für Wehrpflichtige mit Hochschulqualifikation (Magister) 12 Monate. Am 1. Mai 2014 wurde die früher beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht widerrufen. Danach erfolgten insgesamt sechs Mobilisierungswellen, die hauptsächlich Reservisten, aber auch Grundwehrdienstleistende (letztere zu einer sechsmonatigen Ausbildung) erfassten. Merkmale wie Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung spielen bei der Heranziehung keine Rolle. Wehrpflichtige werden nur auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des Ministerkabinetts und in festgelegten Zeiträumen und Anzahl einberufen. So gab es 2018 zwei Einberufungszeiträume, April/Mai und Oktober/Dezember, in denen insgesamt 18.000 Wehrpflichtige einberufen wurden. Davon haben ca. 9.000 Soldaten ihren Wehrdienst in den Streitkräften abgeleistet. Wehrpflichtige wurden nur bis Mitte November 2016 und ausschließlich auf freiwilliger Basis nach der sechsmonatigen Grundausbildung in der Ostukraine eingesetzt; seither geschieht dies nicht mehr. Richter, Vollzeitstudenten, Post-Graduate-Studenten, Priester, Väter mit drei und mehr minderjährigen Kindern, Parlamentsabgeordnete und Straftäter sind freigestellt. Wehrpflichtige müssen einen Wohnortwechsel binnen einer Woche anzeigen. Sollte künftig eine Vollmobilisierung erfolgen, wäre ein Wohnortwechsel durch die Wehrüberwachungsbehörde vorab zu genehmigen. Klagen von Vertretern der ungarischen und rumänischen Minderheit, diese Gruppen würden überproportional zum Wehrdienst herangezogen, sind mittlerweile entkräftet und werden nicht mehr wiederholt (AA 29.2.2020).

In Übereinstimmung mit dem im Juni 2016 durch den Staatspräsidenten erlassenen „Strategischen Verteidigungs-Bulletin“ sollten die Streitkräfte bis 2020 um mehr als ein Drittel (66.000) auf 250.000 aufwachsen (204.000 Soldaten und 46.000 Zivilangestellte). Derzeit sollen ca. 95% des Personalsolls erreicht worden sein. Diese Zahl beinhaltet 55.000 Frauen, davon sind 27.000 Soldatinnen. Zum jetzigen Zeitpunkt sollen mehr als 130.000 Verpflichtungsverträge unterzeichnet worden sein (AA 29.2.2020).

Binnenvertriebene (IDPs) sind grundsätzlich wehrpflichtig, sie stellen für das Verteidigungsministerium aber keine Priorität dar, nicht zuletzt wegen etwaiger Sicherheitsbedenken (Gegenspionage) (BFA/OFPRA 5.2017).

An den Wehrpflichtigen ergeht in der Praxis ein Einberufungsbescheid des regional zuständigen Militärkommissariats postalisch oder durch persönliche Zustellung (BFA/OFPRA 5.2017). Gesetzlich vorgesehen ist eigentlich eine persönliche Zustellung, weswegen postalisch zugestellte Bescheide Quellen zufolge ungültig seien (Lifos 15.7.2016).

Frauen mit militärisch nutzbaren Spezialkenntnissen und körperlicher Eignung (und geeigneter familiärer Situation) gelten ebenso als zum Wehrdienst verpflichtete Personen. Im Kriegsfall können sie einberufen werden. In Friedenszeiten können sie freiwillig aktiven oder Reservedienst leisten (BFA/OFPRA 5.2017).

Quellen:

?        AA –Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        BFA/OFPRA –Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

?        Lifos -Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet (schwedische Herkunftslandinformationseinheit) (15.7.2016): Temarapport: Ukraina. Militärtjänstgöring, mobilisering och desertering

1.3.4. Wehrdienstverweigerung / Desertion

Wenn eine Person ordnungsgemäß von der Einberufung informiert wurde, ihr aber nicht folgt, kann dies gemäß Art. 210 mit einem Bußgeld bestraft werden und es folgt eine zweiter Einberufungsbefehl. Wird diesem wieder nicht gefolgt, kann wieder gemäß Art. 210 ein Bußgeld verhängt werden. Folgt die Person dem Befehl immer noch nicht, wird der Fall wegen des Verdachts der Wehrdienstverweigerung der Polizei übergeben (Lifos 15.7.2016; vgl. BFA/OFPRA 5.2017).

