Entscheidungsdatum
23.07.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I405 2191100-1/26E
I405 2212862-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerden von
1.) XXXX (auch XXXX ) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.02.2018, Zl. XXXX ,
2.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.11.2018, Zl. XXXX ,
vertreten durch RAe LECHENAUER & SWOZIL, Hubert-Sattler-Gasse 10, 5020 Salzburg, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.12.2020, zu Recht:
A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) iVm §§ 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Dauer für unzulässig erklärt. XXXX (auch XXXX ) XXXX wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" und Kamsi Kimberly CHUKWU wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung " für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) ist Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2).
2. Die BF1 reiste irregulär in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte erstmals am 10.01.2016 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz.
3. Sie wurde am 11.01.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und brachte als Fluchtgrund vor, dass sie ihre Heimat verlassen habe, weil sie sich dort von den Einheimischen gefürchtet habe. Es würden jeden Tag zahlreiche Menschen aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses ermordet.
4. Am 10.03.2017 wurde die BF1 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Igbo und ihres christlichen Glaubens in ihrem Wohnort in Nordnigeria Probleme zu haben. Des Weiteren habe sie familiäre Probleme gehabt. Ihre Tante väterlicherseits habe ihren Bruder und den einzigen männlichen Nachkommen ihres Vaters vergiftet und die Familie somit um ihr Erbe betrogen.
5. Mit Bescheid vom 02.06.2017, Zl. 1101539610-160042905/BMI-BFA_SBG_AST_01_TEAM_04, wies die belangte Behörde den Antrag der BF1 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II) als unbegründet ab. Sie erteilte der BF1 keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III). Zugleich erkannte sie einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV).
6. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.07.2017, Zl. I415 2162594-1/3E, als unbegründet abgewiesen.
7. Am 08.09.2017 stellte die BF1 den gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz.
8. Sie wurde hierzu am selben Tag einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen. Dabei gab sie an, dass sie seit ihrem ersten Asylantrag das Bundesgebiet nicht verlassen habe. Den gegenständlichen Antrag stelle sie, da sie schwanger sei und wegen ihrer Beschneidung auf Baktrien sehr anfällig sei. Sie könne wegen den mangelhaften Hygienebedingungen nicht nach Nigeria zurückkehren, zumal dort ihr Leben bzw. das ihres ungeborenen Kindes gefährdet wäre.
9. Am 24.01.2018 wurde die BF1 durch das BFA niederschriftlich einvernommen und führte zur Begründung ihres gegenständlichen Antrages an, dass sie schwanger sei und nicht wolle, dass ihr Kind in Nigeria einer Beschneidung unterzogen werde.
10. Mit angefochtenem Bescheid des BFA vom 09.02.2018 wurde der gegenständliche Antrag der BF1 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II.). Mit Spruchpunkt III. wurde der BF1 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF1 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen eingeräumt (Spruchpunkt VI.).
11. Gegen diesen Bescheid richtet sich die rechtzeitig beim BFA eingebrachte Beschwerde, worin inhaltliche Rechtswidrigkeit, mangelhafte bzw. unrichtige Begründung sowie Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung der Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden.
12. Mit Schriftsatz vom 28.03.2018, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 06.04.2018, legte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
13. Am XXXX wurde die minderjährige BF2 als Tochter der BF1 und des XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, in Österreich nachgeboren.
14. Für sie wurde von ihrer gesetzlichen Vertretung, der BF1 am 19.11.2018 im Familienverfahren iSd § 34 AsylG 2005 der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
15. Mit angefochtenem Bescheid des BFA vom 27.11.2018 wurde der gegenständliche Antrag der BF2 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II.). Mit Spruchpunkt III. wurde der BF2 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF2 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen eingeräumt (Spruchpunkt VI.).
16. Gegen diesen Bescheid richtet sich die rechtzeitig beim BFA eingebrachte Beschwerde, worin inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend gemacht wurde.
17. Mit Schriftsatz vom 11.01.2019, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 15.01.2019, legte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
18. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.12.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Englisch, der BF1 und der BF2, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung sowie des Ehemannes der BF1 bzw. des Vaters der BF2 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde die BF1 über die Gründe für ihren gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und ihre privaten und familiären Verhältnisse einvernommen, auch ihr Ehemann bzw. der Vater der BF2 wurde zu seinen privaten und familiären Verhältnissen als Zeuge einvernommen. Es wurden auch die im Akt zur jederzeitigen Einsicht befindlichen Länderfeststellungen zu Nigeria samt den Erkenntnisquellen erörtert und den BF die Möglichkeit einer Stellungnahme eingeräumt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Festgestellt wird:
1.1. Zur Person und zum Fluchtvorbringen der BF:
Die BF1 ist Mutter der BF2. Sie sind Staatsangehörige von Nigeria, Angehörige der Volksgruppe Ibo und christlichen Glaubens. Ihre Identität steht fest.
Die BF1 verfügt über eine mehrjährige Schulbildung und Berufserfahrung als Friseurin. Vor Ihrer Ausreise lebte die BF2 im Imo State. Ihre Familie lebt nach wie vor dort. Des Weiteren lebt eine Schwägerin der BF1 im Imo State.
Die BF1 reiste im Jänner 2016 irregulär ins Bundesgebiet ein und und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid der belangten Behörde vom vom 02.06.2017 abgewiesen wurde. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde vom erkennenden Gericht mit Erkenntnis vom 21.07.2017 als unbegründet abgewiesen.
In der Folge stellte sie aufgrund ihrer Schwangerschaft mit der BF2 am 08.09.2017 den nunmehrigen Antrag auf internationalen Schutz.
