TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/9 W118 2195214-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.09.2021
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Entscheidungsdatum

09.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W118 2195214-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. ECKHARDT über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der damals noch minderjährige Beschwerdeführer ist in die Republik Österreich eingereist und hat am 22.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2.       Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.11.2015 gab der Beschwerdeführer an, er sei im Iran geboren und habe sich nie in Afghanistan aufgehalten. Er gehöre zur Volksgruppe der Tadschiken und zur schiitischen Religionsgemeinschaft. Er habe in XXXX , Iran, von 2007 bis 2012 die Grundschule, von 2012 bis 2015 die Hauptschule und bis zu seiner Ausreise das Gymnasium besucht; Berufsausbildung habe er nicht, er habe aber die letzten zwei Jahre im Iran parallel zur Schule bei einem Automechaniker gearbeitet. Seine Eltern, zwei Brüder und zwei Schwestern würden weiterhin im Iran leben. In Österreich habe er keine Angehörigen, lediglich ein Cousin lebe glaublich in Deutschland, er habe zu diesem aber „nicht so viel Kontakt“. Seine finanzielle Situation im Iran bzw. jene seiner Familie stufte der Beschwerdeführer als „mittel“ ein. Die Reise mit Hilfe eines Schleppers nach Österreich habe 9 Millionen Toman (entspricht ca. 2.700 Euro zum damaligen Zeitpunkt) gekostet und der Beschwerdeführer habe diese selbst organisiert.

Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, er habe im Iran wie ein „Bürger 2. Klasse“ gelebt. Er habe nicht wie iranische Schüler jede Ausbildung machen und an Projekten teilnehmen können. Er sei auch von der Polizei „mitgenommen“ worden, ein Afghane habe im Iran keine Rechte. Der Vater des Beschwerdeführers habe gewollt, dass er eine gute Ausbildung erhalte, Afghanen dürften im Iran aber nicht die Universität besuchen. Der Beschwerdeführer habe daher keine Zukunft im Iran. Befragt nach seinen Befürchtungen im Fall einer Rückkehr gab der Beschwerdeführer zu Afghanistan an, dort herrsche Krieg und hohe Arbeitslosigkeit; im Iran könne er nur als Hilfsarbeiter arbeiten.

3.       Am 14.11.2017 wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers, eines gesetzlichen Vertreters sowie einer Vertrauensperson durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Der Beschwerdeführer bestätigte seine Angaben in der Erstbefragung und führte zu einem Aufenthalt seines Vaters in Afghanistan aus, dass dieser wegen des Ablebens des Großvaters des Beschwerdeführers nach XXXX (Afghanistan) gereist sei, um die geerbten Grundstücke zu erhalten. Er gab an, mit seiner Familie etwa ein- bis zweimal pro Monat Kontakt zu haben, zuletzt vor einer Woche. Seine Familie lebe legal im Iran und müsse den Aufenthaltstitel immer verlängern. Die Familie bestreite ihren Lebensunterhalt im Iran durch die Arbeit des Vaters in der Landwirtschaft und des Bruders als Automechaniker. Der jüngere Bruder des Beschwerdeführers studiere an der Universität.

Über Aufforderung, seine Fluchtgründe im Detail zu schildern, erstattete der Beschwerdeführer wieder Vorbringen zum Leben im Iran. Er verneinte eine persönliche Bedrohung und eine Bedrohung seiner Familie. Zu seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gab er an, er habe seine Heimat nie gesehen und spreche Farsi genau wie ein Iraner. Die afghanische Bevölkerung würde ihn aufgrund seiner Sprache und seiner Geburt im Iran ablehnen. In Afghanistan gebe es auch keine Sicherheit und habe er dort niemanden. Befragt nach politischen Betätigungen gab der Beschwerdeführer an, er habe im Iran der Gruppe Bas ij für kurze Zeit – etwa drei Monate – als „Führer“ angehört, diese aber wieder verlassen. Dies sei problemlos möglich gewesen. Ein Nachbar habe dem Beschwerdeführer geholfen, Mitglied dieser iranischen Gruppe zu werden. Die Gruppe sei eine Art Sittenpolizei gewesen, wenn Afghanen etwa Frauen belästigt hätten, hätten sie diese verhaftet.