Die Entziehung vom Wehrdienst wird nach Art. 335 Strafgesetzbuch (StGB) mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Eine Entziehung von der Mobilisierung kann gemäß Art. 336 StGB mit bis zu fünf Jahren bestraftwerden. Für Entziehung von der Wehrerfassung sieht Art. 337 eine Geldstrafe bis zu 50 Mindestmonatslöhnen oder Besserungsarbeit bis zu zwei Jahren oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vor. Für Entziehung von einer Wehrübung ist eine Geldstrafe bis zu 70 Mindestmonatslöhnen oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vorgesehen (AA 29.2.2020). Desertion ist gemäß Art. 408 des ukrainischen Strafgesetzbuches mit Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren strafbar. Wenn sie organisiert in einer Gruppe oder mit Waffe erfolgt, liegt das Strafmaß bei fünf bis zehn Jahren. Wenn die Desertion unter der Geltung von Kriegsrecht oder im Gefecht erfolgt, liegt das Strafmaß bei fünf bis zwölf Jahren. Es gibt eigene Strafen für Soldaten im Falle von Selbstverstümmelung oder anderen Formen sich dem Dienst zu entziehen, die in Art. 409 beschrieben sind (BFA/OFPRA 5.2017).

Grundsätzlich ist es möglich, dass Ukrainer bei Rückkehr aus dem Ausland strafverfolgt werden, weil sie sich der Mobilisierung entzogen haben, da diese Personen in ein Einheitliches Staatsregister der Personen, die sich der Mobilisierung entziehen, eingetragen wurden. Zugriff auf dieses Register haben der ukrainische Generalstab und das Innenministerium. In der Praxis gibt es trotz zahlreicher Fahndungen jedoch nur wenige Anklagen und kaum Verurteilungen (VB 21.3.2017). Die Verantwortung für das „Meiden der Einberufung“ bei der Mobilisierung kann jedoch nur entstehen, wenn die Person in entsprechender Weise darüber informiert wurde, bzw. die Ladung bewusst abgelehnt wurde (VB 7.9.2018).

Quellen:

?        AA –Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        BFA/OFPRA –Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

?        Lifos -Center förlandinformation och landanalys inom migrationsområdet (schwedische Herkunftslandinformationseinheit) (15.7.2016): Temarapport: Ukraina. Militärtjänstgöring, mobilisering och desertering

?        VB des BM.I für Ukraine (21.3.2017): Bericht des VB, per E-Mail

?        VB des BM.I für Ukraine (07.09.2018): Auskunft des VB, per E-Mail

1.3.5. Allgemeine Menschenrechtslage

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

1.3.6. Bewegungsfreiheit

In Gebieten unter Regierungskontrolle ist die Bewegungsfreiheit im Allgemeinen nicht eingeschränkt. Das komplizierte ukrainische System, das von Einzelpersonen verlangt, dass sie sich rechtmäßig an einer Adresse registrieren lassen müssen, um wählen und bestimmte Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, stellt jedoch ein Hindernis für die volle Bewegungsfreiheit dar, insbesondere für Vertriebene und Personen ohne offizielle Adresse, wo sie für offizielle Zwecke registriert werden könnten (FH 4.3.2020).

Verfassung und Gesetz gewähren den Bürgern Bewegungsfreiheit im Inland, Auslandsreisen, Auswanderung und Rückkehr. Die Regierung schränkt diese Rechte jedoch ein, insbesondere im östlichen Teil des Landes in der Nähe der Konfliktzone. Die Regierung und die von Russland geführten Kräfte kontrollieren die Bewegungen zwischen den von der Regierung kontrollierten Gebieten und den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten in der Region Donbas streng. Das Überschreiten der Kontaktlinie ist weiterhin mühsam. Am 17. Juli 2019 verabschiedete die Regierung neue Bestimmungen, die den Menschen mehr Flexibilität beim Transport von Gegenständen über die Kontaktlinie bieten sollten. Der öffentliche Personentransport über die Grenze bleibt verboten; private Beförderungsmittel sind zu hohen Preisen verfügbar und für die Mehrheit der Reisenden im Allgemeinen unbezahlbar. Obwohl es fünf Grenzübergänge gibt, waren während eines Großteils des Jahres 2019 nur vier in Betrieb. Nach Angaben des HRMMU überquerten zwischen Mai und August 2019 täglich durchschnittlich 39.000 Personen die Kontaktlinie. Das Pass-System, welches die ukrainische Regierung für den Übertritt vorsieht, bringt erhebliche Härten für Personen mit sich, die in das von der Regierung kontrollierte Gebiet einreisen, besonders für diejenigen, die Renten und staatliche Leistungen erhalten wollen (USDOS 11.3.2020). Rentner mit eingeschränkter Mobilität aufgrund von Krankheit, Behinderung oder fortschreitendem Alter, die in nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine leben, sehen sich überwältigenden Schwierigkeiten beim Zugang zu ihren Renten gegenüber oder erhalten diese überhaupt nicht (HRW 24.1.2020). Die Regierung versuchte, das Pass-System zu reformieren, und führte ein Online-Antragsverfahren zur Kontrolle der Einreise in das von der Regierung kontrollierte Gebiet ein, wobei die Maßnahme jedoch wenig Verbesserung brachte. Viele Personen in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten haben keinen Zugang zum Internet, um solche Pässe zu erhalten (USDOS 11.3.2020).

