Entscheidungsdatum
19.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W222 2241637-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch seine Richterin Mag. Obregon als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Indien, vertreten durch LegalFocus in 1100 Wien, Gudrunstraße 143/19, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.03.2021, 1275815008/210359408, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 15.03.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 16.03.2021 wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen. Hiebei gab er zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, es gebe seit längerem familiäre Streitigkeiten. Seine Onkel hätten seinen Vater wegen Grundstücken ermordet. Nun seien sie hinter dem Beschwerdeführer her. Deshalb habe er fliehen müssen. Er fürchte um sein Leben. Das seien alle seine Fluchtgründe.
Ebenfalls am 16.03.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er soweit wesentlich folgendes zu Protokoll (sprachliche Unzulänglichkeiten im Original):
„ . . .
F: Liegen Befangenheitsgründe oder sonstige Einwände gegen eine der anwesenden Personen vor?
A: Nein.
F: Sind Sie in der Lage, die Fragen des Einvernahmeleiters zu beantworten?
A: Ich kann Ihre Fragen beantworten.
F: Wie empfanden Sie die Erstbefragung? Gaben Sie die Wahrheit an?
A: Alles war in Ordnung. Ich gab die Wahrheit an.
R E I S E W E G
F: Sind Ihre Angaben zum Reiseweg (Anmerkung: Dem Asylwerber wurden die Angaben zum Reiseweg vom Einvernahmeleiter im Wesentlichen wiedergegeben.), die Sie anlässlich der vorangegangenen Einvernahmen machten, vollständig und wahrheitsgemäß?
A: Ja.
F: Reisten Sie legal oder illegal in Österreich ein?
A: Ich reiste illegal in Österreich ein.
F: Haben Sie sich jemals einen indischen Reisepass ausstellen lassen?
A: Ja ich hatte einen indischen Reisepass, aber in Moskau wurde mir der Reisepass vom Schlepper abgenommen.
F: Wo und wann haben Sie sich den Reisepass ausstellen lassen?
A: Vom Passamt XXXX , im Jahr 2019?
F: Sie gaben an mit einem Visum ausgereist zu sein. Wer hat dieses Visum organisiert/ ausgestellt?
A: Die Ausreise, alles Inklusive, wurde vom Schlepper organisiert. Auf Nachfrage das Visum war Original.
F: Waren Sie bezüglich des Visums persönlich auf einer Botschaft?
A: Nein.
F: Haben Sie diesbezüglich Anträge ausgefüllt?
A: Nein.
F: Auf welchen Namen lautete der Reisepass und das Visum?
A: Auf meinen Namen, XXXX .
L: Waren Sie selbst bei der Behörde und am Passamt? Gab es dahingehend Probleme mit den Behörden?
A: Den Pass habe ich selbst abgeholt. Es gab kein Problem.
F: Besitzen Sie sonstige amtliche Dokumente, auch wenn Sie diese nicht in Österreich mithaben?
A: Nein.
F: Haben Sie sonst noch Beweismittel für Ihr Verfahren?
A: Nein, ich habe keinen Kontakt zu meiner Familie.
F: Erklären Sie sich bezüglich der unterschiedlichen Angaben zu Ihrem Familiennamen. In den Polizeiberichten ist der Familienname XXXX geführt, in der Erstbefragung gaben Sie XXXX an.
A: Mein Name ist XXXX . Irrtümlich wurde der Name meines XXXX verwendet, ich wusste das nicht. Mein Familienname ist XXXX .
F: Wurde Ihnen in Österreich ein nicht auf das Asylgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht erteilt?
A: Nein. Auf Nachfrage ich bin das erste Mal in Österreich.
LA: Haben Sie in Österreich Verwandte? Besteht in Österreich eine besondere private Bindung (ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis muss vorliegen) beziehungsweise besteht ein Familienleben in Österreich?
VP: KEINE – siehe Datenblatt.
LA: Haben Sie in den Schengen Staaten Verwandte? Besteht zu diesen Verwandten eine besondere private Bindung (ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis muss vorliegen) beziehungsweise besteht zu diesen Verwandten ein Familienleben?
VP: KEINE – siehe Datenblatt.