Im Rahmen der Einvernahme brachte der Beschwerdeführer zu seinem Leben und seiner Integration in Österreich mehrere Unterlagen zur Vorlage.

4.       Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Es wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG „2 Wochen“ ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung hielt die belangte Behörde fest, dass eine direkt gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung aus dessen knapper Schilderung nicht habe abgeleitet werden können. Überdies würden dem Beschwerdeführer sichere Fluchtalternativen etwa in Mazar-e Sharif, Kabul oder Herat offenstehen. Hinsichtlich der Mitgliedschaft des Beschwerdeführers in leitender Funktion in der stark religiös-fundamentalistisch geprägten iranischen Geheimdienstorganisation Basij wurde im Übrigen darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer diesen Umstand in der Erstbefragung verschwiegen und damit seine Glaubwürdigkeit stark gemindert habe.

5.       Hiegegen wurde mit Datum vom 09.05.2018 Rechtsmittel erhoben und der Bescheid zur Gänze angefochten. In der Begründung wurde der belangten Behörde eine Verletzung der Ermittlungspflicht vorgeworfen, insbesondere auch hinsichtlich einer drohenden Verfolgung in Afghanistan aufgrund der Religionszugehörigkeit des schiitischen Beschwerdeführers in Afghanistan. Der Beschwerdeführer sei mit 18 Jahren überdies im wehrfähigen Alter und „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einer (Zwangs)Rekrutierung bedroht“.

6.       Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 15.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7.       Mit Schreiben vom 02.07.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht betreffend den Beschwerdeführer ein Taufzertifikat des „Verein für Mission und Asylantenintegration der Gemeinde Christi“ vom 02.06.2018 übermittelt.

8.       Mit Schreiben vom 08.03.2019 brachte die belangte Behörde eine Strafverfügung der Landespolizeidirektion Salzburg vom 14.01.2019 betreffend eine Verletzung von § 81 Abs. 1 SPG durch eine Teilnahme des Beschwerdeführers an einer tätlichen Auseinandersetzung und einer aus diesem Grund verhängten Strafe in Höhe von € 100,-- zur Vorlage.

9.       Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde die Rechtssache mit Datum vom 10.07.2019 neu zugewiesen.

10.      Über Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichtes machte der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 26.02.2020 einen Zeugen namhaft, der Auskunft über die Konversion und das Leben des Beschwerdeführers in der Gemeinde Christi erteilen könne. Unter einem wurde ein weiteres Taufzertifikat vom 15.07.2018 vorgelegt.

11.      Die für den 19.03.2020 anberaumte mündliche Verhandlung wurde mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.03.2020 aufgrund der Empfehlung der Bundesregierung infolge der Coronavirus-Pandemie abberaumt.

12.      Mit Schreiben vom 19.04.2021 ersuchte der Beschwerdeführer um Bekanntgabe des aktuellen Verfahrensstandes.

13.     Mit Schreiben vom 22.06.2021 wurde dem Beschwerdeführer das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan zur Kenntnis gebracht.

14.      Mit Schreiben vom 13.07.2021, hg. eingelangt am 14.07.2021, nahm der Beschwerdeführer Stellung zur Lage in Afghanistan und seiner Situation im Falle einer Rückkehr und erstatte ergänzendes Vorbringen zu seinem Privatleben in Österreich. Dem Schreiben wurden Unterlagen über die Geburt und den Schulbesuch des Beschwerdeführers im Iran sowie betreffend seine Integration in Österreich beigeschlossen.