Die Ausreisefreiheit wird (vorbehaltlich gesetzlicher Einschränkungen) von der Verfassung garantiert. Ausreisewillige ukrainische Staatsangehörige müssen über einen Reisepass verfügen, der auf Antrag und gegen Gebühr ausgestellt wird. Bei Ausreise zur ständigen Wohnsitznahme im Ausland ist zudem zuvor ein gebührenpflichtiger Sichtvermerk des Staatlichen Migrationsdienstes einzuholen und dem Zoll eine Bestätigung des zuständigen Finanzamts vorzulegen, dass sämtliche steuerlichen Verpflichtungen erfüllt wurden. Weitergehende Verpflichtungen sind seit 1. Oktober 2016 entfallen. Die ukrainischen Grenzschutzbehörden kontrollieren an der Grenze, ob ein gültiger Reisepass und gegebenenfalls ein Visum des Ziellandes vorliegen, der Ausreisende in der Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben ist oder andere Ausreisehindernisse bestehen. Ausgereist wird vornehmlich auf dem Landweg. Derzeit liegen keine Erkenntnisse vor, dass bei männlichen Reisenden an der Grenze der Status ihrer Wehrpflicht überprüft wird (AA 29.2.2020).

Die von Russland geführten Kräfte behindern weiterhin die Bewegungsfreiheit im östlichen Teil des Landes. An der Grenze zwischen der russisch besetzten Krim und dem Festland gibt es strenge Passkontrollen. Es gibt keinen Eisenbahn- und kommerziellen Busverkehr über die Verwaltungsgrenze; Menschen müssen die Verwaltungsgrenze entweder zu Fuß oder mit einem Privatfahrzeug überqueren (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

?        HRW – Human Rights Watch (24.1.2020): Ukraine: People with Limited Mobility Can’t Access Pensions

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

1.3.7. IDPs und Flüchtlinge

Die Zahl der vom ukrainischen Sozialministerium registrierten Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons, IDPs) lag am 2. Dezember 2019 bei 1.427.211 Personen; die tatsächliche Zahl der dauerhaft vertriebenen IDPs dürfte nach UN-Schätzungen bei ca. 800.000 liegen. Diese Personen erhalten bisher nur durch die Registrierung als IDPs Zugang zu Sozial- und Rentenleistungen. Nach Angaben von UNHCR halten sich darüber hinaus ca. 1,55 Millionen Ukrainer in Nachbarländern, v.a. in Russland und Belarus, auf (Asyl und andere legale Formen des Aufenthalts) (AA 29.2.2020). Schätzungen zufolge stammen rund 60% der IDPs aus von Separatisten kontrollierten Gebieten im Kreis Donezk, 37% aus von Separatisten kontrollierten Gebieten im Kreis Lugansk und 3% von der Krim (Landinfo 16.4.2020).

Binnenvertreibung ist nach wie vor ein Problem. Auf der einen Seite gab es 2018 aufgrund von Kampfhandlungen, oder weil das Militär Häuser beschlagnahmte, ca. 12.000 zusätzliche IDPs. Auf der anderen Seite mussten zahlreiche ältere bzw. ärmere Personen in gefährdete Gebiete zurückkehren. 2018 konnten rund 12.000 IDPs ihre Situation in irgend einer Weise zumindest partiell verbessern, etwa durch Heimkehr oder lokale Integration (IDMC 5.2019). Stand 31. Dezember 2019 gab es insgesamt 730.000 IDPs in der Ukraine. Im Jahr 2019 wurden 60 neue Vertreibungen verzeichnet (IDMC 2020).