F: Besteht zu den Verwandten in Ihrem Heimatland Kontakt? Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Angehörigen im Herkunftsstaat? Womit bestreiten Ihre Angehörigen im Herkunftsstaat deren Lebensunterhalt?
A: Ich habe keinen Kontakt mit meiner Familie ich habe kein Handy. Auf Nachfrage meine Verwandten leben von der Landwirtschaft.
F: Haben Sie selbst Ihr eigenes Geld verdient?
A: Es kommt auf die Ernte an. Manchmal habe ich mehr verdient manchmal weniger. Auf Nachfrage ich habe davon leben können.
F: Leiden Sie an schweren Erkrankungen? Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein?
A: Nein.
F: Sind Sie in Indien vorbestraft?
A: Nein.
Anmerkung: Ihre persönlichen Daten wurden in einem separaten Datenblatt festgehalten.
G R U N D
F: Sie werden erneut aufgefordert, die Wahrheit anzugeben. Bitte führen Sie alle Gründe für Ihren Antrag auf internationalen Schutz an.
A: Ich hatte Probleme mit meinen Onkeln aufgrund von Grundstücken. Aus diesem Grund wurde sogar mein Vater ermordet. Den Streit gibt es schon sehr lange.
F: Gibt es sonst noch weitere Gründe?
A: Ich wurde mit dem Tod bedroht, weil ich meinen beiden Onkeln meine Grundstücke nicht übergeben habe. Auf Nachfrage sie wollten das Grundstück von mir in Besitz nehmen und mehr als die Hälfte von meinen Einnahmen nehmen. Der Streit ging so weiter. Meine Mutter wurde sogar von ihnen geschlagen. Meine Mutter hatte Angst um mein Leben, da ich so wie Sie geschlagen wurde und wollte mich deshalb in Sicherheit nach England bringen.
F: Wie und seit wann wurden Sie bedroht?
A: Nach dem Mord meines Vaters ist die Situation eskaliert. Seitdem herrscht zuhause Unruhe. Wenn wir zur Polizei gingen und die Vorfälle schilderten, wurde uns von der Polizei immer nur gesagt, dass sie den Fall ermitteln, aber es wurde nichts getan, da mein älterer Onkel gute Beziehungen mit Polizeibeamten und Politikern der Kongresspartei hatte. Auf Nachfrage, ich wurde nicht persönlich bedroht sie sagten es immer nur zu meiner Mutter.
F: Sie persönlich wurden also nicht bedroht, es wurde immer über Ihre Mutter ausgerichtet. Verstehe ich Sie richtig?
A: 1-2 Mal wurde es mir auch persönlich gesagt. Meine Onkel waren kriminell.
F: Wann haben diese Vorfälle begonnen?
A: Das ist ein sehr alter Streit. Auf Nachfrage, nach dem Tod meines Großvaters, die Grundstücke wurden danach aufgeteilt. Auf Nachfrage, mein Großvater ist 2013 verstorben.
F: Wann haben die persönlichen Bedrohungen gegen Sie begonnen?
A: Das ist alles schon lange her. Auf Nachfrage, die persönliche Bedrohung gegen mich begann erst 2020.
F: Wann haben Ihre Onkel Ihren Vater ermordet?
A: 2016. Auf Nachfrage, sie haben meinen Vater ermordet, weil sie einen Teich auf dem Grundstück meines Vaters bauen. Sie haben ihn erschlagen.
F: Hat die Polizei damals wegen des Mordes an Ihrem Vater ermittelt?
A: Ja die Polizei hat alles gemacht, aber meine Onkeln haben mit der Polizei gesprochen und sie bestochen, ihre politische Macht gezeigt und so wurde alles geklärt. Auf Nachfrage, mein jüngerer Onkel heißt XXXX und der ältere heißt XXXX . Auf Nachfrage, der zweite Onkel hat keinen Familiennamen.
F: Warum sind Ihre Onkel nun hinter Ihnen her?
A: Weil Sie das Grundstück erobern möchten. Auf Nachfrage, es hat 15 Kille. Mein Grundstück grenzt zur Stadt, deshalb hat es mehr Wert.
F: Was befürchten Sie, im Falle der Rückkehr nach Indien erleiden zu müssen?
A: Ich werde erschossen, sie suchen nach mir. Ich weiß nicht einmal ob meine Mutter noch am Leben ist oder nicht.