15.      Am 15.07.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt nicht teilnahm. Der – bereits volljährige – Beschwerdeführer wurde im Beisein eines Vertreters, einer Vertrauensperson und eines Dolmetschers für die Sprache Farsi zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt. Im Rahmen der Verhandlung wurde mit dem Beschwerdeführer und dem in diesem Zusammenhang geladenen Zeugen auch die vorgebrachte Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum erörtert. Dem Beschwerdeführer wurde Gelegenheit eingeräumt, zu den bereits mit der Ladung vom 18.05.2021 bzw. mit Schreiben vom 22.06.2021 zur Kenntnis gebrachten Länderberichten betreffend die generelle Lage in Afghanistan einschließlich der derzeitigen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer verwies diesbezüglich auf die eingebrachte Stellungnahme.

Der Beschwerdeführer brachte ein Konvolut von Unterlagen betreffend seine Erwerbstätigkeit in Österreich, ein Empfehlungsschreiben sowie ein Schreiben des Vereins für Mission und Asylantenintegration der Gemeinde Christi vom 19.07.2020 zur Vorlage.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den vorliegenden Verwaltungsakt und in den Gerichtsakt, durch Befragung des Beschwerdeführers und des Zeugen XXXX in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und Einsichtnahme in die in der Verhandlung vorgelegten Unterlagen sowie durch Einsicht insbesondere in folgende Länderberichte: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, 11.06.2021; European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020; EASO, Afghanistan: Security Situation, September 2020; Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 16.07.2020 in der Fassung 14.01.2021; Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 27.01.2021; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von zum Christentum konvertierten Personen insbesondere in Kabul und Masar-e-Scharif, 07.08.2018; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa, 01.06.2017; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Afghanistan: Nichtausübung des Islam und Apostasie, 25.10.2018.

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekannte sich früher zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er ist in das Bundesgebiet eingereist und hat am 22.11.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Der Beschwerdeführer ist im Iran geboren, wurde dort im Kreis seiner Familie sozialisiert und spricht Farsi mit iranischem Akzent. Der Beschwerdeführer hat im Iran mehr als neun Jahre lang die Schule besucht und in den letzten ein bis zwei Jahren vor seiner Ausreise nach dem Unterricht in einer Autowerkstatt gearbeitet. Die Familie des Beschwerdeführers – insbesondere die Eltern, zwei Brüder und zwei Schwestern sowie weitere Verwandte – leben weiterhin im Iran und der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinen Angehörigen. Der Beschwerdeführer hat sich nie in Afghanistan aufgehalten und hat dort auch keine Verwandten bzw. jedenfalls keine Kenntnis über dort aufhältige Angehörige. Die Familie des Beschwerdeführers verfügt noch über Grundstücke in Afghanistan, der Beschwerdeführer weiß allerdings nicht, von wem diese bewirtschaftet werden. Der Beschwerdeführer hat den Iran im Alter von 15 Jahren verlassen und ist nach Europa gereist.

Der Beschwerdeführer ist mittlerweile volljährig, gesund und arbeitsfähig. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer hat in Österreich auch sonst keine Familienangehörigen oder andere enge Bindungen. Der Beschwerdeführer ist nicht straffällig im Sinne des Asylgesetzes. Er hat in Österreich Deutschkurse besucht, die Prüfung ÖSD Zertifikat A1 bestanden, mehrere berufsvorbereitende Kurse sowie weitere Veranstaltungen und Workshops besucht. Seit März 2021 besucht der Beschwerdeführer an der Volkshochschule einen Kurs zur Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss. Der Beschwerdeführer ist aktives Mitglied in einem Fußball- und in einem Tanzverein.

Der Beschwerdeführer bestreitet seinen Lebensunterhalt von seinem Erwerbseinkommen und bezieht seit Ende Jänner 2020 keine Leistungen aus der Grundversorgung. Er ist nicht legal in das Bundesgebiet eingereist und hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.