Die Regierung arbeitet mit UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Binnenvertriebenen Schutz und Unterstützung zu bieten. Nur registrierte IDPs bekommen Unterstützungsleistungen vom Staat. Die meisten IDPs leben in Gebieten, die unmittelbar an die Konfliktzonen angrenzen, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk, sowie in den Gebieten Charkiw, Dnipropetrovsk und im Oblast Zaporizhzhya (USDOS 11.3.2020). Die meisten Binnenflüchtlinge leben nahe der Kontaktlinie in gemieteten Unterkünften. Fast die Hälfte der IDP-Bevölkerung sind Familien mit Kindern. Um sich in der Ukraine als IDP registrieren zu lassen, muss man sich im regierungskonrollierten Gebiet befinden. Um IDP-Unterstützung und die weitere Auszahlung von Renten zu beantragen, muss man einen Nachweis über die Registrierung als IDP vorlegen. Umfragen zeigen, dass IDPs anfälliger für Arbeitslosigkeit sind. Der Zugang älterer Menschen zu ihrer Rente stellt eine Herausforderung dar. IDPs werden im Allgemeinen wenig diskriminiert (Landinfo 16.4.2020).

Personen, die als Binnenflüchtlinge registriert sind, können staatliche Beihilfen für IDPs erhalten. Für diese Zahlungen ist das Ministerium für Sozialschutz verantwortlich. Für Menschen, die nicht arbeiten können, also Rentner, Kinder und Studenten, die noch von ihren Eltern abhängig sind (bis 23 Jahre), beträgt die Unterstützung 1.000 UAH pro Person und Monat. Für Arbeitslose beträgt die Unterstützung 442 UAH pro Person und Monat. Familien können nicht mehr als 3.000 UAH (1.130 USD) pro Monat erhalten, es sei denn, sie haben mehr als drei Kinder. Für diese Familien beträgt die Unterstützung 5.000 UAH pro Monat. Die Unterstützung hat sich seit ihrer Einführung nicht wesentlich geändert. Oft reicht die Unterstützung nicht aus, um damit das Leben zu finanzieren, das gilt besonders für Städte, in denen das Kostenniveau höher ist (Landinfo 16.4.2020).

Laut Gesetz sollte die Regierung den Vertriebenen auch eine Unterkunft zur Verfügung stellen, was jedoch mangelhaft umgesetzt wird. Wohnen, Beschäftigung und Empfang von Sozialleistungen und Renten sind weiterhin die größten Sorgen der IDPs. Für die Integration der IDPs fehlt eine Regierungsstrategie, was die Bereitstellung von Finanzmitteln behindert. Dadurch werden IDPs wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisiert. Ein Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und die allgemein schwache Wirtschaft wirken sich besonders auf IDPs aus und zwingen viele von ihnen, in unzulänglichen Unterkünften wie Sammelunterkünften und provisorischen Unterkünften zu leben. UN-Agenturen berichten, der Zustrom von IDPs habe im Rest des Landes zu Spannungen im Wettbewerb um die knappen Ressourcen (Wohnungen, Arbeitsplätze, Bildung) geführt. Insbesondere in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk haben IDPs oft ungenügenden Zugang zu sanitären Einrichtungen, Unterkünften und Trinkwasser. NGOs berichten von Diskriminierung von IDPs bei der Arbeitssuche. IDPs haben nach wie vor Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Dokumenten. Medienberichten zufolge haben IDPs von der Krim eingeschränkten Zugang zu Bankdienstleistungen, obwohl ein Gerichtsurteil den Banken diese Praxis verbietet (USDOS 11.3.2020).

Das Durchschnittseinkommen pro IDP-Haushaltsmitglied ist zuletzt zwar leicht gestiegen ist - auf 3.631 UAH (ca. 150 USD) pro Monat - liegt aber immer noch ein Drittel unter dem Durchschnitt der Ukraine (IOM 21.2.2020).

Die größte Herausforderung für IDPs stellt die Wohnsituation dar. In der Ukraine gibt es ein öffentliches Wohnungsbauprogramm. Dies gilt für die gesamte Bevölkerung, einschließlich der IDPs. Das Programm basiert darauf, dass der Antragsteller einen Teil der Wohnkosten und der Staat den anderen Anteil tragen muss. Normale Bürger müssen 70% der Kosten und der Staat 30% tragen. Für Binnenflüchtlinge beträgt die Verteilung zwischen dem Antragsteller und dem Staat 50/50. Das Programm umfasst IDPs mit einem monatlichen Einkommen, das unter der Summe von drei durchschnittlichen monatlichen Einkommen liegt. Im Jahr 2018 würde dies theoretisch über 90% aller registrierten IDPs umfassen. 70% der Teilnehmer an diesem Programm im Jahr 2018 (insgesamt 130 Personen) waren IDPs. IDPs haben einen großen Bedarf an psychosozialer Unterstützung, viele haben Traumata aus dem Konflikt, und viele leben mit Unsicherheit über die Zukunft. In einer IOM-Umfrage von Juli bis September 2019 gaben 54% der Befragten an, in die lokale Gemeinschaft integriert worden zu sein, während 34% angaben, teilweise integriert zu sein. 7% fühlten sich nicht integriert. Kiew war der Ort, an dem sich die IDPs am stärksten integriert fühlten. Der Hauptgrund, warum sich IDPs integriert fühlten, war Wohnen, dann festes Einkommen und Arbeit (Landinfo 16.4.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine

?         HRW – Human Rights Watch (24.1.2020): Ukraine: People with Limited Mobility Can’t Access Pensions

?        IDMC – Internal Displacement Monitoring Centre (ehemals: Global IDP Project) (5.2019): Ukraine Figure Analysis - Displacement related to conflict and violence

?        IDMC – Internal Displacement Monitoring Center (2020): Ukraine, Displacement associated with Conflict and Violence

?         IOM – UN Organization for Migration (21.2.2020): 'Struggling to get through each day.' New IOM IDP Survey from Ukraine

?        Landinfo (16.4.2020): Temanotat, Ukraina, Internflyktninger

?        UN – United Nations (1.2020): UKRAINE, At a glance:2020 Humanitarian Needs Overview

?        UN – United Nations UKRAINE (7.2018a): Pensions for IDPs and persons living in the areas not controlled by the Government in the east of Ukraine

?        UNHCR - Office of the United Nations High Commissioner for Refugees (2.2019): Legislative Update – February 2019

?        UNOCHA – UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (31.12.2018): Situation Report: Ukraine - 31 Dec 2018

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

?        USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine

1.3.8. Grundversorgung

Die makroökonomische Lage hat sich nach schweren Krisenjahren stabilisiert. Ungeachtet der durch den Konflikt in der Ostukraine hervorgerufenen Umstände wurde 2018 ein Wirtschaftswachstum von 3,3% erzielt, das 2019 auf geschätzte 3,6% angestiegen ist. Die Staatsverschuldung ist in den letzten Jahren stark angestiegen und belief sich 2018 auf ca. 62,7% des BIP (2013 noch ca. ein Drittel). Der gesetzliche Mindestlohn wurde zuletzt mehrfach erhöht und beträgt seit Jahresbeginn 4.173 UAH (ca. 130 EUR) (AA 29.2.2020).

Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom, Gas und warmes Wasser zum Teil nicht immer ganztägig zur Verfügung (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 12.2018). Die Situation, gerade von auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen, Kranken, Behinderten und Kindern, bleibt daher karg. Die Ukraine gehört trotzt zuletzt deutlich steigender Reallöhne zu den ärmsten Ländern Europas. Das offizielle BIP pro Kopf gehört zu den niedrigsten im Regionalvergleich und beträgt lediglich ca. 3.221 USD p.a. Ein hoher Anteil von nicht erfasster Schattenwirtschaft muss in Rechnung gestellt werden (AA 29.2.2020). Die Mietpreise für Wohnungen haben sich in den letzten Jahren in den ukrainischen Großstädten deutlich erhöht. Wohnraum von guter Qualität ist knapp (GIZ 12.2018). Insbesondere alte bzw. schlecht qualifizierte und auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbare Menschen leben zum Teil weit unter der Armutsgrenze (GIZ 3.2020b). Ohne zusätzliche Einkommensquellen (in ländlichen Gebieten oft Selbstversorger, Schattenwirtschaft) bzw. private Netzwerke ist es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar regelmäßig gezahlt, sind aber trotz regelmäßiger Erhöhungen größtenteils sehr niedrig (Mindestrente zum 1. Dezember 2019: 1.638 UAH (ca. 63 EUR) (AA 29.2.2020). Nachdem die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten weit hinter den Möglichkeiten im EU-Raum, aber auch in Russland, zurückbleiben, spielt Arbeitsmigration am ukrainischen Arbeitsmarkt eine nicht unbedeutende Rolle (ÖB 2.2019).