Die BF2 wurde am XXXX geboren und stellte die BF1 für sie als gesetzliche Vertretung am 22.11.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Sie ist die gemeinsame Tochter der BF1 und des XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, mit welchem die BF1 seit XXXX .2018 verheiratet ist. Sie leben seit Oktober 2017 im gemeinsamen Haushalt. Der Genannte verfügt über einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ und geht einer regelmäßigen Beschäftigung nach und trägt somit den wesentlichen Teil der Lebenserhaltungskosten, auch wenn die BF Grundversorgungsleistungen beziehen.
Die BF1 und BF2 leiden weder an einer schweren Krankheit noch sind sie längerfristig pflege- oder rehabilationsbedürftig. Die BF1 ist derzeit schwanger, der errechnete Gebutstermin ist der 03.01.2022.
Die BF1 geht im Bundesgebiet keiner Beschäftigung nach. Sie hat Deutschkurse besucht und die Detuschprüfung (A2) absolviert. Sie verfügt auch über freundschaftliche Kontakte.
Die BF1 wurde mit Urteil des LG S. vom 15.02.2021 wegen § 27 Abs. 1 1., 2. und 8. Fall SMG zu einer Geldstrafe im Ausmaß von 80 Tagessätzen zu je EUR 4,00, im Nichteinbringungsfall 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Die BF2 ist strafunmündig.
Die BF1 hat ihren gegenständlichen Antrag mit der der BF2 drohenden Zwangsbeschneidung begründet, eigene, neue Fluchtgründe hat sie nicht vorgebracht. Es kann aber mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die BF2 von einer solchen Gefahr im Falle einer Rückkehr bedroht wäre. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die BF aus sonstigen Gründen in Nigeria aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurde oder werden wird.
Die BF1 kann gemeinsam mit ihrer Tochter, der BF2 nach Nigeria zurückkehren, sie werden dort in keine die Existenz bedrohende Lage geraten.
1.2. Zur Lage in Nigeria:
1.2.1. Sicherheitslage
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. IPOB ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).
In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 16.4.2020).
Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen auf dem Landweg in die nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Von nicht erforderlichen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias, in die Bundesstaaten Sokoto, Katsina und Jigawa wird abgeraten. Von Reisen in die folgenden Bundesstaaten wird abgeraten, sofern diese nicht direkt auf dem Luftweg in die jeweiligen Hauptstädte führen: in Zentral-und Nord-Nigeria Kaduna, Zamfara, Kano und Taraba, in Südnigeria: Ogun, Ondo, Ekiti, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Anambra, Enugu, Abia, Ebonyi und Akwa Ibom. Auch von Reisen in die vorgelagerten Küstengewässer, Golf von Guinea, Nigerdelta, Bucht von Benin und Bucht von Bonny, wird abgeraten (AA 16.4.2020).
In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 16.4.2020). Das britische Außenministerium warnt vor Reisen nach Borno, Yobe, Adamawa und Gombe, sowie vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta, sowie Reisen nach Zamfara näher als 20 km zur Grenze mit Niger. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zu Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers, und Reisen im Bundesstaat Niger im Umkreis von 20km zur Grenze zu den Staaten Kaduna und Zamfara, westlich des Flusses Kaduna (UKFCO 15.4.2020). Gewaltverbrechen sind in bestimmten Gebieten Nigerias ein ernstes Problem, ebenso wie der Handel mit Drogen und Waffen (FH 1.2019).
In der Zeitspanne April 2019 bis April 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.712), Zamfara (685), Kaduna (589) und Katsina (392). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (3), Kano (7), Jigawa (7), Kwara (8), Enugu (8) und Ekiti (9) (CFR 2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AA - Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise
(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, 16.4.2020
- CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019
- EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020
- FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2019, Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2019, Zugriff 17.4.2020
- UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (15.4.2020): Foreign Travel Advice – Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 16.4.2020
1.2.2. Frauen
Auch wenn die Verfassung Gleichberechtigung vorsieht (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020), kommt es zu beachtlicher ökonomischer Diskriminierung von Frauen (USDOS 11.3.2020). Frauen werden in der patriarchalischen und teilweise polygamen Gesellschaft Nigerias in vielen Rechts- und Lebensbereichen benachteiligt, v.a. dort, wo traditionelle Regeln gelten (AA 16.1.2020). So sind Frauen in vielen Landesteilen aufgrund von Gewohnheitsrecht von der Erbfolge nach ihrem Ehemann ausgeschlossen (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Vor allem im Osten des Landes müssen sie entwürdigende und die persönliche Freiheit einschränkende Witwenzeremonien über sich ergehen lassen. Z.B. werden sie gezwungen, sich den Kopf zu rasieren oder das Haus für einen bestimmten Zeitraum nicht zu verlassen oder sind rituellen Vergewaltigungen ausgesetzt. Darüber hinaus können Frauen im Norden zum Teil keiner beruflichen Betätigung nachgehen, weil sie die familiäre Wohnung ohne Begleitung eines männlichen Angehörigen nicht verlassen dürfen (AA 16.1.2020). Die geschlechtsspezifische Diskriminierung im Rechtssystem konnte allerdings reduziert werden (BS 2020; vgl. LHRL 9./10.2019).
Frauen ist es in Nigeria gesellschaftlich nicht zugedacht, Karriere zu machen. Männer gelten als Versorger der Familie (WRAPA 9./10.2019). Auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) spielen Frauen kaum eine Rolle. Jene mit Sekundär- und Tertiärbildung haben Zugang zu Arbeitsplätzen in staatlichen und öffentlichen Institutionen. Immer mehr Frauen finden auch Arbeit im expandierenden Privatsektor (z.B. Banken, Versicherungen, Medien). Einige Frauen besetzen prominente Posten in Regierung und Justiz, z.B. eine Richterin beim Obersten Gerichtshof und die Finanzministerin (BS 2020). Üblicherweise ist es für Frauen und alleinstehende Mütter möglich, Arbeit zu finden (WRAPA 9.10.2019; vgl. EMB A 9./10.2019; EMB B 9./10.2019). Die Art der Arbeit hängt von der Bildung ab (EMB A 9./10.2019). Demgegenüber steht eine hohe Arbeitslosigkeit und ein geringes Jobangebot (WRAPA 9./10.2019; vgl. EMB B).
