TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/13 W226 2158753-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.07.2021
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Entscheidungsdatum

13.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W226 2158753-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Andreas Windhager als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geboren am XXXX ,
StA.: Ukraine, vertreten durch Verein Kulturbrücke, Raaber-Bahn-Gasse 11/7, 1100 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.05.2021,
Zl.: 1082149803-210324221, betreffend die Abweisung des Antrages auf einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt IV. ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1.1. Am 12.08.2015 stellte die zum Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berechtigte Beschwerdeführerin (in der Folge: BF) vor Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörden einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihr zum Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berechtigter Ehemann, ein irakischer Staatsangehöriger, XXXX , stellte bereits zuvor am 16.03.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.1.2. Am 13.08.2015 wurde sie von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen und gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass alle in der Ukraine verfolgt würden, die einen anderen Glauben hätten. Ihr Ehegatte sei Iraker und Moslem, sie selbst zur Hälfte Jüdin. Ein normales Eheleben sei daher nicht möglich gewesen. Ihr Ehemann habe sein Studium in XXXX abgeschlossen, jedoch keine Möglichkeit zur Arbeit bekommen. In den Irak habe er ob des Krieges ebenso nicht zurückkehren können. In Kiew würde er ob seines arabischen Aussehens beschimpft und bedroht, weshalb auch ihr ein Aufenthalt in der Ukraine nicht möglich gewesen sei. Als ihr Ehegatte im März 2015 nach Österreich flüchtete, sei sie ihm gefolgt. Weitere Gründe habe sie nicht. Österreich habe sie legal mit einem Schengenvisum mittels Flugzeug erreicht.

Eine Rückkehr schließe sie aus, da Freunde und Verwandte nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, da sie einen jüdischen Bekanntenkreis habe. Sie habe auch eine jüdische Schule besucht. Da ihr Ehegatte Araber sei, wolle ihre Familie mit ihr nichts mehr zu tun haben. Sie habe niemanden mehr in der Ukraine. Hinweise auf staatliche Sanktionen gebe es bei einer Rückkehr keine.

I.1.3. Am 04.10.2016 wurde der Ehemann der BF durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA oder belangte Behörde) einvernommen, wo er zu seinem Fluchtgrund angab, während seines Studiums in der Ukraine im Sommer jeweils einen Monat für sein Praktikum im Krankenhaus von XXXX die Heimat besucht zu haben. Im Juni 2014 sei XXXX vom IS eingenommen und auch seine Provinz belagert worden. Einige Tage bevor er die Ukraine verließ, habe er seinen Vater angerufen, der ihm geraten habe, dass er wegen der schlechten Lage im Irak nicht zurückzukehren solle. Der IS töte Menschen und vor allem jene, die ein Studium beendet hätten und Ärzte, die nicht für den IS würden arbeiten wollen. Zudem habe er eine Christin geheiratet. Sein Stamm sei sehr radikal und würden viele Personen den IS unterstützen. Zudem gab er an, von einem angeblich zum IS gehörenden Iraker in der Ukraine eine Aufenthaltsverlängerung bekommen zu haben. Als Gegenleistung hätte er mit Freunden des Irakers als Übersetzer in den Irak fahren sollen. Da er jedoch die Information erhielt, dass es sich bei diesen Freunden um IS Mitglieder gehandelt haben soll, habe er abgelehnt. Seinen Reisepass, den er übergeben haben wollte, habe er nicht mehr bekommen und sei ihm mit dem Umbringen gedroht worden, wenn er weiter in der Ukraine bleibe.

I.1.4. Mit zum 13.12.2016 datierten Bescheid der belangten Behörde, wies das BFA die Anträge des Ehemannes der BF hinsichtlich seines Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde, dass gemäß § 53 Abs 9 FPG die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Seine Entscheidung begründete die belangte Behörde im Wesentlichen kurz zusammengefasst damit, dass dem Ehemann der BF im Heimatstaat keine asylrelevante Verfolgung drohe und er unglaubwürdige Angaben gemacht hätte. Zudem könne er in der Ukraine gemeinsam mit der BF ein Familienleben führen. Die Behörde gehe davon aus, dass er die Ukraine aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe. Eine Rückkehr in den Irak sei ob seines familiären Netzes möglich.