F: Warum haben Sie Ihre Mutter nicht mitgenommen?
A: Meine Mutter wollte in Indien bleiben.
F: War das der Grund der Asylantragstellung, dass Sie seit dem Jahr 2020 von Ihren Onkeln aufgrund von Grundstückstreitigkeiten mündlich bedroht wurden?
A: Ja.
F: Das heißt, Sie haben Indien nicht aufgrund einer staatlichen Verfolgung oder staatlichen Bedrohung verlassen, sondern ausschließlich deshalb, weil es Grundstückstreitigkeiten innerhalb der Familie gab?
A: Ja, das stimmt.
F: Konnten Sie den Dolmetscher bisher einwandfrei verstehen und haben Sie das Gefühl, dass dieser Ihre Angaben richtig und vollständig wiedergibt?
A: Ja.
F: Wurden Sie jemals von Behörden in Ihrem Herkunftsstaat erkennungsdienstlich behandelt?
A: Ja, bei der Ausstellung meines Reisepasses.
F: Besteht ein Haftbefehl gegen Sie?
A: Nein.
F: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat jemals aus eigenem Antrieb, das heißt von sich aus eine Sicherheitsdienststelle, Polizeidienststelle oder Staatsanwaltschaft oder Gericht aufgesucht? Haben Sie jemals eine solche Einrichtung aufgesucht, weil Sie von diesen Behörden etwas benötigt haben?
A: Ich ging zur örtlichen Polizeistation, aber mir wurde nie geholfen. Auf Nachfrage, die Polizeistation war in XXXX . Auf Nachfrage, die Polizei selbst hat etwas dokumentiert, mir selbst wurde nie ein Schreiben mitgegeben.
F: Gehörten Sie jemals einer bewaffneten Gruppierung an?
A: Nein.
F: Wurden Sie in Indien jemals aus religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt?
A: Nein.
F: Waren Sie in Indien Mitglied einer politischen Partei?
A: Nein.
F: Wurden Sie in Indien jemals wegen Ihrer politischen Überzeugung verfolgt?
A: Nein.
F: Sie sagten zuvor, dass Sie Indien lediglich deshalb verlassen haben, da es Grundstückstreitigkeiten mit Ihren Onkeln gab. Bleiben Sie bei dieser Aussage?
A: Ja, ich bleibe bei der Aussage.
F: War Ihre Flucht schlepperunterstützt?
A: Ja, ich wollte aber eigentlich nach England, aber ich wurde nach Österreich gebracht, bezahlt habe ich bis England.
F: Warum wollten Sie nach England?
A: Dort habe ich Freunde. Ich wollte zu Ihnen.
F: Wie hoch waren die Schlepperkosten und woher hatten Sie das Geld?
A: Ich hatte dieses Geld, ich habe Grundstücke verkauft. Auf Nachfrage, es waren 3 Mio 500 TSD indische Rupien.
F: Wie groß war dieses verkaufte Grundstück?
A: Es hatte 3 Kille. Auf Nachfrage, mein Onkel mütterlicherseits hat es verkauft und ich bekam das Geld dafür.
F: Ich beende jetzt die Einvernahme, haben Sie alle Gründe vorgebracht, die Sie veranlasst haben Ihr Heimatland zu verlassen?
A: Ja. Ich habe alle meine Gründe vorgebracht.
F: Das Bundesamt beabsichtigt, Ihren Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, zumal die Begründung Ihres Antrages keine Deckung in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) findet. Möchten Sie dazu etwas angeben?
A: Okay.
Erklärung: Laut Aktenlage haben Sie kein Quartier in Österreich. Nach Ende der Einvernahme wird Ihnen bis zum Abschluss des Verfahrens vorläufig Grundversorgung in der Betreuungsstelle Ost gewährt.
A: Ich nehme das zur Kenntnis.
F: Wollen Sie weitere Gründe vorbringen? Beachten Sie das Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren. Haben Sie noch allgemeine Fragen?
A: Nein.
? Die Verfahrensanordnung § 29 Abs.3 AsylG 2005, in welcher Ihnen mitgeteilt wurde, dass eine Abweisung Ihres Antrages geplant ist, haben Sie am 16.03.2021 um 10:30 Uhr nachweislich übernommen.