Rechtlich ist keine Vorschrift vorhanden, die gleiche Bezahlung für Frauen und Männer für gleichwertige Tätigkeiten festschreibt. Es gibt auch kein Diskriminierungsverbot bei der Einstellung von Angestellten. Im formalen Sektor bleiben Frauen unterrepräsentiert, während sie in der informellen Wirtschaft eine bedeutende Rolle spielen (Landwirtschaft, Nahrungsmittel, Märkte, Handel) (USDOS 11.3.2020).
Das Gesetz Violence Against Persons Prohibition Act (VAPP) befasst sich mit sexueller, körperlicher, psychologischer und sozioökonomischer Gewalt sowie mit schädlichen traditionellen Praktiken. Laut dem VAPP stellen häusliche Gewalt, gewaltsames Hinauswerfen des Ehepartners aus der gemeinsamen Wohnung, erzwungene finanzielle Abhängigkeit, verletzende Witwenzeremonien, Genitalverstümmelung (FGM/C) usw. Straftatbestände dar. Opfer haben Anspruch auf umfassende medizinische, psychologische, soziale und rechtliche Unterstützung. Mit Stand September 2019 ist das Gesetz in neun Bundesstaaten ratifiziert worden. Es ist im Federal Capital Territory (FCT) und den Bundesstaaten Anambra, Benue, Ebonyi, Edo, Ekiti, Enugu, Kaduna und Oyo gültig, in anderen Bundesstaaten erst, sobald es dort verabschiedet wird (USDOS 11.3.2020). Bis dato [Stand: Oktober 2019] wurde noch kein Fall unter Anwendung des VAPP vor Gericht gebracht (WRAPA 9./10.2019).
Häusliche Gewalt ist weit verbreitet und wird sozial akzeptiert, die Polizei schreitet oft nicht ein. In ländlichen Gebieten zögern Polizei und Gerichte, in Fällen aktiv zu werden, in welchen die Gewalt das traditionell akzeptierte Ausmaß des jeweiligen Gebietes nicht übersteigt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist in Nigeria auf nationaler Ebene nicht unter Strafe gestellt. Einige Bundesstaaten, hauptsächlich im Süden gelegene, haben Gesetze, die geschlechtsspezifische Gewalt verbieten oder versuchen bestimmte Rechte zu schützen. Für häusliche Gewalt sieht das VAPP eine Haftstrafe von maximal drei Jahren, eine Geldstrafe von höchstens 200.000 Naira oder eine Kombination von Haft- und Geldstrafe vor (USDOS 11.3.2020). Im Falle von häuslicher Gewalt kann sich das Opfer an die Polizei wenden, jedoch besteht das Risiko, dass die Betroffene wieder nach Hause geschickt wird (LHRL 9./10.2019; vgl. LNGO A 9./10.2019). Sollte sie hingegen verletzt sein, würde der Ehemann inhaftiert werden (LHRL 9./10.2019). Abuja verzeichnet die höchste Rate von häuslicher Gewalt, auch aus diesem Grund gibt es aber in Abuja viele von Frauen geführte Haushalte. Auch in anderen Städten wie Lagos oder Port Harcourt sind Frauen nun besser sensibilisiert und verlassen Beziehungen, in denen Missbrauch vorkommt. Sie können allerdings vermehrt Stalking, Gewalt oder gar Ermordung durch den Ex-Partner ausgesetzt sein. In ländlichen Gegenden ist die Sensibilisierung der Frauen weniger vorangeschritten und es ist für sie schwieriger, sich Gewalt in der Beziehung zu entziehen (WRAPA 9./10.2019).
Vergewaltigung steht unter Strafe. Gemäß dem VAPP beträgt das Strafmaß zwischen zwölf Jahren und lebenslänglicher Haft für Straftäter, die älter als 14 Jahre sind. Es sieht auch ein öffentliches Register von verurteilten Sexualstraftätern vor. Auf lokaler Ebene sorgen Schutzbeamte, die sich mit Gerichten koordinieren, dafür, dass die Opfer relevante Unterstützung bekommen. Das Gesetz enthält auch eine Bestimmung, welche Gerichte dazu ermächtigt, Vergewaltigungsopfern eine angemessene Entschädigung zuzusprechen. Da das VAPP bis dato aber nur in wenigen Bundesstaaten ratifiziert wurde, gelten in den meisten Vergewaltigungsfällen bundesstaatliche strafrechtliche Regelungen. Vergewaltigungen bleiben weit verbreitet. Aus einer Studie geht hervor, dass eines von vier Mädchen und einer von zehn Buben vor dem 18. Geburtstag sexueller Gewalt ausgesetzt war (USDOS 11.3.2020).
Das Bundesgesetz kriminalisiert seit 2015 Genitalverstümmlung (FGM/C) auf nationaler Ebene (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; GIZ 3.2020b), dieses Gesetz ist aber bisher nur in einzelnen Bundesstaaten umgesetzt worden (AA 16.1.2020), nach anderen Angaben gilt es bis dato nur im FCT. 13 andere Bundesstaaten haben ähnliche Gesetze verabschiedet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 11.2018b). Die Regierung unternahm im Jahr 2019 keine Anstrengungen, FGM/C zu unterbinden (USDOS 11.3.2020). Andererseits wird mit unterschiedlichen Aufklärungskampagnen versucht, einen Bewusstseinswandel einzuleiten. Bei der Verbreitung gibt es erhebliche regionale Unterschiede. In einigen – meist ländlichen – Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd ist die Praxis weit verbreitet, im Norden eher weniger (AA 16.1.2020). Die Verbreitung von FGM ist jedenfalls zurückgegangen (NHRC 9./10.2019; vgl. LHRL 9./10.2019; WRAPA 9./10.2019). Während im Jahr 2013 der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen noch bei 24,8 Prozent lag, waren es 2017 nur noch 18,4 Prozent (EASO 11.2018b).