1.2.    Zum Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer bekannte sich in Afghanistan zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam, hatte nach seiner Einreise in Österreich gegen Anfang 2016 erste Kontakte mit dem Christentum und begann sich ungefähr in Februar 2018 ernsthaft für den christlichen Glauben zu interessieren. Der Beschwerdeführer nahm in der Folge regelmäßig – etwa ein- bis zweimal pro Woche – an Gottesdiensten und Bibelstunden teil und nach etwa zwei bis drei Monaten entwickelte sich beim Beschwerdeführer der Wunsch getauft zu werden. Im Juni oder Juli 2018 wurde der Beschwerdeführer im Beisein des Seelsorgers XXXX getauft. Auch nach seiner Taufe nahm der Beschwerdeführer regelmäßig am christlichen Leben der autonomen protestantischen Glaubensgemeinschaft „Gemeinde Christi“ teil, wobei sich die Häufigkeit seiner Teilnahme an (den zuletzt virtuell abgehaltenen) Gottesdiensten und Bibelstunden durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und die Arbeitsaufnahme des Beschwerdeführers auf mehrmals pro Monat verminderte.

Der Beschwerdeführer lebt seine religiöse Überzeugung offen und es ist nicht anzunehmen, dass er seine innere Überzeugung in seinem Herkunftsstaat Afghanistan dauerhaft verleugnen würde.

Dem Beschwerdeführer droht daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Konversion zum Christentum bzw. seiner Abwendung vom islamischen Glauben (Apostasie) physische und/oder psychische Gewalt bzw. Strafverfolgung.

1.3.    Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

1.3.1.  Bevölkerungsstruktur:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen allerdings fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen können weiterhin in Konflikten und Tötungen resultierten.

Etwa 99,7 % der Bevölkerung Afghanistans sind Muslime, die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus.

1.3.2.  Religionsfreiheit:

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens, da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt. Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul. Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde. Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber.

Weder in der afghanischen Verfassung noch im Strafgesetzbuch wird Apostasie erörtert. Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion gilt als Apostasie und ist sowohl nach der sunnitischen Hanafi-Rechtsprechung als auch nach der schiitischen Jafari-Rechtsprechung verboten. Die Scharia sieht die Verhängung der Todesstrafe gegen erwachsene, geistig gesunde Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist. Taliban betrachten Personen, die gegen sie predigen oder ihrer Interpretation des Islam zuwiderhandeln als Apostaten.

Christliche Afghanen können ihren Glauben nicht offen praktizieren. Christliche Afghanen, die sich in der Öffentlichkeit oder über digitale Medien zu ihrem Glauben bekennen, sind ausnahmslos Afghanen, die außerhalb des Landes leben. Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Kinder von Apostaten gelten als Muslime, wenn sie nicht das Erwachsenenalter erreichen, ohne zum Islam zurückzukehren, in welchem Fall ihnen die Hinrichtung droht.

Personengruppen wie Atheisten, Säkularisten oder Konvertiten, deren Ansichten als eine Abwendung vom Islam betrachtet werden können, müssen Selbstzensur üben und können ihre persönliche Meinung oder ihr Verhältnis zum Islam nicht in der Öffentlichkeit äußern, ohne Sanktionen oder Gewalt fürchten zu müssen. Diese Menschen müssen nach außen weiterhin als Muslime erscheinen und die religiösen und kulturellen Verhaltenserwartungen ihres Umfelds erfüllen, ohne dass diese ihren inneren Überzeugungen entsprechen.

Eine Person wird allerdings in Afghanistan – insbesondere im städtischen Raum – nicht notwendigerweise als nichtgläubig angesehen, wenn sie nicht an religiösen Handlungen im öffentlichen Raum teilnimmt, da es auch viele Muslime gibt, die nicht regelmäßig die Moschee besuchen. Auch für strenggläubige Muslime kann es darüber hinaus legitime Gründe geben, religiösen Zeremonien fernzubleiben.