? Des Weiteren wurden Ihnen eine Ladung für eine Einvernahme zur Wahrung des Parteiengehörs für den 17.03.2021 und eine Ladung für ein verpflichtendes Rückkehrberatungsgespräch ausgefolgt.“
Am 17.03.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA neuerlich niederschriftlich einvernommen und er gab dabei folgendes zu Protokoll:
„LA: Wie verstehen Sie den anwesenden Dolmetscher?
VP: Gut.
LA: Fühlen Sie sich heute psychisch und physisch in der Lage, Angaben zu Ihrem Asylverfahren zu machen?
VP: Ja.
LA: Haben Sie eine Rechtsberatung in Anspruch genommen?
VP: Ja, heute.
LA: Haben Sie gegen eine der anwesenden Personen wegen einer möglichen Befangenheit oder aus anderen Gründen Einwände?
VP: Nein.
LA: Haben Sie im gegenständlichen Verfahren einen Vertreter oder Zustellbevollmächtigten?
VP: Nein.
LA: Befinden Sie sich zurzeit in ärztlicher Behandlung?
VP: Nein.
LA: Nehmen Sie irgendwelche Medikamente regelmäßig ein?
VP: Nein.
LA: Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Ihre Angaben im Asylverfahren vertraulich behandelt und keinesfalls an die Behörden Ihres Heimatlandes weitergeleitet oder öffentlich gemacht werden. Weiters werden Sie darauf hingewiesen, dass Ihre Angaben die Grundlage für die Entscheidung im Asylverfahren bilden und dass diesen Angaben in der Erstaufnahmestelle verstärkte Glaubwürdigkeit zukommt. Falsche Angaben Ihre Identität bzw. Nationalität betreffend können verwaltungsstrafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Täuschungen über die Identität, die Nationalität oder über die Echtheit von Dokumenten können zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer rechtzeitig eingebrachten Beschwerde führen. Über die Rechtsfolgen und der im allgemeinen nicht möglichen Einbringung neuer Tatsachen in dem Fall, dass Ihrem Ersuchen um Gewährung von internationalem Schutz vom Bundesamt nicht nachgekommen wird (Neuerungsverbot) werden Sie hiermit ebenfalls hingewiesen.
Sie sind weiters verpflichtet, bei Verfahrenshandlungen und Untersuchungen persönlich und rechtzeitig zu erscheinen und an diesen mitzuwirken, der Behörde Ihren Aufenthaltsort, Ihre Anschrift und deren allfällige Änderungen sofort bekanntzugeben, sich längstens binnen drei Tagen bei der Meldebehörde anzumelden.
Wenn Sie diesen Mitwirkungspflichten aus von Ihnen nicht zu vertretenden Gründen nicht nachkommen können, so teilen Sie dies der Behörde unverzüglich mit.
Haben Sie alles verstanden?
VP: Ja.
LA: Es wird Ihnen weiters zur Kenntnis gebracht, dass behördliche Schriftstücke, wie Ladungen oder auch Bescheide, durch Hinterlegung zugestellt werden können, wenn eine persönliche Zustellung nicht möglich ist (iSv. § 17 Zustellgesetz). Eine schriftliche Verständigung im Sinne des Zustellgesetzes über eine Zustellung durch Hinterlegung wird im Haus 13, beim Info – Point, eingelegt. Aus diesem Grund werden Sie aufgefordert, während Ihres Aufenthaltes in der Betreuungsstelle täglich im Haus 13 Nachschau zu halten, ob für Sie ein behördliches Schriftstück hinterlegt wurde, damit Sie dieses fristgerecht beheben können. Dies insbesondere in Ihrem eigenen Interesse, da Sie sonst wichtige behördliche Fristen versäumen könnten.
Dem AW wird eine kurze Darstellung des bisherigen Ablaufs des Verfahrens gegeben und Grund und Ablauf der nunmehrigen Einvernahme mitgeteilt.
LA: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit, vor allem in Bezug auf Ihre Person und Ihre Fluchtgründe, entsprechende Angaben gemacht?
VP: Ja.
LA: Möchten Sie Ergänzungen zu Ihrer am 16.03.2021 durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt tätigen?