I.1.5. Am 23.02.2017 wurde die BF durch Organe der belangten Behörde einvernommen. Ihre Fluchtgründe stützte sie ausschließlich auf jene ihres Ehegatten. Sie habe erst in Österreich davon erfahren, dass ihrem Ehegatten gesagt worden sei, dass ihm Leid zugefügt werden könnte, wenn er den Aufforderungen nicht nachkomme. Die BF gab an, selbst nie bedroht worden zu sein. Sie fürchte sich jedoch davor, durch die Probleme ihres Ehegatten selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Auch gab sie an, dass sich ihre Verwandten väterlicherseits von ihr abgewendet hätten, als sie sich mit ihrem Ehemann verehelicht hätte.

I.1.6. Mit zum 06.05.2017 datierten Bescheid wies das BFA die Anträge der BF hinsichtlich ihres Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde, dass die Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.). Begründet wurde dies im Wesentlichen kurz zusammengefasst damit, dass sich die BF ausschließlich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes gestützt hätte und eine Verfolgung insgesamt als nicht wahrscheinlich qualifiziert werden könne, zumal die vorgebrachten Probleme in der Ukraine ausschließlich von Privatpersonen ausgingen.

I.1.7. Mit Schriftsatz vom 17.05.2017 erhob die BF fristgerecht Beschwerde.

Mit Beschluss des BVwG vom 16.08.2017 wurde in Erledigung der Beschwerde der BF der betroffene Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt II. und III. des angefochtenen Bescheides aufgehoben und gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG iVm § 34 Abs 4. AsylG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen, da ob der zwischen der BF und ihrem Ehemann bestehenden Ehe ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG zu führen sei.

I.1.8. Anlässlich einer ergänzenden niederschriftlichen Einvernahme am 28.05.2018 durch Organe des BFA wiederholte die BF ihr Vorbringen vom 23.02.2017 und gab an, dass ihre Eltern gegen die Ehe mit ihrem Ehemann gewesen seien. Ihr Ehegatte habe sich zudem illegal in der Ukraine aufgehalten. Ihre eigenen Fluchtgründe stützte sie auch diesmal auf jene ihres Ehegatten und darauf, dass gegen sie und ihren Ehegatten in der Ukraine rassistische Ressentiments bestanden hätten.

I.1.9. Mit zum 23.07.2018 datiertem Bescheid wies das BFA die Anträge des Ehemannes der BF hinsichtlich seines Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchpunkt II.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde (Spruchpunkt III.) und die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt IV). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt V.). Begründet wurde dies im Kern damit, dass der Ehemann der BF in seiner Heimat keiner existenzbedrohenden Situation ausgesetzt sein würde und eine Lebensführung im Irak und auch in der Ukraine - der Heimat seiner Ehegattin, der BF - möglich sei.

I.1.10. Mit zum 23.07.2018 datiertem Bescheid wies das BFA die Anträge der BF hinsichtlich ihres Antrages auf internationalen Schutz vom 12.08.2015 bezüglich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, und dass gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde, dass gemäß § 46 FPG die Abschiebung in die Ukraine zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.). Begründet wurde dies wie im Erstbescheid damit, dass sich die BF ausschließlich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes gestützt habe und eine Verfolgung insgesamt als nicht wahrscheinlich qualifiziert werden könne, zumal die vorgebrachten Probleme in der Ukraine ausschließlich von Privatpersonen ausgehen würden.

I.1.11. Gegen diese zum 23.07.2018 datierten Bescheide erhoben die BF und ihr Ehemann (im Folgenden: die Beschwerdeführer) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG). Zusammengefasst brachten die Beschwerdeführer vor, dass sich das BFA nicht ausreichend mit den jeweiligen Situationen in ihren Herkunftsstaaten auseinandergesetzt hätte. Der Ehemann der BF würde bei einer Rückkehr in den Irak entgegen der Ansicht des BFA eine die Existenz bedrohende Situation vorfinden und ob der interkonfessionellen Ehe wäre eine Rückkehr sowohl in die Ukraine als auch in den Irak ausgeschlossen, zumal beide durch einen in der Ukraine lebenden Iraker bedroht würden. Beide seien in Österreich integriert und hätten keinerlei Bezug zu ihrer jeweiligen Heimat.