Das ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte ukrainische Sozialversicherungssystem umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung und eine Arbeitsunfallversicherung. Aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahre wurde im Sozialsystem einiges verändert, darunter Anspruchsanforderungen, Finanzierung des Systems und beim Versicherungsfonds. Die Ausgaben für das Sozialsystem im nicht-medizinischen Sektor sanken von 23% des BIP im Jahr 2013 auf 18,5% im Jahr 2015 und danach weiter auf 17,8%. Dies ist vor allem auf Reduktion von Sozialleistungen, besonders der Pensionen, zurückzuführen. Das Wirtschaftsministerium schätzte den Schattensektor der ukrainischen Wirtschaft 2017 auf 35%, andere Schätzungen gehen eher von 50% aus. Das Existenzminimum für eine alleinstehende Person wurde für Jänner 2019 mit 1.853 UAH beziffert (ca. 58 EUR), ab 1. Juli 2019 mit 1.936 UAH (ca. 62 EUR) und ab 1. Dezember 2019 mit 2.027 (ca. 64,5 EUR) festgelegt. Versicherte Erwerbslose erhalten mindestens 1.440 UAH (ca. 45 EUR) und maximal 7.684 UAH (240 EUR) Arbeitslosengeld pro Monat, was dem Vierfachen des gesetzlichen Mindesteinkommens entspricht. Nicht versicherte Arbeitslose erhalten mindestens 544 UAH (ca. 17 EUR). In den ersten 90 Kalendertagen werden 100% der Berechnungsgrundlage ausbezahlt, in den nächsten 90 Tagen sind es 80%, danach 70% (ÖB 2.2019; vgl. UA 27.4.2018).

Seit dem russisch-ukrainischen Krieg in der Ostukraine verschärfte sich die Lage der Bevölkerung in den Gebieten Donezk und Luhansk beträchtlich. Circa 3,5 Millionen Menschen sind auf die humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur in der Region ist zerstört, die Wirtschaft ist paralysiert, lediglich kleine und mittlere Unternehmen können überleben (GIZ 3.2020b). In den von Separatisten besetzten Gebieten in Donezk und Luhansk müssen die Bewohner die Kontaktlinie überqueren, um ihre Ansprüche bei den ukrainischen Behörden geltend zu machen (AA 29.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        AA – Auswärtiges Amt (19.12.2019): Ukraine: Politisches Portrait

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020b): Länderinformationsportal, Ukraine, Wirtschaft & Entwicklung

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2018): Länderinformationsportal, Ukraine

?        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

?        UA – Ukraine Analysen (27.4.2018): Rentenreform

1.3.9. Rückkehr

Es sind keine Berichte bekannt, wonach in die Ukraine abgeschobene oder freiwillig zurückgekehrte ukrainische Asylbewerber wegen der Stellung eines Asylantrags im Ausland behelligt worden wären. Neue Dokumente können landesweit in den Servicezentren des Staatlichen Migrationsdiensts beantragt werden. Ohne ordnungsgemäße Dokumente können sich – wie bei anderen Personengruppen auch – Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder der Inanspruchnahme des staatlichen Gesundheitswesens ergeben (AA 29.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

1.4. Zur Situation des BF im Falle einer Rückkehr

Der BF kann nicht in seinen Heimatort zurückkehren. Ihm ist eine Neuansiedlung etwa in Kiew möglich und zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr würde er in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der BF nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

1.5. Zur Situation des BF in Österreich

Der BF ist spätestens seit dem XXXX illegal im Bundesgebiet aufhältig. Er stellte am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und lebt seither als Asylwerber in Österreich.

Der BF hat die Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 bestanden. Er versteht ihm auf Deutsch gestellte Fragen ausreichend gut und kann prompt, jedoch grammatikalisch fehlerhaft, antworten.

Der BF war vom XXXX bis XXXX bei der XXXX GmbH und vom XXXX bis XXXX bei der XXXX GmbH als Arbeiter beschäftigt. Er bezieht seit XXXX Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF lukriert derzeit ein durchschnittliches monatliches Zusatzeinkommen von ca. EUR 400,- durch Garten-, Hilfs- und Reinigungsarbeiten in seiner Umgebung auf Basis von Dienstleistungsschecks. Er hat eine Einstellungszusage als Hilfsarbeiter bei der XXXX GmbH zu einem Stundenbruttolohn von EUR 12,82 in Vollzeitarbeit (das ergibt einen Bruttomonatslohn von rund EUR 2.000,-).

Der BF hat bislang keine gemeinnützige Arbeit geleistet und keine Kurse besucht. Er geht in seiner Freizeit mit Freunden fischen.

Der BF wohnt privat zur Miete in einem 25m² großen Zimmer eines Eigentumhauses, wobei er die Miete durch Gartenarbeiten am Grundstück ableistet.

Der BF pflegt freundschaftliche und bekanntschaftliche Kontakte zu österreichischen Staatsbürgern. Darüber hinaus konnten keine weiteren, familiären oder sonstig verwandtschaftlichen bzw. familienähnlichen sozialen Bindungen im Bundesgebiet festgestellt werden.

Es bestehen keine weiteren, substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens in Österreich.