VP: Ich möchte nur sagen im Fall einer Rückkehr ist mein Leben in Gefahr. Wenn ich abgeschoben werde, möchte ich eine Garantie für meine Sicherheit haben.
LA: Haben Sie damit alle Fluchtgründe bzw. jene Gründe weshalb Sie Ihr Heimatland verlassen haben angegeben?
VP: Ja.
LA: Wie heißen Sie und wann wurden Sie geboren?
VP: XXXX , am XXXX geboren. Nachgefragt kann ich mit dem Namen XXXX nichts anfangen.
LA: Verfügen Sie über Dokumente, die Ihre Identität bestätigen?
VP: Nein.
LA: Es konnte festgestellt werden, dass Sie einen indischen Reisepass mit Nr. XXXX ausgestellt am XXXX , gültig bis XXXX in Indien lautend auf XXXX , geb. am XXXX Punjab besitzen. Mit diesem haben Sie um ein Visum für XXXX in XXXX angesucht und dieses für den Zeitraum XXXX ausgestellt bekommen. Nehmen Sie dazu bitte Stellung
VP: Nein, das stimmt nicht. ( Aw wird informiert, dass seine Identität geändert wird).
LA: Haben Sie Beweismittel oder sonstige Schriftstücke, die Sie vorlegen können?
VP: Nein. Ich habe keine Beweise.
LA: Ihnen wurde am 16.03.2021 eine Verfahrensanordnung des Bundesamtes gem. § 29/3/5 AsylG 2005 ausgefolgt, in welcher Ihnen mitgeteilt wurde, dass beabsichtigt ist Ihren Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen. Sie haben nunmehr Gelegenheit, zur geplanten Vorgehensweise des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Stellung zu nehmen. Wollen Sie diesbezüglich etwas angeben?
VP: Bitte tun Sie es nicht.
LA: Sie haben die Feststellungen zu Indien für eine schriftliche Stellungnahme bis zur heutigen Einvernahme erhalten. Eine Stellungnahme ist nicht eingelangt. Möchten Sie zu Indien nun eine Stellungnahme abgeben?
VP: Nein.
Anmerkung: Dem/der RB wird die Möglichkeit eingeräumt, Fragen anzuregen oder eine Stellungnahme abzugeben, wovon Gebrauch gemacht wird.
RB: Keine Fragen.
LA: Ich beende jetzt die Befragung. Möchten Sie noch weitere Angaben machen?
VP: Nein.
LA: Konnten Sie zum Verfahren alles umfassend vorbringen?
VP: Ja.
LA: Haben Sie den Dolmetscher einwandfrei verstanden, konnten Sie der Einvernahme folgen?
VP: Ja.“
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.03.2021 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 20005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien ab (Spruchpunkt II.), es erteilte ihm einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG 2005 nicht (Spruchpunkt III.), erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellet fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1–3 FPG betrage die Frist für die freiwillige 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das BFA hinsichtlich der konkreten Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes unter anderem aus:
„Ihre Identität konnte in Ermangelung herkunftsstaatlicher, identitätsbezeugender Dokumente nicht festgestellt werden. Befragt, ob Sie jemals einen indischen Reisepass besessen hätten, meinten Sie in Ihrer ersten Einvernahme vor dem Bundesamt am 16.03.2021, dass Sie in Besitz eines indischen Reisepasses mit einem Visum für Moskau gewesen wären. Der Pass wäre Ihnen jedoch vom Schlepper in Moskau abgenommen worden. Die Nachschau in der Visa-Datenbank ergab, dass Sie über einen indischen Reisepass mit der Nummer XXXX ausgestellt am XXXX mit Gültigkeit bis XXXX lautend auf XXXX , geb. XXXX , Punjab, verfügen. Mit diesem haben Sie in XXXX um ein Visum für XXXX angesucht und dieses für den Zeitraum vom XXXX ausgestellt bekommen. Mit diesen Daten wurden Sie während Ihrer zweiten Einvernahme vor dem Bundesamt am 17.03.2021 konfrontiert, nachdem Sie nochmals auf Ihre Wahrheitspflicht hingewiesen worden waren, gaben Sie an, dass diese Daten nicht stimmen würden, dies spricht jedoch massiv gegen Ihre Glaubwürdigkeit. Sie bekräftigten erneut XXXX zu heißen, geb. am XXXX und dass Sie mit dem Namen XXXX nichts anzufangen wüssten. Da der indische RP Nr. XXXX der zu entscheidenden Behörde im Original nicht vorliegt und daher keine Überprüfung möglich ist, wurde keine Identitätsänderung in der IFA-Applikation durchgeführt.