I.1.12. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 03.08.2020, wies das BVwG die Beschwerden der Beschwerdeführer gegen die Spruchpunkte I., II., III., IV., und V. mit Erkenntnis vom 09.11.2020 als unbegründet ab, da eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen von den Beschwerdeführern nicht glaubhaft dargelegt wurde. Aufgrund des gemeinsam geführten Verfahrens iSv § 34 AsylG und der Tatsache, dass sich die BF ausschließlich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes stützte, sei ihr der Status einer Asylberechtigten in Bezug auf die Ukraine nicht zu gewähren, da mit rechtskräftigem Erkenntnis des BVwG vom 16.08.2017, darüber abgesprochen worden sei, dass die gegen den Erstbescheid des Ehemannes der BF vom 13.12.2017 erhobene Beschwerde als unzulässig abzuweisen war. Zudem sei es der BF, nicht gelungen, asylrechtlich relevante Verfolgungshandlungen durch staatliche ukrainische Stellen darzulegen, zumal solche auch nicht vorgebracht worden seien. Auch erweise sich das Vorbringen, dass die Beschwerdeführer in der Ukraine ob ihrer interkonfessionellen Ehe rassistischen Bedrohungen ausgesetzt wären, als nicht asylrelevant. Das diesbezügliche Vorbringen sei unsubstantiiert und gründe sich nicht auf staatliche An- bzw. Übergriffe. Weiters führte das BVwG dazu aus:

„Der BF1 ist Moslem sunnitischer Glaubensausrichtung und die BF2 russisch-orthodoxe Christin mit jüdischen Wurzeln. Beide heirateten im Sommer 2013 traditionell in einer Moschee in XXXX und standesamtlich im März 2015, kurz vor der Ausreise des BF1 aus der Ukraine. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Ehe nicht nur vor staatlichen, sondern auch einer muslimisch-religiösen Autorität geschlossen wurde ist von einer Akzeptanz der Ehe in der muslimischen Gemeinde der Ukraine auszugehen.

Aus den die Ukraine betreffenden Länderberichten geht nicht hervor, dass diese Form der „Mischehe“ unter einer besonderen staatlichen Sanktion stünde. Auch den aktuellen Länderinformationen den Irak betreffend ist nicht zu entnehmen, dass eine zwischen einem muslimischen Mann und einer nicht-muslimischen Frau geschlossene Ehe zu einer gesteigerten Gefährdung des Ehepaares oder von Teilen desselben führen würde, die über das Maß der durch die jeweilige Religion bereits vorhandene hinausreicht.

Vielmehr erlaubt und ermöglicht die muslimische Tradition eine Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer Frau, die diesen Glauben nicht teilt, da die innerfamiliären Autoritätsverhältnisse und eine künftige Kindererziehung in dieser Form der Ehe weiterhin auf Seiten der in diesem Fall sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung aufbauen.

[…]

Wenn die beschwerdeführenden Parteien weiter angeben, dass sie in der Ukraine ob ihrer interkonfessionellen Ehe nicht leben könnten, da sie rassistischen Äußerungen und Beleidigungen ausgesetzt gewesen seien, steht dies in Widerspruch zu den Länderinformationen zur Ukraine. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die in der Ukraine geltenden menschenrechtlichen Standards nicht mit jenen in Österreich verglichen werden können, lassen sich die von den beschwerdeführenden Parteien gemachten Aussagen bezüglich Beleidigungen und Misshandlungen mit den vorliegenden Länderberichten zur Ukraine (und zum Irak) nicht in Deckung zu bringen. Abgesehen davon hat keiner von ihnen eine systematische Verfolgung durch staatliche Behörden wegen des Faktums der von ihnen geschlossenen interkonfessionellen Ehe behauptet, sondern lediglich von vereinzelten Anfeindungen durch Privatpersonen gesprochen. Dass die zwischen den beiden Beschwerdeführern geschlossene Ehe nicht auf die Zustimmung der beiden Elternhäuser trifft ist ebenso nicht von asylrechtlicher Relevanz, sondern zum Privat- und Familienbereich der BF2 und des BF1 zu zählen.“

Weiters konnte das Gericht keine begründeten Anhaltspunkte dafür feststellen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführer in ihre Herkunftsstaaten eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde.

Die Rückkehrentscheidung begründete das BVwG ua folgendermaßen:

„Der BF1 hat seine Ehefrau, die BF2, nur wenige Tage vor seiner Ausreise im März 2015 standesamtlich geheiratet (Hochzeit am XXXX , Antrag auf internationalen Schutz des BF1 am 16.03.2015). Beide haben die Reise nach Österreich in dem Wissen über ihren unklaren zukünftigen Aufenthaltsstatus angetreten und sind in gleichem Maße von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. Wenn der BF1 im Zuge des Verfahrens vorbringt, dass er seine Bindungen zu seiner Heimat verloren habe, musst ihm entgegengehalten werden, dass er sich seit dem Verlassen des Irak nahezu sieben Jahre in der Ukraine aufgehalten hat (also länger als derzeit in Österreich) und für diesen Aufenthalt über jenen Zeitpunkt, als er die Ukraine nach Österreich verließ über einen gültigen Aufenthaltstitel für die Ukraine verfügte. […] Dem Recherchegutachten zufolge hatte der BF zum Zeitpunkt des Verlassens der Ukraine noch eine für etwa eineinhalb Jahre gültige Niederlassungsbewilligung. Diesfalls ist auch in Anbetracht der Eheschließung mit der BF2, einer ukrainischen Staatsangehörigen davon auszugehen, dass es dem Paar möglich sein wird, wieder in die Ukraine zurückzugehen und eine Niederlassungsbewilligung für den BF1 zu erlangen. Es ist aber auch eine Rückkehr des Paares in den Irak möglich, weshalb dem Paar hinsichtlich der Rückkehrmöglichkeiten ein Wahlrecht offensteht.

Abgesehen davon sind die Bindungen zu Österreich sohin, im Vergleich der Lebenszeit der beiden Beschwerdeführer und deren Leben im Irak und auch in der Ukraine verhältnismäßig kurz […].

Unter den nach § 9 BFA-VG zu prüfenden Punkten ist auch zu berücksichtigen, dass die standesamtliche Ehe der beiden BF (genauso wie die nach muslimischen Riten getraute Ehe im Sommer 2013) zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, als der BF1 über einen aufrechten Aufenthaltstitel in der Ukraine verfügte. Die Ausreise nach Österreich musste sohin in dem Bewusstsein erfolgen, dass mit dem Verlassen der Ukraine ein weiteres Eheleben an einen äußerst unsicheren Aufenthalt geknüpft sein würde. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Integration in eine neue Kultur mit Unannehmlichkeiten verbunden sein kann, ist es den bfP jedenfalls zumutbar, ihr Eheleben auch außerhalb Österreichs fortzusetzen. Die Tatsache, dass beiden in Österreich kein Aufenthalt aus asylrechtlichen Gründen zukommt, hindert beide nicht, sich allfällig auch in der Heimat der BF2 eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, zumal sich speziell der BF1 bis zu seiner Ausreise knapp sieben Jahre in der Ukraine aufgehalten hat, nach eigenen Angaben die Landessprache beherrscht und dort bereits über einen Aufenthaltstitel verfügte, der auf Grund der Eheschließung mit der BF2, einer ukrainischen Staatsangehörigen, jederzeit leicht wiedererlangt werden könnte, dies auch in Anbetracht dessen, dass keiner der beschwerdeführenden Parteien sich in der Ukraine aus strafrechtlicher Sicht etwas zuschulden kommen ließ.

[…]

Anlassbezogen konnte nicht festgestellt werden, dass die bfP - abgesehen vom eigenen Familienleben - ein schützenswertes, ausschließlich auf die eigene Person bezogenes Privatleben im Bundesgebiet hätten.

Die bfP sind im März und August 2015 ins Bundesgebiet eingereist und stellten sie hier am 16.03.2015 und am 12.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seither sind sie hier als Asylwerber aufhältig. Das Gewicht ihres illegalen Aufenthaltes in Österreich ist auch dadurch abgeschwächt, dass sie diesen durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchten. Schon deshalb konnten sie nicht in begründeter Weise von einer zukünftigen dauerhaften Legalisierung ihres Aufenthalts ausgehen. Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ohne Hinzutritt weiterer maßgeblicher Umstände noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH vom 15.03.2016, Ra 2016/19/0031 mwN).

[…] Die BF2 hat bereits in ihrer Heimat eine universitäre Ausbildung abgeschlossen. Es ist beiden möglich, auch außerhalb von Österreich eine neue Existenz als qualifizierte Arbeitskräfte aufzubauen. Anderweitige maßgebliche wirtschaftliche Interessen bestehen nicht. Die bfP beziehen zur Sicherstellung ihres Auskommens Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.

Die bfP haben zwar Sprachkenntnisse der Stufe B1 erworben, sich ehrenamtlich betätigt und der BF1 zudem eine unbezahlte Stelle in einer Arztpraxis angenommen, doch sind weitere, die soziale Integration verdeutlichende und vertiefende Aktivitäten bei ihnen nicht aktenkundig.

Insoweit ist auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, als selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht, sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (VwGH vom 06.11.2009, Zl. 2008/18/0720 und vom 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029).

