Entscheidungsdatum
19.05.2021Norm
AsylG 2005 §57Spruch
I405 1418144-3/3E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Sirma KAYA über die Beschwerde des XXXX (alias XXXX ) XXXX , geb. XXXX (alias XXXX ), StA. Nigeria, vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.04.2021, Zl. XXXX :
A) Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein nigerianischer Staatsbürger, reiste erstmals am 23.08.2010 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.02.2011 abgelehnt und der Antrag schließlich auch mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 25.11.2011 gemäß § 3 und § 8 AsylG abgewiesen. Die Ausweisung erwuchs mit 09.01.2012 in zweiter Instanz in Rechtskraft.
2. Nach seiner Festnahme im Zuge einer fremdenpolizeilichen Kontrolle stellte der BF am 13.01.2012 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.03.2012 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und der BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen.
3. Am 01.09.2014 brachte der BF neuerlich einen (dritten) Antrag auf internationalen Schutz ein, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.06.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I) wurde. Gemäß § 8 Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II). Mit Spruchpunkt III wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 und § 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Ziffer 3 AsylG i. V. m. § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Ziffer 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei. Als Frist für die freiwillige Ausreise wurden zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.09.2015, Zl. I403 1418144-2/4E, als unbegründet abgewiesen wurde.
4. Der BF wurde sodann am 10.06.2016 durch die Bundesrepublik Nigeria als Staatsbürger identifiziert und schließlich am 30.09.2016 sie in seinen Heimatstaat abgeschoben.
5. Am 11.03.2020 wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes zur Anzeige gebracht, festgenommen und schließlich nach seiner Einvernahme am selben Tag zur freiwilligen Ausreise nach Italien entlassen. Der BF wies sich mit einem nigerianischen Reisepass und bis 05.11.2020 gültigen italienischen Aufenthaltstitel aus. Am 07.08.2020 reiste der BF nach Italien aus.
6. In der Folge reiste der BF erneut ins Bundesgebiet ein und wurde zuletzt mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 16.02.2021, Zl. XXXX , wegen §§ 27 Abs. 1 Z. 1 8. Fall, Abs. 2a, 3 SMG, sowie wegen §§ 27 Abs. 1 Z. 1 2. Fall und Abs. 2 SMG, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
7. Mit Schreiben vom 10.02.2021 wurde der BF von der beabsichtigten Erlassung einer „Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot“ in Kenntnis gesetzt. Er wurde zugleich zur Beantwortung von Fragen zum Aufenthalt und persönlichen und familiären Verhältnissen in Österreich aufgefordert.
8. Am 30.03.2021 langte die entsprechende Stellungahme des BF bei der belangten Behörde ein.
9. Mit angefochtenem Bescheid vom 07.04.2021 erteilte das Bundesamt dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen (Spruchpunkt I.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG) (Spruchpunkt II.), stellte fest, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG „nach Herkunftsstaat“ zulässig sei (Spruchpunkt III.), gewährte gem. § 55 Absatz 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV.), erkannte einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt V.) und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen ihn ein auf acht Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VI.).
10. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 29.04.2021.
11. Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 03.05.2021 zur Entscheidung vorgelegt und langten am 10.05.2021 bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Feststellungen und Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Dieser ergibt sich bedenkenlos aus dem vorgelegten Verwaltungsakt.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A):
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist, die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss. Gemäß Abs. 3 sind auf die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtes § 29 Abs. 1 zweiter Satz, Abs. 4 und § 30 sinngemäß anzuwenden. Dies gilt nicht für verfahrensleitende Beschlüsse.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (...). (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG 11).
Zur aktuellen Judikatur zu § 28 Abs. 3 VwGVG ist festzuhalten, dass mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Sachentscheidungspflicht des Verwaltungsgerichtes ausgeführt wurde, dass die nach § 28 Abs. 3 VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme zur grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Das in § 28 VwGVG verankerte System verlange im Sinne der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.
Im angeführten Erkenntnis des VwGH wird diesbezüglich ausgeführt:
"Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden [...]".