. . .
Bei Ihrer Asylantragstellung am 15.03.2021 haben Sie als Fluchtgrund schon länger herrschende, familiäre Streitigkeiten angegeben. Ihre Onkel hätten Ihren Vater wegen eines Grundstückstreites ermordet. Nun wären sie hinter Ihnen her, sodass Sie flüchten mussten. Sie würden um Ihr Leben fürchten. Bei einer Rückkehr hätten Sie Angst getötet zu werden.
Bei Ihrer ersten Einvernahme zur Wahrung des Parteiengehörs am 16.03.2021 vor dem BFA, haben Sie, befragt nach dem Anlass Ihrer Flucht, in Übereinstimmung mit den Angaben Ihrer Asylantragstellung gemeint, dass Sie mit Ihren Onkeln Probleme wegen der Grundstücke hätten und dass sogar Ihr Vater ermordet worden wäre. Auffällig war, dass Sie zu Ihrer behaupteten persönlichen Bedrohung durch Ihre Onkel keinerlei detaillierte Angaben machen konnten. Erst über mehrere Nachfragen konnten Ihnen Einzelheiten entlockt werden. Es drängte sich das Gefühl auf, dass Sie Ihr Vorbringen erst während des Parteiengehörs konstruierten. Ihre Angaben waren insgesamt viel zu vage und oberflächlich und letztlich wenig auf Ihre Person bezogen, um darin ein wirklich erlebtes Szenario erkennen zu können. Gegen eine Verfolgung Ihrer Person durch Ihre beiden Onkel spricht auch, dass Sie von Ihrem Onkel mütterlicherseits, welcher Grundstücke verkauft hätte, den Erlös erhalten hätten, womit Sie Ihre Ausreise finanziert hätten.
Bei Ihrer zweiten Einvernahme vor dem Bundesamt am 17.03.2021 hatten Sie, zu den am Vortag getätigten Aussagen, im Prinzip nichts hinzuzufügen, da Sie alle Umstände, die zu Ihrer Flucht geführt hätten, bereits angegeben hätten. Sie bekräftigten lediglich, dass bei einer Rückkehr Ihr Leben in Gefahr wäre. Trotzdem Sie damit konfrontiert wurden, dass die Existenz Ihres indischen Reisepasses mit einem ausgestellten Visum für XXXX behördlich festgestellt werden konnte, beharrten Sie auf Ihre angegebene Identität. Der dem Namen XXXX , geb. XXXX wäre Ihnen nicht bekannt.
Zusammengefasst konnten Sie mit Ihren detaillosem und teils widersprüchlichem Vorbringen keine Bedrohung Ihrer Person von Seiten Ihrer Onkel glaubhaft machen.
Sie haben ausschließlich Verfolgung durch private Dritte behauptet. Dies stellt keinen Asylgrund im Sinne der GFK dar. Zu Ihren Behauptungen ist anzumerken, dass die geltend gemachten bzw. befürchteten Übergriffe durch Private auch in Indien eine strafbare Handlung darstellen, die von den zuständigen Strafverfolgungsbehörden Ihres Heimatstaates bei Kenntnis verfolgt und geahndet werden. Eine Billigung dieser Übergriffe durch die Behörden Ihres Heimatstaates kann daraus nicht erkannt werden. Es liegt jedoch außerhalb der Möglichkeit eines Staates, jeden denkbaren Übergriff Dritter präventiv zu verhindern, was sich auch daraus erkennen lässt, dass überall Institutionen zur Strafrechtspflege eingerichtet sind, die andernfalls überflüssig wären.
