RS Vfgh 2021/9/28 G108/2021 ua

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 28.09.2021
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Index

60/02 Arbeitnehmerschutz

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
KinderbetreuungsgeldG §3, §7, §25a, §27, §31 Abs4
ASVG §352, §353, §354, §355, §414
ASGG §65, §69, §71, §89
BundeshaushaltsG §72, §73, §74
Statusrichtlinie 2011/95/EU Art29
VfGG §7 Abs1, §62 Abs1

Leitsatz

Kein Verstoß einer Bestimmung des KinderbetreuungsgeldG gegen das Rechtsstaatsprinzip mangels Möglichkeit des Arbeits- und Sozialgerichts, die Höhe der Rückersatzpflicht von empfangenen Versicherungsleistungen zu mindern; Ratenzahlungen von Rückzahlungen zu Unrecht bezogener Leistungen setzt rechtskräftige Entscheidung über das Bestehen des Rückforderungsanspruchs voraus

Rechtssatz

Abweisung von Anträgen des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien auf Aufhebung des §31 Abs4 letzter Satz KinderbetreuungsgeldG (KBGG) idF BGBl I 53/2016.

Sowohl auf Grund der Angabe der Fassung als auch aus der Zitierung des §31 Abs4 letzter Satz KBGG, BGBl I 103/2001, idF BGBl I 53/2016 in den auf Aufhebung des "letzten Satz[es] im Absatz 4 des §31 Kinderbetreuungsgeld idF BGBl I 2016/53" gerichteten Anträgen geht mit hinreichender Deutlichkeit hervor, auf welches Gesetz und auf welche bestimmte gesetzliche Stelle Bezug genommen wird. Das antragstellende Gericht verweist umfassend auf E v 11.12.2020, G 264/2019, führt jedoch auch aus, warum im Anwendungsbereich des KBGG das Problem des Ausschlusses eines Rechtszuges in Rückforderungsangelegenheiten im Hinblick auf die Nachsicht der Rückzahlungspflicht an die ordentliche Gerichtsbarkeit durch den Ausschluss von Ratenzahlungen noch verschärft werde. Vor diesem Hintergrund wird das Arbeits- und Sozialgericht Wien dem Erfordernis des §62 Abs1 zweiter Satz VfGG (Darlegung der Bedenken im Einzelnen) gerecht. Unstrittig hat das antragstellende Gericht in den vorliegenden Fällen §31 Abs4 letzter Satz KBGG anzuwenden. Da die angefochtene Bestimmung somit als präjudiziell anzusehen ist, erfüllen die Anträge die Anforderungen des §62 Abs2 zweiter Satz VfGG. §89 Abs4 ASGG ist bei Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung einer zu Unrecht empfangenen Leistung nach §65 Abs1 Z2 iVm Z8 ASGG anzuwenden und nach dieser Bestimmung haben die Arbeits- und Sozialgerichte die Anordnung von Raten bei Rückforderungen von Amts wegen zu prüfen, und zwar unabhängig davon, ob über Ratenzahlungen im Bescheid des Krankenversicherungsträgers abgesprochen wurde. Der angefochtene §31 Abs4 letzter Satz KBGG bestimmt, dass - abweichend von dieser Bestimmung - die Arbeits- und Sozialgerichte keine Ratenzahlung anordnen dürfen. Das antragstellende Gericht hat somit bei den Entscheidungen über die negativen Feststellungsklagen, die Rückforderungen des Krankenversicherungsträgers bestünden nicht zu Recht, §31 Abs4 KBGG, der es dem Arbeits- und Sozialgericht Wien - entgegen §89 Abs4 ASGG - verbietet, eine Ratenzahlung zu gewähren, anzuwenden.

In den Fällen der konkreten Normenkontrolle steht ein möglicher Verstoß gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht (Art29 Abs1 Statusrichtlinie) der Prüfung einer Rechtsvorschrift daher nicht entgegen, wenn die Vorschrift im Anlassfall zumindest "denkmöglich" anzuwenden wäre. Steht die Vorschrift hingegen in offenkundigem Widerspruch mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht, so ist der Vorrang des Unionsrechts auch im Normenprüfungsverfahren zu beachten. Ein Verstoß gegen Unionsrecht ist dann als offenkundig anzusehen, wenn er derart offen zutage liegt, dass für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt. Nach Art29 der Statusrichtlinie haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten. Nach Erwägungsgrund 45 der Statusrichtlinie ist auch die Unterstützung bei Elternschaft umfasst. Die Nachweispflicht von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen gemäß §7 KBGG trifft Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde und Staatsbürger gleichermaßen. Eine Rückforderung der Reduktion auf Grund der fehlenden Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen oder deren Nachweis und damit eine Anwendung des §31 Abs4 KBGG im zugrunde liegenden Fall steht zumindest nicht offenkundig im Widerspruch zu unmittelbar anwendbarem Unionsrecht.

Aus §31 Abs4 letzter Satz KBGG ergibt sich eindeutig, dass es dem Krankenversicherungsträger verwehrt ist, bereits im Bescheid über die Rückforderung Ratenzahlungen anzuordnen. Auf Grund des systematischen Zusammenhanges von §31 Abs4 und Abs5 KBGG setzt ein Bescheid, der über die Ratenzahlung abspricht, vielmehr einen rechtskräftigen Abspruch über das Bestehen eines Rückforderungsanspruches voraus.

Daher enthalten Bescheide, mit denen die zu Unrecht gezahlten Kinderbetreuungsgeldbeträge zurückgefordert werden, keinen impliziten Abspruch darüber, dass der Krankenversicherungsträger von seinem Ermessen, Ratenzahlungen in den vorliegenden Fällen zu gewähren, nicht Gebrauch gemacht hat, weil er insofern - vor dem Hintergrund der Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse - keinen Anlass zur Anordnung von Ratenzahlungen gesehen hat. Vielmehr ist ein rechtskräftiger Abspruch über das Bestehen des Rückforderungsanspruches von zu Unrecht empfangener Kinderbetreuungsgeldbeträge erst Voraussetzung, um in weiterer Folge Zahlungserleichterungen anordnen zu können.

Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die vorliegende zu beurteilende Rechtslage maßgeblich von jener, die zur mit Ablauf des 31.12.2021 in Kraft tretenden Aufhebung bestimmter Wortfolgen des §89 Abs4 ASGG geführt hat, weshalb E v 11. 12.2020, G264/2019, nicht übertragbar ist.

Entscheidungstexte

  • G108/2021 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 28.09.2021 G108/2021 ua

Schlagworte

Rechtsstaatsprinzip, Kinderbetreuungsgeld, Kompetenz sukzessive, Arbeits- u Sozialgerichtsbarkeit, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Bedenken, VfGH / Gerichtsantrag, Rechtskraft, Rechtsschutz, EU-Recht Richtlinie, Anwendbarkeit eines Gesetzes, Auslegung systematische

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:G108.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.10.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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