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person des BF

Mangels Vorlage von unbedenklichen Dokumenten konnte die Identität des BF nicht bewiesen werden, weshalb hinsichtlich des Namens und des Geburtsdatums Verfahrensidentität vorliegt.

Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des BF, seinen Sprachkenntnissen, seiner allgemeinen und berufsbildenden Ausbildung, seiner Erwerbstätigkeit und, dass er dadurch seinen Lebensunterhalt in der Ukraine bestreiten konnte, gründen sich auf die plausiblen und im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben des BF im gesamten Verfahren.

Es bestand kein Grund, am angegebenen Geburts- und Wohnort des BF in der Ukraine zu zweifeln. Der genaue Zeitpunkt seiner Einreise in Österreich konnte jedoch anhand der Angaben des BF nicht zweifelsfrei festgestellt werden. In der Einvernahme durch das BFA am XXXX erklärte der BF einerseits, seit rund XXXX Jahren in Österreich zu leben (AS 243 und 245), andererseits „von etwa XXXX bis zu meiner Ausreise“ bzw. auch zuvor in der Ukraine gelebt zu haben (AS 233). Erstere Angabe ist wiederum auch der Mitteilung der tschechischen Behörden vom XXXX zu entnehmen, wonach der BF dort ausgesagt habe, vor XXXX Jahren die Ukraine verlassen zu haben und illegal in Österreich gelebt zu haben (AS 95). Während er in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom XXXX sein Einreisejahr ungefähr auf das Jahr XXXX datierte (AS 109), korrigierte er dies in der Beschuldigtenvernehmung vom XXXX wiederum auf das Jahr XXXX (AS 169). Er sei damals legal mit seinem Reisepass eingereist und habe unter seinem richtigen Namen XXXX um Asyl angesucht, jedoch sei sein Antrag in etwa im Jahr XXXX abgewiesen worden. Er sei daraufhin bis etwa XXXX noch illegal in Österreich verblieben, bevor er wieder in die Ukraine zurückgekehrt sei (AS 109). Wiewohl einerseits nicht ersichtlich ist, weshalb der BF hierzu unwahre Angaben machen sollte, ist doch auf der anderen Seite weder einem Auszug aus dem Melderegister noch aus dem Grundversorgungssystem noch aus dem Zentralen Fremdenregister Derartiges zu entnehmen. In weiterer Folge sei der BF ca. XXXX mit seinem ukrainischen Reisepass „durch Europa“ gereist und habe Gelegenheitsarbeiten gesucht, bevor er zu einem unbestimmten Zeitpunkt nach XXXX gekommen sei, wo er bis XXXX geblieben sei (AS 109). Mangels detaillierterer Angaben ist wiederum nicht festzustellen, wann der BF nun genau (wieder) in das Bundesgebiet eingereist sei. Letztlich legte der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung zum gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz einen Strafantrag vom XXXX vor, wonach ihm zu Last gelegt wurde, am XXXX in XXXX ein Stück Substitol vorschriftswidrig zum Eigenbedarf erworben und besessen zu haben (Beilage ./2). Somit kann lediglich festgestellt werden, dass der BF sich spätestens seit jenem Tag in Österreich aufhielt. Dies, mangels Aufenthaltsberechtigung, illegal. Zu seinem weiteren Aufenthalt machte der BF schließlich äußerst widersprüchliche Angaben. In der Beschuldigtenvernehmung vom XXXX behauptete der BF, im Jahr XXXX wieder in die Ukraine zurückgekehrt zu sein, sodann XXXX ca. XXXX in Bulgarien verbracht zu haben, wo er sich einen gefälschten Führerschein gekauft habe, dann wieder nach Österreich eingereist zu sein, woraufhin er nach XXXX wieder in die Ukraine zurückgekehrt sei, dort ca. XXXX verbracht habe, und anschließend aufgrund des Krieges wieder nach Österreich gereist zu sein, wo er (illegal) gearbeitet habe (AS 111). In der Einvernahme durch das BFA gab der BF hingegen an, mehr als XXXX in der Ukraine verblieben zu sein (AS 241) bzw. erweiterte er diesen Zeitraum in der mündlichen Beschwerdeverhandlung nochmals auf XXXX (Verhandlungsprotokoll S. 5). In der Erstbefragung zum gegenständlichen Verfahren wiederum führte der BF aus, dass er im XXXX legal mit dem Reisebus von der Ukraine über Polen und Tschechien nach Österreich eingereist sei (AS 5 f). Das Protokoll wurde vom BF nach Bestätigung der Rückübersetzung und Richtigkeit aller Angaben unterschrieben. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung hingegen vermeinte der BF, bereits XXXX die Ukraine verlassen zu haben. Er habe nie gesagt, im XXXX aus seinem Heimatland ausgereist zu sein (Verhandlungsprotokoll S. 4). In einer Vernehmung durch die tschechischen Behörden gab der BF an, dass er zum fraglichen Zeitpunkt mit einem polnischen Visum nach Österreich gereist sei (AS 95). Eine Auskunft der polnischen Behörden ergab jedoch, dass dem BF weder ein Visum erteilt wurde, noch er überhaupt (legal) in Polen eingereist war (AS 93). In der Beschuldigtenvernehmung vom XXXX erklärte der BF schließlich im nochmaligen Widerspruch zu alle dem, dass er im XXXX und im XXXX von der Polizei in Österreich kontrolliert worden sei, er sich mit einer falschen Identität ausgewiesen habe, gegen die ein von Deutschland erlassener Europäischer Haftbefehl bestanden habe, weshalb er dorthin ausgeliefert worden sei, wo schließlich erkannt worden sei, dass der Ausweis des BF gefälscht sei, weshalb er aus der Haft entlassen worden sei, woraufhin er nach Österreich zurückgekehrt sei, sich neuerlich einen gefälschten bulgarischen Führerschein besorgt habe und damit in Österreich (illegal) gearbeitet habe (AS 167 f). Eine Ausreise in die Ukraine gab er in dieser Vernehmung nicht zu Protokoll. Ein Auszug aus dem Melderegister ergab schließlich, dass der BF seit dem XXXX durchgehend aufrecht in Österreich gemeldet ist. Die Angaben des BF über seinen vermeintlichen Aufenthalt in der Ukraine im Jahr XXXX bzw. über die Modalitäten seiner Wiedereinreise nach Österreich waren somit schon für sich betrachtet höchst widersprüchlich und stehen darüber hinaus im eindeutigen Widerspruch zu behördlichen Auskünften. Insgesamt war daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass der BF im Jahr XXXX nicht in der Ukraine aufhältig war, da er sich andernfalls nicht in derartige Widersprüche verstrickt hätte, sondern in der Lage gewesen wäre, den im Grunde simplen Sachverhalt einer Reisetätigkeit gleichbleibenden vorzutragen. Unzweifelhaft ist lediglich, dass der BF ein Jahr später im XXXX versuchte, von Österreich aus nach Deutschland einzureisen, von dort aber über Tschechien nach Österreich zurückgewiesen wurde, wo er den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte, da seine diesbezüglich im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben (AS 7, 111 und 169) mit der Auskunft der tschechischen Behörden übereinstimmen (AS 95).