1.3.3.  Aktuelle Entwicklungen:

Während sich die Taliban inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung mit der afghanischen Regierung um ein versöhnlicheres Image bemühten, berichten Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert. Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die begründete Sorge, dass die Taliban zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt.

2. Beweiswürdigung:

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und ehemaligen religiösen Zugehörigkeit, zum Gesundheitszustand, Alter und zur Schulbildung des Beschwerdeführers sowie zu seinen Familienangehörigen und deren Aufenthaltsorten beruhen auf den diesbezüglich im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und der mündlichen Verhandlung dem Bundesverwaltungsgericht.

Die Feststellungen zur Einreise, Antragstellung und dem Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich ergeben sich aus dem Inhalt des Verwaltungsaktes und dem damit in Einklang stehenden Vorbringen des Beschwerdeführers.

Hinsichtlich der Feststellungen zu dem aktuellen Privat- und Familienleben sowie insbesondere der Selbsterhaltungsfähigkeit und der Integration des Beschwerdeführers in Österreich wurden die Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie die vorgelegten Nachweise und Empfehlungsschreiben den Feststellungen zugrunde gelegt. Die Feststellung betreffend den Anfang 2020 beendeten Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung beruht auf einem hg. eingeholten Auszug aus dem aus dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich (GVS).

Die Feststellung der strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

2.2.    Zum Fluchtvorbringen:

Die Feststellungen betreffend die geänderte religiöse Überzeugung sowie die religiöse Betätigung des Beschwerdeführers beruhen insbesondere auf dem glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers sowie den Aussagen des Zeugen XXXX in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Sowohl aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers als auch aus den Aussagen des als Zeugen befragten Seelsorgers der Gemeinde Christi geht hervor, dass sich der Beschwerdeführer bereits seit Februar 2018 intensiv mit dem christlichen Glauben beschäftigt und aktiv am christlichen Leben seiner Gemeinde teilnimmt. Die religiöse Betätigung in der christlichen Gemeinde ist für den Beschwerdeführer ein wesentlicher Bestandteil seiner Identität geworden. Er hat sich damit vom Islam aus innerer Überzeugung abgewendet und würde seine Haltung auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan vor seinem sozialen Umfeld nicht dauerhaft verbergen. Auch wenn der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung nicht immer die ihm gestellten Fragen zu grundlegenden christlichen Glaubensinhalten entsprechend beantworten konnte, so ist doch unter Beachtung der Ausführungen des Zeugen, dass in dieser autonomen protestantischen Christengemeinde mehr Wert auf den Inhalt und weniger auf Begrifflichkeiten gelegt wird und beispielsweise auch die Kenntnis der 10 Gebote nicht erwartet wird, dennoch davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer den christlichen Glauben für sich selbst dermaßen verinnerlicht hat, dass er nicht mehr gewillt ist, darauf zu verzichten. In Einklang mit den Angaben des Beschwerdeführers hat der Zeuge ausgeführt, dass in der Gemeinde Christi hinsichtlich der Gebete kein feste Ritual besteht, sondern überwiegend freies Gebet praktiziert wird.