Die beschwerdeführenden Parteien sind zwar strafgerichtlich unbescholten, doch hat dieser Umstand allein nicht das für die Annahme einer sozialen Integration zukommende Gewicht.

Sie verbrachten den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens in ihren Herkunftsstaaten und der BF1 zudem etwa sieben Jahre in der Ukraine, besuchten dort Schulen und Universitäten, waren dort bereits erwerbstätig (Anm.: BF2) und wurden dort sozialisiert. In der Zeit seines Aufenthalts in der Ukraine erlernte der BF1 die dortige Sprache und konnte sich mit den Gepflogenheiten vertraut machen. Die Beschwerdeführer sprechen die Mehrheitssprache der Herkunftsregionen auf muttersprachlichem Niveau und deutet nichts darauf hin, dass es ihnen im Falle der Rückkehr nicht möglich sein sollte, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.

In Anbetracht der erst kurzen Zeit ihres Aufenthaltes in Österreich, der fehlenden beruflichen Integration und der vorgebrachten Tatsachen überwiegt das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Hinblick auf die Einhaltung eines geordneten Vollzuges des Aufenthalts- und Fremdenrechts, das familiäre und private Interesse der beschwerdeführenden Parteien an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Im gegenständlichen Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass ein knapp fünf Jahre dauernder faktischer Aufenthalt der beschwerdeführenden Parteien in Österreich vorliegt, der zudem noch durch eine illegale Einreise herbeigeführt wurde. Ihnen ist weiter vorzuhalten, dass ihnen zumindest seit dem Erhalt des angefochtenen Bescheides die Ungewissheit ihres weiteren Verbleibes im Bundesgebiet bewusst gewesen sein musste.

[…]

Auch sind sonst keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht substantiiert vorgebracht worden, dass gegenständlich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre. Die belangte Behörde ist des Weiteren auch nach Abwägung aller dargelegten persönlichen Umstände der Beschwerdeführer zu Recht davon ausgegangen, dass ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG von Amts wegen nicht zu erteilen ist. […]“

I.1.13. Mit Beschluss vom 11.02.2021, Ra 2020/20/0428, wies der Verwaltungsgerichtshof die Revision der BF zurück.

I.2.1. Am 09.03.2021 stellte die BF den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG.

I.2.2. Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme der BF zu ihrem Antrag vor dem BFA am 22.04.2021 brachte die BF vor, die Krankenpflegerschule von 01.10.2020 bis Mitte Jänner 2021 besucht zu haben. Nachdem sie aber kein Asyl erhalten habe, könne sie die Ausbildung derzeit nicht fortsetzen. Sie habe auch ein Praktikum im Zuge der Ausbildung absolviert, welches aber nach zwei Tagen von der Polizei beendet worden sei. Sie sei gesund, lebe von der Grundversorgung und habe viele Bekannte und Freunde in Österreich, da sie viel freiwillig in Österreich gearbeitet habe. Die BF legte einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag mit der XXXX vom 09.03.2021 vor.

I.2.3. Mit Bescheid vom 27.05.2021 wies das BFA den gegenständlichen Antrag der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK vom 09.03.2021 gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG 2005 (Spruchpunkt II.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das BFA aus, dass sich die BF seit dem rechtskräftigen Abschluss ihres Verfahrens bereits mehrere Monate illegal in Österreich aufhalte. Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 30.9.1993, Zl. 93/18/0419). Die BF habe seit ihrer Einreise im Jahr 2015 zwar in Österreich Deutsch bis Niveau B1 gelernt, die Schule für Gesundheits- und Krankenpflege besucht (nicht abgeschlossen) und sich ehrenamtlich im Cent Market engagiert und Freunde und Bekannte in Österreich gefunden, dennoch sei aber eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in solchen Fällen erforderlich, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 30.9.1993, Zl. 93/18/0310). Dies vor allem daher, da das der BF vorwerfbare Verhalten im Verhältnis zu den von ihr geltend gemachten privaten Interessen überwiege und darüber hinaus und weder aus der Aktenlage noch aus der Einvernahme vom 09.01.2019 besondere Umstände ersichtlich seien, die eine Verfahrensbeendigung zu Gunsten der BF begründen würden. Die BF sei in ihrem Herkunftsstaat sozial integriert, da sie den Großteil ihres Lebens dort verbracht habe und somit die Sprache ihres Heimatlandes spreche sowie mit den dortigen Sitten und Gebräuchen bestens vertraut sei. Auch ihre Eltern, Großeltern und Geschwister würden in der Ukraine leben. Auch könne aufgrund ihrer bisherigen Aufenthaltsdauer in ihrem Heimatstaat von sozialen Kontakten ausgegangen werden. Auch ihrem Ehemann stehe es frei, als Familienangehöriger in der Ukraine um einen Aufenthaltstitel anzusuchen.