Für Opfer von FGM/C bzw. für Frauen und Mädchen, die von FGM/C bedroht sind, gibt es Schutz und/oder Unterstützung durch staatliche Stellen und NGOs, wiewohl davon auszugehen ist, dass es schwierig ist, staatlichen Schutz außerhalb des FCT zu erhalten. Die Verfassung und Gesetze sehen interne Bewegungsfreiheit für alle vor, unabhängig von Alter oder Geschlecht. Die Bewegungsfreiheit der Frauen und Kindern aus muslimischen Gemeinden in den nördlichen Regionen ist jedoch stärker eingeschränkt (UKHO 8.2019). Je gebildeter die Eltern, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ihre Kinder beschneiden lassen. Wenn der Vater die Mutter bei ihrer Weigerung, das gemeinsame Kind beschneiden zu lassen, unterstützt, dann können die Eltern dies auch verhindern. Allerdings gab es v.a. in der Vergangenheit Einzelfälle, wo Großeltern ein Kind beschneiden ließen (NHRC 9./10.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020
- EASO - European Asylum Support Office (11.2018b): Country of Origin Information Report - Nigeria - Targeting of individuals, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001375/2018_EASO_COI_Nigeria_TargetingIndividuals.pdf, Zugriff 11.4.2019, S129ff
- EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 20.4.2020
- EMB A - westliche Botschaft A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
- EMB B - westliche Botschaft B (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020b): Nigeria - Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 20.4.2020
- Iroko - Assoziazione onlus (21.3.2018): Oba of Benin (Edo State) revokes curses on victims of trafficking, http://www.associazioneiroko.org/slide-en/oba-of-benin-edo-state-revokes-curses-on-victims-of-trafficking/, Zugriff 20.4.2020
- LHRL - Lokaler Menschenrechtsanwalt (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
- LNGO A - Repräsentantin der lokalen NGO A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
- NHRC - National Human Rights Commission (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria
- UKHO - United Kingdom Home Office (12.2013): Operational Guidance Note - Nigeria, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1387367781_nigeria-ogn.pdf, Zugriff 21.4.2020
- UKHO - United Kingdom Home Office (8.2019): Country Information and Guidance Nigeria: Nigeria:Female Genital Mutilation (FGM), https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/825243/Nigeria_-_FGM_-_CPIN_-_v2.0__August_2019_.pdf, Zugriff 21.4.2020
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 20.4.2020
- Vanguard (10.3.2019): “Our gods will destroy you”; Oba of Benin curse human traffickers, https://www.vanguardngr.com/2018/03/gods-will-destroy-oba-benin-curse-human-traffickers/, Zugriff 20.4.2020
- WRAPA - Anisa Ari, Snr. Program Coordinator; Umma Rimi, Programme Officer, NGO Women’s Rights Advancement and Protection Alternative (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
1.2.3. Kinder
1.2.3.1. Allgemeine Situation
Die Rechte des Kindes werden in Nigeria nur unzureichend gewährleistet. Der Child Rights Act, mit dem die UN-Kinderrechtskonvention in nationales Recht umgesetzt werden soll, wurde bislang lediglich von 24 (AA 16.1.2020), nach anderen Angaben von 25 der 36 Bundesstaaten ratifiziert (USDOS 11.3.2020). Insbesondere die nördlichen Bundesstaaten sehen in einigen Bestimmungen (Rechte des Kindes gegenüber den eigenen Eltern, Mindestalter für Eheschließungen) einen Verstoß gegen die Scharia (AA 16.1.2020).
Der Child Rights Act sieht bei einer Eheschließung ein Mindestalter von 18 Jahren vor. Vor allem die nördlichen Bundesstaaten halten sich nicht an das offizielle Mindestalter auf Bundesebene (USDOS 11.3.2020). Kinderehen, in denen Mädchen in jungen Jahren mit zumeist älteren Männern verheiratet werden, sind folglich vor allem im Norden des Landes verbreitet. Insgesamt heiraten schätzungsweise 43 Prozent der Mädchen unter 18 Jahren und 17 Prozent unter 15 Jahren (AA 16.1.2020). Im Fall einer Kinderehe ist kein staatlicher Schutz verfügbar, nicht einmal im Süden, wo die Fallzahlen niedriger sind (INGO 9./10.2019).
Mit traditionellen Glaubensvorstellungen verbundene Rituale und der in Bevölkerungsteilen verbreitete Glaube an Kinderhexen, führen zu teils schwersten Menschenrechtsverletzungen (Ausgrenzung, Aussetzung, Mord) an Kindern, insbesondere an Kindern mit Behinderungen (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entsprechende Fälle werden überwiegend aus der südlichen Hälfte Nigerias berichtet, besonders gehäuft aus dem Südosten und den Bundesstaaten Akwa Ibom und Edo (AA 16.1.2020).