Sollte man entgegen obigen Ausführungen in Bezug auf die Unglaubwürdigkeit Ihrer Angaben zur Annahme gelangen, Ihre Behauptungen könnten den Tatsachen entsprechen, so könnte dennoch nicht die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten erfolgen. Ihr Vorbringen vermochte es nicht den Voraussetzungen für die Glaubhaftmachung einer asylrelevanten Verfolgung oder Verfolgungsgefahr gemäß der GFK zu entsprechen. Eine Gefährdung aufgrund Ihrer ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit, Ihrer politischen Überzeugung oder Ihrer Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe konnten Sie nicht glaubhaft machen. Aus Ihrem ganzen Vorbringen ergibt sich nicht der geringste Anhaltspunkt auf das Vorliegen einer Gefährdung Ihrer Person durch den indischen Staat bzw. einer Gefährdung, vor der Sie zu schützen der indische Staat nicht fähig oder willens wäre. Eine asylrelevante Verfolgung in Ihrem Herkunftsstaat Indien konnte nicht festgestellt werden.
Sie hätten niemals Probleme mit der Polizei, dem Militär oder den Behörden gehabt oder wären nie in Haft gewesen.
Zusammenfassend ist eine asylrelevante Verfolgung in Ihrem Herkunftsstaat Indien nicht festzustellen.
Beweismittel, die einen gegenteiligen Schluss zuließen, haben Sie nicht in Vorlage gebracht.“
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien und wurde in XXXX /Indien geboren. Am 01.02.2021 hat der Beschwerdeführer im Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Er gehört der Religionsgemeinschaft der Sikh an und ist ledig. Er verfügt über eine zehnjährige Schulbildung und hat in Indien nie gearbeitet. Der Beschwerdeführer spricht lediglich Punjabi. In Indien lebt nach wie vor seine Mutter. Im Bundesgebiet verfügt der Beschwerdeführer über keinerlei Familienangehörige, er lebt auch nicht in einer Lebensgemeinschaft. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache beherrscht, einer regelmäßigen, legalen Beschäftigung nachgeht, sich sozial engagiert oder hier Freunde gefunden hat. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland aus den von ihm genannten Gründen verlassen hat.
Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Indien wird Folgendes festgestellt:
COVID-19:
Letzte Änderung: 22.10.2020
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinische Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).
Politische Lage:
Letzte Änderung: 23.10.2020
Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 5.10.2020; vgl. AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).
Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 8.2020a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 9.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 9.2020a).
Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 8.2020a).
Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).
Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 8.2020a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).
Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 7.2020). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 8.2020a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 7.2020).
Sicherheitslage:
Letzte Änderung: 06.11.2020
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 8.2020a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 7.2020). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 7.2020).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020) und der und im von separatistischen Gruppen bedrohten Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (SATP 8.10.2020). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 4.3.2020). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 511 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).
Indien und Pakistan
Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).
Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).
Indien und China
Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Zusammenstöße entlang der „Line of Actual Control (LAC)“, der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin forderten am 15.6.2020 in den ersten Vorfällen seit 45 Jahren mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr als 3.400 Kilometer langen Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 7.2020).
Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 7.2020).
Indien und Bangladesch
Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 8.2020a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 7.2020).
Indien und Sri Lanka
Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 8.2020a).
Punjab:
Letzte Änderung: 23.10.2020
Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).
Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015).
Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders als im übrigen Indien dar. Jüngste Berichte internationaler Menschenrechts-NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch), aber auch jene des US State Department enthalten keine gesonderten Informationen zum Punjab (ÖB 9.2020).
Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).
Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Per 13.10.2020 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 13.10.2020).
In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).
Rechtsschutz / Justizwesen:
Letzte Änderung: 05.11.2020
In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020).
Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).
Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 23.9.2020). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020).
Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).
In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).
Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public Safety Act) ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).
Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).
Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 9.2020).
Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).
Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).
Sicherheitsbehörden:
Letzte Änderung: 05.11.2020
Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 7.2020) und untersteht den Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 7.2020).
Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 7.2020; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).
Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die „Beschützerin der Nation“, aber nur im militärischen Sinne (BICC 7.2020). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 23.9.2020; vgl. BICC 7.2020). Paramilitärischen Einheiten werden als Teil der Streitkräfte, vor allem bei internen Konflikten eingesetzt, so in Jammu und Kaschmir sowie in den nordöstlichen Bundesstaaten. Bei diesen Einsätzen kommt es oft zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen (BICC 7.2020).
Den Sicherheitskräften, sowohl der Polizei, den paramilitärischen Einheiten als auch dem Militär, werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei ihren Einsätzen in den Krisengebieten des Landes nachgesa