I.2.4. Seitens des BFA erging auf Grundlage der rechtskräftigen Rückkehrentscheidung des BVwG ein Festnahmeauftrag gem. § 34 Abs. 4 iVm § 40 Abs. 1 Z 1 BFA-VG. Dieser wurde in der Folge von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes mit der Festnahme der BF am 01.06.2021 vollzogen. Die BF wurde zum Zwecke der Abschiebung in das PAZ XXXX überstellt und am XXXX durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Landweg abgeschoben.

I.2.5. Gegen den Bescheid des BFA wurde am 09.06.2021 vollumfänglich Beschwerde erhoben, wobei im Wesentlichen vorgebracht wurde, dass die BF die deutsche Sprache sehr gut beherrsche, immer freiwillige ehrenamtliche Tätigkeiten in Österreich in unterschiedlichen Einrichtungen geleistet habe, Mitglied in zahlreichen humanitären Organisation in Österreich gewesen sei, und die besten Chancen habe, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen, da sie einen Arbeitsvorvertrag habe. Ihr Ehemann könne als Iraker ohne persönliche Identitätsdokumente außer einer nationalen Geburtsurkunde und eines Personalausweises nicht in die Ukraine abgeschoben werden, womit die Abschiebung der BF in die Ukraine ein direkter Eingriff in ihr Privat- und Familienleben darstelle. Außerdem fände ihre Mischehe in die Ukraine keine Akzeptanz. Nach Abschiebung der BF in die Ukraine, befinde sie sich in einer prekären Situation, da sie aus ihrer Familiengemeinschaft ausgestoßen worden sei. Sie sei nun von der Obdachlosigkeit bedroht, verfüge über keine finanziellen Mittel, um ihren Aufenthalt zu finanzieren, habe keine Krankenversicherung und leide unter Angstzuständen und extrem psychischen Druck, da sie von ihrem Ehemann getrennt worden sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

II.1.1. Die BF führt die im Spruch genannte Identität, ist ukrainische Staatsangehörige und gehört der russisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft an. Ihre Muttersprache ist Russisch. Zudem spricht sie Ukrainisch, Englisch und Deutsch. Die BF verfügt über ein Sprachzertifikat der Stufe B1.

II.1.2. Festgestellt wird zunächst der oben dargelegte Verfahrensgang, insbesondere, dass gegen die BF, einer nicht zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigten Drittstaatsangehörigen, mit rechtskräftigem Erkenntnis des BVwG vom 09.11.2020 – in Bestätigung der diesbezüglichen Entscheidung des BFA vom 23.07.2018 – eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde. Am 09.03.2021 stellte die BF den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG. Sie wurde am XXXX in ihren Herkunftsstaat abgeschoben und befindet sich seither dort. Seit dem rechtskräftigen Abschluss ihres Asylverfahrens, befand sich die BF daher fast weitere sieben Monate (teilweise illegal) im Bundesgebiet.

II.1.3. Die BF ist mit XXXX seit dem Sommer 2013 nach muslimischem Ritus und seit XXXX standesamtlich verheiratet. In Österreich lebten die beiden in einer gemeinsamen Wohnung. Der Asylantrag ihres Ehemannes wurde ebenfalls abgewiesen. Die BF und ihr Ehemann haben keine Kinder. Der BF und ihrem Ehemann ist es möglich und zumutbar, ihr gemeinsames Leben – wie bisher – in der Ukraine zu gestalten.

II.1.4. Die BF besuchte in ihrer Heimat von 1996 bis 2005 die Grundschule und im Anschluss dran bis 2009 ein Technikum für Pädagogik und bis 2013 die Universität in XXXX , Fakultät Volksschullehrer für praktische Psychologie, welche sie im selben Jahr abschloss. In Österreich war die BF ehrenamtlich als Schülerlotsin und Helferin in der Pfarre sowie im XXXX tätig und besuchte von Oktober 2020 bis Jänner 2021 die Schule für Gesundheits- und Krankenpflege am XXXX . Die BF war bis zu ihrer Ausreise nicht erwerbstätig und bezog Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Die BF verfügt über zumindest eine Einstellungszusage.