Gesetzlich sind die meisten Formen der Zwangsarbeit verboten, auch die von Kindern, und es sindausreichend harte Strafen vorgesehen. Die Durchsetzung der Gesetze bleibt jedoch in weiten Teilen des Landes ineffektiv. Daher ist Zwangsarbeit –u.a. bei Kindern –weit verbreitet. Frauen und Mädchen müssen als Hausangestellte, Buben als Straßenverkäufer, Diener, Minenarbeiter, Steinbrecher, Bettler oder in der Landwirtschaft arbeiten (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA -Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl-und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- INGO E -Repräsentantin der internationalen NGO E (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)
- UNICEF -United Nations International Children’s Emergency Fund (o.D.): The situation, https://www.unicef.org/nigeria/protection.html
- USDOS -U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices
1.2.3.2. ACCORD-Anfragebeantwortung zu Nigeria vom 19.04.2019: Informationen zur allgemeinen Versorgungs- und Gefährdungslage insbesondere für männliche Minderjährige; (…) Möglichkeiten für eine Kinderbetreuung außerhalb des familiären Rahmens; Zugang zu Bildung und Kosten [a-10958]
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund, UNICEF) schreibt in einem im Juni 2018 veröffentlichten Finanzbericht zur Bewertung des Schutzes von Kinder (erstellt durch das Ministerium für das Budget und Nationale Planung und das Bundesministerium für die Angelegenheiten von Frauen und Soziale Entwicklung in enger Zusammenarbeit mit UNICEF), dass über 50 Prozent der Kinder bei ihrer Geburt nicht registriert würden. Deshalb könnte über die Hälfte der Kinder in Nigeria folgenden Risiken ausgesetzt sein: kein Schulbesuch ab dem vorgesehenen Alter, kein Zugang zu Gesundheits- und Impfdiensten, Zwangsehe, kein spezieller rechtlicher Schutz, keine angemessene Gesundheitsversorgung, keine Sicherstellung des Rechts auf Staatsbürgerschaft, kein Recht auf einen Reisepass, keine Identifizierung im Falle von Menschenhandel, kein Wahlrecht, Schwierigkeiten bei der Eröffnung eines Bankkontos oder bei der Arbeitssuche und kein Zugang zur Durchsetzung der Gesetze hinsichtlich des Mindestalters für Arbeit. Im Bundesstaat Lagos sei die höchste Rate der Geburtenregistrierung für die in der Studie untersuchten Bundesstaaten (Lagos, Gombe, Plateau, Cross River) verzeichnet worden (82,3%). Die Geburtenregistrierung in Lagos liege beträchtlich höher als der nationale Durchschnitt, der 46,9 Prozent betrage (UNICEF, Juni 2018, S. 8-9). Fünfzig Prozent der nigerianischen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren seien von Kinderarbeit betroffen und 40 Prozent hätten unter gefährlichen Bedingungen gearbeitet, so der Bericht weiters. Der Bundesstaat Cross River habe von den untersuchten Bundesstaaten mit 64,4Prozent die höchste Rate und Lagos mit 16,9 Prozent die niedrigste Rate von Kinderarbeit verzeichnet (UNICEF, Juni 2018, S. 9). Fast 19 Prozent der Kinder würden vor dem Alter von 15 Jahren heiraten. 27,1 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren hätten in Gombe unter 15 Jahren geheiratet. In Lagos liege der Prozentsatz diesbezüglich bei 3,5 Prozent (UNICEF, Juni 2018, S. 11). Dreißig Prozent der Kinder seien im Monat vor der Durchführung einer Umfrage vom Oktober 2017 (Multiple Index Cluster Survey, MICS) schwer körperlich bestraft worden. Die höchste Rate der schweren körperlichen Bestrafung der vier untersuchten Bundesstaaten sei mit 39 Prozent in Gombe aufgetreten. Lagos liege bei 26 Prozent. Früher durchgeführte Studien würden ebenfalls auf eine hohe Rate von Gewalt gegen Kinder hinweisen. Die Studie zu Gewalt gegen Kinder aus dem Jahr 2014, die von der Nationalen Bevölkerungskommission gemeinsam mit UNICEF und dem United States Centre for Disease Control durchgeführt worden sei, habe aufgezeigt, dass sechs von zehn Kindern Formen von körperlicher, sexueller oder emotionaler Gewalt vor einem Alter von 18 Jahren ausgesetzt seien. Über 70 Prozent aus dieser Gruppe seien wiederholt von Gewalt betroffen. Die Täter seien meist Personen, die das Kind kenne und die Gewalt werde oftmals zuhause ausgeübt, in der Wohnung des Nachbarn, in der Schule oder am Weg zur oder von der Schule. Der überwiegende Teil der Kinder würde aufgrund von Angst, Scham, Stigma und weil sie nicht wüssten, wo sie Hilfe suchen könnten, nie darüber sprechen. Weniger als fünf Prozent der Kinder, die Opfer von Gewalt würden, würden die Hilfe erhalten, die sie für eine Genesung brauchen würden (UNICEF, Juni 2018, S. 12).
Der Prozentsatz der Kinder, die mit keinem der beiden biologischen Elternteile leben würden, stelle eine stellvertretende Maßeinheit für „Kinder ohne angemessene Versorgung durch die Famile“ dar. Insgesamt 7,5 Prozent der Kinder würden nicht mit beiden Elternteilen leben. In Lagos liege der Prozentsatz nahe dem nationalen Durchschnitt (UNICEF, Juni 2018, S. 13).
UNICEF führe auf seiner Website an, dass der Menschenhandel von Kindern zum Zweck von häuslichen Diensten, Prostitution und anderen Formen ausbeuterischer Arbeit in Nigeria ein weit verbreitetes Phänomen sei. Kinder und Frauen würden mit Versprechen auf gutbezahlte Arbeit in städtischen Zentren oder im Ausland rekrutiert und zu spät erkennen, dass sie in ein Schuldverhältnis gelockt worden seien. Gewalt, Nötigung und Täuschung würden angewendet, um die Opfer ihren Familien wegzunehmen. Nigeria sei ein Quellen-, Transit- und Zielland für Frauen und Kinder, die von Menschenhandel betroffen seien. Es gebe gegenwärtig keine verlässlichen Schätzungen zur Anzahl der Kinder, die intern und extern von Menschenhandel betroffen seien, hauptsächlich aufgrund der illegalen Natur des Phänomens (UNICEF, Juni 2018, S. 13).
Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem Jahresbericht zur Menschenrechtslage vom März 2019 (Berichtszeitraum 2018), dass die Misshandlung von Kindern landesweit weiterhin weit verbreitet sei. Die Regierung habe jedoch keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um dies zu bekämpfen. Laut einer im Jahr 2015 veröffentlichten Studie zu Gewalt gegen Kinder in Nigeria hätten etwa sechs von 10 Kindern unter einem Alter von 18 Jahren in ihrer Kindheit Formen von körperlicher, emotionaler oder sexueller Gewalt erfahren.
Eines von zwei Kindern habe körperliche Gewalt, eines von vier Mädchen und einer von zehn Jungen sexuelle Gewalt und eines von sechs Mädchen und einer von fünf Jungen emotionale Gewalt erfahren. 2010 habe das Ministerkomitee zur Madrassa-Bildung berichtet, dass 9,5 Millionen Kinder als „Almajiri“ gearbeitet hätten. Dabei handle es sich um arme Kinder aus ländlichen Gebieten, die von ihren Eltern in städtische Gebiete geschickt würden. Anstelle Bildung zu erhalten, seien viele Almajiri gezwungen worden, manuelle Arbeit zu verrichten oder für ihren Lehrer betteln zu gehen. Die religiösen Lehrer würden die Kinder oftmals nicht mit ausreichend Unterkunft und Nahrung versorgen und viele der Kinder seien faktisch obdachlos geworden. In einigen Bundesstaaten seien Kinder, die der Hexerei beschuldigt worden seien, getötet oder unter anderem entführt und gefoltert worden (USDOS, 13. März 2019, Section 6).
Im November 2016 veröffentlichen die SOS-Kinderdörfern (SOS Children’s Villages International) einen Bericht der Autoren Graham Connelly und Saater Ikpaahindi. Dieser wurde im Auftrag der Generaldirektion für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung der Europäischen Kommission (European Commission Directorate-General for International Cooperation and Development, DG DEVCO) erstellt. Der Bericht bezieht sich auf eine UNICEF Studie aus dem Jahr 2015 zum alternativen Fürsorgesystem in Nigeria des Autors F. Abraham, die ergeben habe, dass „informelle Fürsorge durch Verwandte“ die am weitetsten verbreitete Form der Fürsorge sei. Diese werde nach traditionellen Praktiken arrangiert, wobei Kinder im weiteren Familienkreis integriert würden. Die Studie erwähne zudem die Existenz von informeller Pflegefürsorge, bei der ein Kind einem Freund oder einer Freundin der Familie übergeben werde. Die Nationale Menschenrechtskommission habe gegenüber den Autoren des Berichts vom November 2016 angegeben, dass sie viele Beschwerden die informelle Pflegefürsorge betreffend erhalten habe. Diese Beschwerden würden sich auf die Ausbeutung von Kindern beziehen, die unter dem Deckmantel von Fürsorge und Bildung Arbeit verrichten müssten.
Einige Interviewpartner hätten zudem angeführt, dass in einigen Gemeinschaften das Problem bestehe, dass Kinder von den erweiterten Familien zurückgewiesen würden. Körperliche und sexuelle Misshandlung von Kindern, die zu Familien in den Städten geschickt worden seien, sei ebenfalls ein wachsendes Problem. Formelle Fürsorge beinhalte Pflegeheime, Pflegeunterbringung und Adoption. Pflegeheime seien die am weitesten verbreutete Art formeller alternativer Fürsorge in Nigeria. Die Studie aus dem Jahr 2015, bei der 30 Pflegeheime untersucht worden seien, habe in vielen Einrichtungen „extreme Überbelegung“ festgestellt. Die Studie von 2015 habe große Unterschiede sowohl hinsichtlich der Kapazität (acht bis 500) als auch der Anzahl der untergebrachten Kinder (keine bis 732) ergeben. Der Großteil der Pflegeheime würde von Wohltätigkeitsorganisationen verwaltet, darunter religiöse Organisationen, oder von unabhängigen Eigentümern. Sehr wenige würden direkt von der Regierung verwaltet, obwohl Regierungsbehörden zu den Ressourcen beitragen würden (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 34).
Die Abteilung zur Entwicklung von Kindern des Bundesministeriums für die Angelegenheiten von Frauen und gesellschaftliche Entwicklung habe im Jahr 2007 unter mithilfe von UNICEF eine Studie zu Waisenhäusern und anderen Einrichtungen zur Fürsorge von Kindern durchgeführt, so der Bericht vom November 2016 weiters. Die Studie habe nur Einrichtungen untersucht, die von den Regierungen der Bundesstaaten anerkannt oder registriert worden seien. Von den 142 Waisenhäusern in der Studie seien drei anerkannt gewesen, jedoch nicht registriert. Im Vorwort der Studie hätten die Autoren angegeben, dass 55 Einrichtungen in einer zwei Jahre zuvor durchgeführten Studie nicht enthalten gewesen seien und dass etwa ein halbes Dutzend Einrichtungen nicht mehr tätig seien. Dies sei ein Hinweis auf die Fluidität der Lage (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 36).
Fast die Hälfte der Waisenhäuser befände sich in Privatbesitz, ein Viertel würde von Behörden der Bundesstaaten betrieben, fast ein Viertel von Glaubenseinrichtungen und vier Prozent von NGOs. Die Autoren des Berichts vom November 2016 seien angesichts der Bedeutung von NGOs in Nigeria von diesem geringen Prozentsatz überrascht gewesen (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 36).