Zu dem nicht exakt festgestellten Termin der Taufe ist festzuhalten, dass zwei Taufzertifikate mit abweichenden Taufterminen – 02.06.2018 bzw. 15.07.2018 – vorgelegt wurden. Da auch die diesbezüglichen Erklärungen des Beschwerdeführers bzw. des Zeugen nicht in Einklang stehen bzw. teilweise auch mit dem Datum der ersten Vorlage eines Taufzertifikats nicht übereinstimmen, kann das genaue Datum nicht festgestellt werden. Trotz dieser deutlichen Widersprüche ist dennoch das übrige Vorbringen zur religiösen Betätigung und der Konversion des Beschwerdeführers als glaubhaft zu werten, zumal der Taufe bzw. dem Taufzertifikat und dessen genauem Inhalt in der christlichen Gemeinde des Beschwerdeführers offenbar keine hohe Bedeutung zugemessen wird („BF: Auf dem ersten Taufschein wurde das Datum falsch eingetragen, daher habe ich den Pfarrer gebeten, mir einen neuen Taufschein zu geben.“; „Z: Die Taufe ist bei uns eine Art „Registrierung“, so wie wenn man sich an der Uni inskribiert. […] Manche Täuflinge wollten das neuere, schönere Zertifikat.“). Der Beschwerdeführer machte bei der mündlichen Verhandlung überdies einen glaubwürdigen Eindruck und seine Angaben zu der erfolgten Hinwendung zum Christentum und seiner Teilnahme am religiösen Leben der Gemeinde waren stringent und mit den Angaben des Zeugen in Einklang zu bringen.

Aufgrund der nach außen getragenen religiösen Haltung des Beschwerdeführers und des von ihm zu erwartenden Verhaltens bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat ist auch bei einer Neuansiedlung in einer afghanischen Großstadt, in der grundsätzlich – zumindest bis zur aktuellen Machtübernahme durch die Taliban – ein geringeres Risiko für Personen besteht bzw. bestand, die islamische Glaubensvorschriften nicht einhalten und etwa die Moschee nicht regelmäßig besuchen, von einer Gefährdung des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit seinem Glaubensabfall bzw. seiner kritischen Haltung gegenüber islamischen Lehren auszugehen. Dies gilt umso mehr als der Beschwerdeführer nicht in einen bestehenden Familienverband zurückkehren kann und sich in einem ihm nicht vertrauten Umfeld niederlassen müsste.

2.3.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten, insbesondere dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand 11.06.2021 – das basierend auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan gewährleistet – und dem EASO-Bericht „Country Guidance: Afghanistan“ vom Dezember 2020.

Zur Lage von Apostaten und Konvertiten wurden ergänzend folgende – in den Kernaussagen übereinstimmende – Berichte herangezogen: ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von zum Christentum konvertierten Personen insbesondere in Kabul und Masar-e-Scharif, 07.08.2018; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa, 01.06.2017; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Afghanistan: Nichtausübung des Islam und Apostasie, 25.10.2018.

Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.

Im Ergebnis ist auch nicht zu erkennen, dass sich seit der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Afghanistan allgemein und für den gegenständlichen Fall relevant eine entscheidende Lageveränderung ergeben hätte, die eine andere Entscheidung erwarten ließe. Vielmehr sind aufgrund der faktischen Machtübernahme durch die Taliban eine Verschlechterung der Sicherheits- und Versorgungslage sowie weitere Einschränkungen der Religionsfreiheit zu erwarten (vgl. auch UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021, sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 23.08.2021).

Die Parteien sind den im Rahmen der Ladung zur mündlichen Verhandlung und mit Schreiben vom 22.06.2021 ins Verfahren eingebrachten Länderberichten nicht substantiiert entgegengetreten bzw. wurde insbesondere kein Vorbringen erstattet, das den vorliegenden Feststellungen entgegenstehen würde.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1.    Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet über Beschwerden Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl das Bundesverwaltungsgericht.

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, des AgrVG und des DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (§ 28 Abs. 2 VwGVG).

Gegenständlich steht der maßgebliche Sachverhalt im Sinne von § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG fest. Das Bundesverwaltungsgericht hat folglich in der Sache selbst zu entscheiden.

Zu A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Die Voraussetzung der „wohlbegründeten Furcht“ vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265 mwN).