II.1.6. Die Eltern der BF sind geschieden und leben beide in der Region XXXX , ihre Halbschwester lebt bei ihrem Vater. Der Vater der BF hat in den USA lebende Halbgeschwister, die Schwester der Mutter der BF ist bei der Großmutter mütterlicherseits in XXXX wohnhaft und verheiratet. Die BF steht in Kontakt mit ihrer Mutter. In Österreich verfügt die BF über keine Verwandten.

II.1.7. Die BF ist gesund und strafgerichtlich unbescholten.

II.1.8. Abschließend konnte nicht festgestellt werden, dass die BF bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat aus in ihrer Person gelegenen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort der realen Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention geschützten Rechte, oder dass sie als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes ausgesetzt wäre.

II.1.9. Zur Lage in der Ukraine wird festgestellt:

Covid-19-Situation

Letzte Änderung: 08.06.2021

In der Ukraine gilt ein System der adaptiven Quarantäne (regionales Ampelsystem), welches bis 30. Juni vorgesehen ist. Ein nationaler Lockdown ist nicht geplant (UNIAN 10.5.2021; vgl. UA 28.4.2021, AA 3.5.2021). Gemäß dem Gesundheitsminister ist die dritte Pandemiewelle in der Ukraine vorbei (UP 7.5.2021).

An öffentlichen Orten, nicht jedoch im Freien, besteht die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Das gilt auch für öffentliche Verkehrsmittel. Hygiene- und Gesundheitsmaßnahmen müssen im öffentlichen Verkehr sowie in Geschäften und Gaststättenbetrieben eingehalten werden (AA 3.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). 2020 wurden mehr als 6.800 Personen im Rahmen der IOM Ukraine Covid-19 Response Intervention unterstützt (IOM 10.2.2021).

Am 24.2.2021 begannen in der Ukraine die Covid-Impfungen. Derzeit sind die folgenden Impfstoffe in Verwendung: AstraZeneca, SinoVac und Pfizer. Seit dem 24.4.2021 befindet sich die Ukraine in der zweiten Phase der Impfstrategie und verabreicht Impfungen an medizinisches Personal, Militärpersonal und ältere Personen (KP 10.5.2021). Die Impfungen werden vorwiegend von mobilen Impfteams durchgeführt (UA 28.4.2021; vgl. Gov.ua 10.5.2021). Impfungen sind freiwillig und kostenlos (GM 10.5.2021). Mit Stand 8.5.2021 erhielten 862.639 Personen die erste Teilimpfung und 446 Personen bereits die zweite Teilimpfung (GM 8.5.2021). Es wurden bisher 9.668.937 PCR-Tests durchgeführt (Gov.ua 10.5.2021).

In den Krankenhäusern der Hauptstadt Kiew werden derzeit 33 Covid-Patienten behandelt und 230 Patienten mit Verdacht auf Covid und Lungenentzündung (IU 9.5.2021). Ab 1.5.2021 wurden in Kiew die meisten Quarantänebeschränkungen aufgehoben (KP 10.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). Wieder geöffnet sind unter anderem Restaurants, Geschäfte, Sporteinrichtungen und Kultureinrichtungen (WKO 30.4.2021; vgl. KP 10.5.2021, RFE/RL 1.5.2021). Seit 5.5.2021 ist der Besuch von Vorschuleinrichtungen, Schulen und Hochschulen wieder erlaubt (WKO 30.4.2021; vgl. RFE/RL 1.5.2021).

Ukrainische Staatsangehörige benötigen für die Einreise einen negativen PCR-Test, welcher zum Zeitpunkt der Einreise nicht älter als 72 Stunden sein darf. Die verpflichtende Selbstisolation von 14 Tagen kann durch einen negativen PCR-Test bei einem zugelassenen Testzentrum nach Einreise verkürzt werden. Ein Einreiseverbot bzw. Beschränkungen im internationalen Reiseverkehr sind derzeit nicht vorgesehen, können aber nicht ausgeschlossen werden (AA 3.5.2021). Die Flughäfen in Kiew, Dnipro, Charkiw, Lwiw, Odesa und Saporischschja sind für den internationalen und inländischen Flugverkehr geöffnet (WKO 30.4.2021).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.5.2021): Ukraine: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung und COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/ukrainesicherheit/201946, Zugriff 10.5.2021

?        GM – Gesundheitsministerium [Ukraine] (10.5.2021): ?????????? ??? COVID-19 ? ???????: ?????????? ???? ?? 09 ?????? 2021 ???? [COVID-19-Impfung in der Ukraine: Operative Daten für den 9. Mai 2021], https://vaccination.covid19.gov.ua/news/vaccinationdata70, Zugriff 10.5.2021