Vorschriften für formelle Pflegefürsorge durch Nicht-Verwandte und Adoption seien in Nigeria noch nicht weitverbreitet. In allen südlichen Bundesstaaten gebe es Adoptionsgesetze. Das Scharia-Recht sehe keine Adoption vor. In einem kürzlich erschienenen wissenschaftlichen Bericht sei angemerkt worden, dass die Praxis der Adoption in Nigeria zunehme. Die öffentliche Wahrnehmung habe sich aufgrund von Medienberichten, persönlicher Aussagen, Sozialforschung und anderer Quellen verbessert (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 37).
Nur eine Organisation in einem Bundesstaat habe im Rahmen der Studie von 2015 über eine erfolgreiche Aufnahme von Kindern in Pflegefürsorge berichtet bzw. geantwortet. Scheinbar seien in keinem anderen Bundesstaat Aufzeichnungen zur Unterbringung in Pflegefürsorge geführt worden (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 38).
Den Autoren des Berichts hätten von Kindern erfahren, die auf den Straßen von Lagos aufgegriffen, von Organisationen gerettet und zu ihren Familien (die Unterstützung erhalten hätten) gebracht worden seien, aber wieder auf der Straße gelandet seien. Den Autoren sei über derartige Fälle berichtet worden, die sich in dieser Abfolge mehrmals wiederholt hätten (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 29).
Den Autoren des Berichts vom November 2016 sei zudem der Fall einer 12-Jährigen, die zwischen zwei und drei Tage auf einer Polizeistation (jedoch nicht in einer Zelle) in Lagos festgehalten worden sei. Ein Anwalt habe die Polizeistation besucht und habe darauf bestanden, dass das Kind zu einer der zwei Spezialeinheiten für die Wohlfahrt von Kindern der
Polizei von Lagos gebracht werde. Der Anwalt habe angegeben, dass örtliche Polizeibeamte nicht für die Arbeit mit Kindern ausgebildet seien und es unzureichend Spezialbeamte im Vergleich zur Bevölkerungsgröße von Lagos gebe (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 30).
Mehrere Interviewpartner hätten angegeben, dass das Bewusstsein gegenüber Gewalt innerhalb der Familien wachse und es Beispiele für gute Arbeit der Regierung und von NGOs gebe, Bildung zu gewaltfreien Ansätzen der Erziehung von Kindern zu fördern, damit sexuelle
und körperliche Gewalt innerhalb von Familien nicht mehr akzeptiert werde. Der Bericht erwähnt in diesen Zusammenhang etwa ein Heft, das vom Einsatzteam für häusliche und sexuelle Gewalt des Bundesstaates Lagos produziert worden sei und ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt, ausgearbeitet vom Ministerium für die Angelegenheiten von Frauen und die Abwendung von Armut des Bundesstaates Lagos. Trotzdem ist nur ein niedriges Bewusstsein zum durch Gewalt verursachte Schäden vorhanden und es gebe für Kinder nur wenige Möglichkeiten Anzeige zu erstatten und Hilfe zu suchen (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 30-31).
Der Bericht erwähnt weiters, dass nur im Bundesstaat Lagos Familiengerichte funktionsfähig seien. Der Bundesstaat Lagos habe mit dem Gesetz zu den Rechten von Kindern von 2007 ein Familiengericht eingerichtet, das sich mit Streitigkeiten betreffend Vormundschaft, Sorgerecht und Adoption, die nicht in Verbindung mit Ehesachen stehe, befasse (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 46).
Lagos verfüge über zwei Spezialeinrichtungen der Polizei, die Fälle, die Kinder betreffen, untersuchen würden. Die Autoren des Berichts vom November 2016 hätten mit einem hohen Beamten einer der beiden Einrichtungen gesprochen. Dieser habe ihnen gegenüber angeführt, dass etwa 80 Prozent der Arbeit der Einrichtung aus Ermittlungen zu Fällen von ausgesetzten Babys und der Arrangierung der Wohlfahrtsmaßnahmen für Kinder bestehe. Die Rolle der Spezialabteilung beinhalte Fälle von ausgesetzten Kindern, den Schutz von Kindern vor unmittelbarer Gefahr, darunter die Bereitstellung vorübergehender Unterkunft; Suche und Zusammenführung der Kinder mit ihren Familien; Überweisungen an Wohlfahrtseinrichtungen und das Familiengericht (Connelly; Ikpaahindi, November 2016, S. 47).
Zugang zu Bildung und Kosten
Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem Jahresbericht zur Menschenrechtslage vom März 2019 (Berichtszeitraum 2018), dass das Gesetz für jedes Kind im Grundschul- oder Hauptschulalter die Bereitstellung einer gebührenfreien, verpflichtenden und allgemeineren Grundausbildung vorsehe. Öffentliche Schulen seien qualitativ unterdurchschnittlich und viele Kinder seien aufgrund einer eingeschränkten Anzahl
an Einrichtungen vom Zugang ausgeschlossen. Der Großteil der Finanzierung erfolge durch die Bundesregierung. Die Regierungen der Bundesstaaten müssten einen Anteil leisten. Die öffentlichen Investitionen würden nicht ausreichen, um eine allgemeine Grundausbildung zu erreichen. Die Budget-Abwicklung sei regelmäßig weit unter dem bestätigten Finanzierungsniveau gelegen. Die gestiegenen Aufnahmezahlen hätten zu Hindernissen bei der Sicherstellung qualitativ hochwertiger Bildung geführt. UNICEF zufolge seien auf einen oder eine LehrerIn 100 SchülerInnen gekommen. Von den etwa 30 Millionen Kindern im Primärschulalter, seien schätzungsweise 10,5 Millionen nicht an formell anerkannten Schulen eingeschrieben. Die niedrigsten Schulbesuchszahlen seien im Norden mit 45 Prozent der Jungen und 35 Prozent der Mädchen verzeichnet worden. Etwa 25 Prozent der Personen zwischen 17 und 25 Jahren hätten weniger als zwei Jahre Bildung erhalten. Der im Jahr 2015 durchgeführten Studie zu Bildungsstatistiken zufolge seien die Schulbesuchszahlen bei Primärschulen landesweit bei 68 Prozent gelegen. Jungen im Schulalter hätten wahrscheinlicher eine Primärschule besucht als Mädchen. Im Nordosten seien die Schulbesuchszahlen für Primärschulen am niedrigsten gelegen. Der wichtigste Grund dafür seien die Aufstände durch Boko Haram und die Gruppe Islamischer Staat in Westafrika (ISIS-WA) gewesen, die tausende Kinder von einem Schulbesuch in den Bundesstaaten Borno und Yobe abgehalten hätten (USDOS, 13. März 2019, Section 6).