Dem Beschwerdeführer ist es gelungen, drohende Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft zu machen. Aus den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten – in denen die Auswirkungen der aktuellen Machtübernahme durch die Taliban noch nicht berücksichtigt werden konnte – ergibt sich, dass die bloße Passivität zum Islam, wie etwa das Unterlassen des Betens oder des Fastens während des Ramadan, generell nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu gesellschaftlichen oder allenfalls auch staatlichen Handlungen oder Maßnahmen führt, welche eine asylrechtlich relevante Intensität erreichen. Der Beschwerdeführer vermochte allerdings einen Abfall vom islamischen Glauben und eine von innerer Überzeugung getragene Hinwendung zum Christentum glaubhaft zu machen. Bei weiterer Ausübung seines inneren Entschlusses, in Ablehnung islamischer Lehren nach dem christlichen Glauben zu leben bzw. sich zumindest weiter intensiv mit christlichen Glaubensinhalten auseinanderzusetzen, muss er im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, aus diesem Grund mit Sanktionen belegt zu werden. Dem Beschwerdeführer drohen neben massiven Einschränkungen im persönlichen Bereich auch schwere Eingriffe in die physische Integrität sowie strafrechtliche Sanktionen (bis zur Todesstrafe). Die Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers geht im vorliegenden Fall einerseits vom afghanischen Staat und andererseits auch von Aufständischen sowie von der afghanischen Bevölkerung aus, die von traditionell islamischen Vorstellungen geprägt ist; wobei insgesamt vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen davon ausgegangen werden kann, dass der afghanische Staat nicht willens und in der Lage ist, den Beschwerdeführer entsprechend zu schützen.

Die dargestellte Bedrohung besteht für den Beschwerdeführer umso mehr aufgrund der tagesaktuellen Entwicklungen in Afghanistan. Wenngleich die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte diese Veränderungen im Herkunftsstaat noch nicht berücksichtigen können, ist aufgrund der bereits vorliegenden Berichte aus Gebieten unter der Kontrolle der Taliban jedenfalls keine geringere Verfolgungsgefahr im Zusammenhang mit einer Ablehnung islamischer Lehren zu erwarten.

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt nur dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einen in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund, nämlich jenen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung anknüpft. Im Fall des Beschwerdeführers liegt das oben dargestellte Verfolgungsrisiko in seiner nunmehrigen religiösen Überzeugung begründet.

Die Verfolgung aus Gründen der Religion ist nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK geschützt, wobei der Begriff der Religion auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst (vgl. Art. 10 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU – Statusrichtlinie). In seinem Urteil vom 04.10.2018, Bahtiyar Fathi, C-56/17, hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) präzisiert, dass eine „schwerwiegende Verletzung“ der Religionsfreiheit vorliegen muss, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt, damit die betreffenden Handlungen als Verfolgung im asylrechtlichen Sinne (vgl. Art. 9 Abs. 1 und 2 der Statusrichtlinie) gelten können. Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in ihrem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa aufgrund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder Freiheitsstrafe droht, kann für sich genommen eine „Verfolgung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395).

Aufgrund des in ganz Afghanistans gültigen islamischen Rechts (Scharia) und der in der Praxis angewendeten islamischen Rechtsprechung sowie aufgrund der in der afghanischen Gesellschaft bestehenden Traditionen und der Intoleranz gegenüber Apostaten bzw. Konvertiten, ist aufgrund der offen nach außen getragenen Haltung des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass sich die oben dargelegte Situation für den Beschwerdeführer im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan gleichermaßen darstellt, weshalb keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG 2005 für den Beschwerdeführer besteht.

Da auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, war dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

Anders als im Fall der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, für den § 8 Abs. 4 AsylG 2005 die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung vorsieht, wird das Einreise- und Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt. Die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter hat somit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erfolgen. Auch gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016 kommt dem Asylberechtigten eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung zu, ohne dass eine darüberhinausgehende Erteilung dieser Berechtigung vorzunehmen wäre (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Apostasie asylrechtlich relevante Verfolgung Christentum Flüchtlingseigenschaft Konversion wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W118.2195214.1.00

Im RIS seit

22.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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