Die Feststellungen zu den Angehörigen und der Verwandtschaft des BF, den Kontakt zu seiner Mutter und, dass der BF in der Ukraine keine Besitztümer hat, folgen wiederum seinen gleichbleibenden, glaubhaften und vor dem Hintergrund der Lage in der Ostukraine plausiblen Ausführungen im Zuge des gegenständlichen Verfahrens.

Ebenso hat der BF selbst angegeben, gesund, ledig und kinderlos zu sein. Die Feststellung zur früheren Substitol-Therapie des BF folgt seiner glaubhaften Aussage in der mündlichen Verhandlung (Verhandlungsprotokoll S. 12 f)

Die Feststellung über die strafgerichtliche Verurteilung des BF beruht auf einem Auszug aus dem Strafregister.

2.2. Zum Fluchtvorbringen des BF

Der BF brachte zunächst in der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes vor, wegen des Krieges und weil es keine Sicherheit mehr gebe, die Ukraine verlassen zu haben (AS 9). In der Einvernahme durch das BFA führt er an, dass er während der Mobilmachung zwei Ladungen zum Militärkommissariat erhalten habe, weshalb er geflohen sei, da er weder in den Krieg ziehen, noch aufgrund einer Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis gehen habe wollen (AS 241). In der mündlichen Beschwerdeverhandlung bekräftigte er dieses Vorbringen.

Während unbestritten ist, dass zum Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung in der Ostukraine Krieg herrschte bzw. dieser ausbrach, ist das Vorbringen des BF in der Einvernahme über seine persönliche Involvierung nicht glaubhaft. Wie bereits oben festgestellt und ausführlich gewürdigt wurde, ist nämlich schon nicht glaubhaft, dass der BF zum fraglichen Zeitpunkt in der Ukraine verweilte, sodass er demnach auch nicht von Vorladungen betroffen sein konnte.

Aber auch unabhängig davon war das Vorbringen des BF widersprüchlich. Zunächst ist festzuhalten, dass der BF in der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnte, dass er vom Krieg in der Ukraine

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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