Die nigerianische Tageszeitung Leadership erwähnt in einem Artikel vom März 2019, dass Bildung in Nigeria kostenlos und verpflichtend für Kinder bis zu einem Alter von fünfzehn Jahren sei. Recherchen der Zeitung hätten jedoch ergeben, dass in einigen öffentlichen Schulen des Landes Aufnahmegebühren und andere Abgaben gefordert würden. Das Programm zur kostenlosen Bildung habe das Ziel, die Anzahl der Kinder zu verringern, die keine Schule besuchen. Einem Bericht des Nationalen Rats für Bildung von 2018 zufolge, belege Nigeria weiterhin den ersten Platz auf der Liste der weltweiten Länder mit der höchstens Anzahl der Kinder, die keine Schule besuchen. Trotz einiger Initiativen der Regierung, wie das Programm zur Allgemeinen Grundbildung (Universal Basic Education, UBE), scheine das Programm nicht so zu funktionieren, wie angenommen (Leadership, 30. März 2019).
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 19. April 2019)
· ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Nigeria: Informationen zur Lage von RückkehrerInnen Versorgungslage, Programme seitens des Staates und NGOs zur Rückkehrunterstützung und Reintegration); Erwerbsmöglichkeiten für Jugendliche mit niedriger Schulbildung [a-10658], 18. Juli 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1442881.html
· Centre for Public Impact: Universal Basic Education in Nigeria, 17. Mai 2017
https://www.centreforpublicimpact.org/case-study/universal-basic-education-nigeria/
· Connelly, Graham; Ikpaahindi, Saater: Alternative Child Care and Deinstitutionalisation: A case study of Nigeria, November 2016 (veröffentlicht von SOS Children’s Villages International)
https://www.sos-childrensvillages.org/getmedia/dd26f0b6-fe9f-4769-8c29-
03551237a883/Nigeria-Alternative-Child-Care-and-Deinstitutionalisation-Report.pdf
· Copenhagen Consensus Center: Nigeria Perspective: Education, ohne Datum
https://www.copenhagenconsensus.com/publication/nigeria-perspective-education
· EASO – European Asylum Support Office: Nigeria; Key socio-economic indicators, November 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/2001365/2018_EASO_COI_Nigeria_KeySocioEconomi
c.pdf
· Leadership: Issues On Free Primary And Secondary Education In Nigeria, 30. März 2019
https://leadership.ng/2019/03/30/issues-on-free-primary-and-secondary-education-innigeria/
· UNICEF - United Nations Children's Fund: Nigeria; Education, ohne Datum
https://www.unicef.org/nigeria/education
· UNICEF - United Nations Children's Fund: A Financial Benchmark for Child Protection, Junic2018
https://www.unicef.org/nigeria/media/2226/file
· USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2018 -Nigeria, 13. März 2019 https://www.ecoi.net/de/dokument/2004182.html
1.2.3.3. Des Weiteren wird zum Zugang zu Bildung und Kosten Folgendes festgestellt:
In Nigeria besuchen laut UNICEF nur 61% der 6- bis 11-jährigen eine Schule, wobei die Situation im Norden des Landes besonders schlimm ist (https://www.unicef.org/nigeria/education). Die Regierung versucht aber die Situation zu verbessern (vgl. BBC Report, abrufbar unter https://www.bbc.co.uk/programmes/articles/3RbFXDdBw3g0HQG0fpyD0xF/why-nigerias-educational-system-is-in-crisis-and-how-to-fix-it).
1.2.4. Grundversorgung
Die nigerianische Wirtschaft hat sich 2017 allmählich aus der schlimmsten Rezession seit 25 Jahren erholt, das BIP ist um 0,55 Prozent gestiegen. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich die nigerianische Wirtschaft seit Ende 2017 allmählich wieder erholt, unter anderem eine Steigerung der Erdölförderleistung, die Erholung des Erdölpreises und eine verbesserte Leistung von Landwirtschaft und Dienstleistungssektor (GIZ 3.2020c). 2018 wurde ein Wachstum von 1,9 Prozent erreicht (AA 24.5.2019c).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 3.2020c). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 3.2020c). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 3.2020c) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung Buhari stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 3.2020c; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Das Land ist nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c). Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Aufgrund fehlender Transportmöglichkeiten verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten (ÖB 10.2019).
Die Prozentsätze der Unterernährung haben sich in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegen nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 3.2020b). Über 80 Prozent der ca. 190 Millionen Nigerianer leben unterhalb der Armutsgrenze - Tendenz steigend (GIZ 3.2020c). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 3.2020b). Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmittelpreise variieren ebenfalls nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 3.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 3.2020b).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 3.2020c).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).
Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und