?        GM – Gesundheitsministerium [Ukraine] (8.5.2021): ??? ??? ?????????? ??? COVID-19 ? ??????? [Alles über die COVID-19-Impfung in der Ukraine], https://vaccination.covid19.gov.ua/, Zugriff 10.5.2021

?        Gov.ua – Regierungsportal [Ukraine] (10.5.2021): ?????????? ?????????? ??? ????????? ?????????????? ???????? 2019-nCoV [Operative Information über die Ausbreitung der Coronavirus-Infektion 2019-nCoV], https://www.kmu.gov.ua/news/operativna-informaciya-pro-poshirennya-koronavirusnoyi-infekciyi-2019-ncov-10092021, Zugriff 10.5.2021

?        IOM – International Organization for Migration (10.2.2021): IOM Ukraine Covid-19 Response Report 8: IOM helps conflict-affected Toretsk get through water shortages, https://www.iom.org.ua/en/iom-ukraine-covid-19-response-report-8, Zugriff 10.5.2021

?        IU – Interfaks Ukraine (9.5.2021): ? ????? ?? ????? 255 ????? ?????????? COVID-19, ??????? ?? ??????????? [In Kiew binnen 24 Stunden 255 Covid-Neuerkrankungen, ebenso viele wurden geheilt], https://interfax.com.ua/news/general/742784.html, Zugriff 10.5.2021

?        KP – Kyiv Post (10.5.2021): COVID-19 in Ukraine: 2,817 new cases, 119 new deaths, 1,004 new vaccinations, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/covid-19-in-ukraine-2817-new-cases-119-new-deaths-1004-new-vaccinations.html, Zugriff 10.5.2021

?        RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (1.5.2021): Kyiv Eases COVID-19 Restrictions Following Decrease In Infections, https://www.rferl.org/a/kyiv-eases-covid-lockdown-restrictions/31233221.html, Zugriff 10.5.2021

?        UA – Ukraine-Analysen (28.4.2021): Covid-19-Chronik, 23.3.-25.4.2021 (Nr. 250), https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/250/UkraineAnalysen250.pdf, Zugriff 10.5.2021

?        UNIAN – ?????????? ????????? ???????????? ????????? ????? [Ukrainische unabhängige Nachrichtenagentur] (10.5.2021): ??????? ??????????? ????????? ??????????? ????????? ? ?????????, ????? ?? ????? ??????? [Schmygal kündigte Verlängerung der adaptiven Quarantäne an und teilte mit, ob es neuen Lockdown geben wird], https://www.unian.net/society/shmygal-anonsiroval-prodlenie-adaptivnogo-karantina-i-rasskazal-budet-li-novyy-lokdaun-novosti-ukrainy-11415166.html?, Zugriff 10.5.2021

?        UP – Ukrainska Prawda (7.5.2021): ??????? ?????? ? ??????? ????? ???????? – ???????? [In der Ukraine dritte Pandemiewelle vorbei – Stepanow], https://www.pravda.com.ua/news/2021/05/7/7292748/, Zugriff 10.5.2021

?        WKO – Wirtschaftskammer [Österreich] (30.4.2021): Coronavirus: Situation in der Ukraine, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-ukraine.html, Zugriff 10.5.2021

Politische Lage

Letzte Änderung: 09.07.2020

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus seien rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).

Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).

Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

?        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail

?        Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/, Zugriff 22.5.2020

?        DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020

?        DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-for-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

?        FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020

?        Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/looming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020

?         KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cn-reloaded=1, Zugriff 25.5.2020

?        RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020

?        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-year-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html, Zugriff 25.5.2020

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.07.2020

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

?        KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020

?        SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 09.07.2020

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wiederherzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

?        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 09.07.2020

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).

Die Möglichkeit von NGOs, sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, IDPs, Roma, Menschen mit Behinderungen, und von Russland inhaftierte politische Gefangene. Sie ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdrücklich vor. Auch im Übrigen gibt es keine rechtlichen Benachteiligungen. Nach ukrainischem Arbeitsrecht genießen Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Tatsächlich werden sie jedoch häufig schlechter bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert. Nach 2018 kam es auch am 8. März 2019 bei Veranstaltungen und Paraden zum Frauentag in mehreren Städten zu Zwischenfällen mit rechten Gruppierungen (AA 29.2.2020). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember 2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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