Bei aufenthaltsbeendender Maßnahmen kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindruckes besondere Bedeutung zu (VwGH 16.10.2014, Ra 2014/21/0039, 30.06.2015, Ra 2015/21/0002).
Bei der Dauer der Festsetzung eines Einreiseverbotes hat die Behörde abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des Fremden darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (VwSlg. 8.295A mit weiteren Hinweisen). Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen (VwGH a.a.O.).
Darüber hinaus ist bei der Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbotes auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen; im Hinblick darauf, dass die Maßnahme grundsätzlich das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten umfasst, ist auch auf das in einem anderen Mitgliedsstaat, für den die Rückführungsrichtlinie gilt, geführte Familienleben Bedacht zu nehmen (VwGH 28.05.2015, Ra 2014/22/0037).
Die Frage nach dem Eingriff in das Privat- und Familienleben eines Drittstaatsangehörigen darf nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt worden, sondern ist auch die Situation in anderen Mitgliedsstaaten in den Blick zu nehmen. Dies folgt unzweifelhaft daraus, dass Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten bezogen sein soll (VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, 26.03.2015, 2013/22/0284).
Dabei ist auch auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu verweisen (EGMR Urteil vom 16.04.2013, Udeh gg. Schweiz, Nr. 12020/09), wonach eine Ausweisung in einem zum BF ähnlich gelagerten Fall, eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellt. Im genannten Urteil handelte es sich nämlich um einen Staatsbürger von Nigeria, der unter falscher Identität 2001 in die Schweiz eingereist war, zuvor in Österreich wegen Drogenhandels jedoch strafrechtlich verurteilt worden war und auch sein Asylantrag war abgewiesen worden. 2003 heiratete er eine Schweizer Staatsangehörige, mit der er gemeinsame Zwillingstöchter hat (2003 geboren); mittlerweile war er geschieden und hat mit einer anderen Schweizerin ein weiteres Kind. Der BF wurde 2006 in Deutschland erneut wegen Drogenhandels zu drei Jahren und sechs Monaten Haftstrafe verurteilt, jedoch bereits 2008 entlassen und ist wieder in die Schweiz zurückgekehrt. 2009 wurde gegen den BF eine Ausweisungsanordnung erlassen. Laut EGMR liegt es aber im höherrangigen Interesse der Kinder, bei beiden Elternteilen aufzuwachsen, daher ist eine Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz für den BF die einzige Möglichkeit, um einen regelmäßigen Kontakt zu seinen Zwillingstöchtern aufrechterhalten zu können. Unter Beachtung seiner familiären Beziehung zu seinen Kindern, seiner Straflosigkeit nach Begehung der schweren Straftat im Jahr 2006 und somit einer positiven Zukunftsprognose stellt der EGMR im Falle der Ausweisung des BF eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.
Erstmals benannte der EGMR im Urteil Üner in Erweiterung der BOULTIF-Kriterien das Kindeswohl als eigenständiges Kriterium der Interessensabwägung. In diesem Urteil wurde das Kindeswohl (als untergeordnetes Element) sowie das sehr stark ausgeprägte Privat- und Familienleben des Vaters (noch) von den ebenfalls sehr gewichtigen öffentlichen Interessen an einem Aufenthaltsverbot überwogen. Im Urteil Rodrigues da Silva und Hoogkamer überwog das explizit genannte Kindeswohl die öffentlichen Interessen an einer Ausweisung. [...] Aus diesen Urteilen ist erkennbar, dass der EGMR in zunehmender Intensität die Bedeutung der Beziehung zwischen Kindern und dem Elternteil, welches die wichtigste Bezugsperson für diese ist, für das Kindeswohl anerkannt hat. Mit den Urteilen Nunez und Udeh hat der EGMR nunmehr hervorgehoben, dass es für das Kindeswohl von großer Bedeutung ist, mit beiden Elternteilen aufzuwachsen. Gleichzeitig wurde das Recht des BF auf ein gemeinsames Leben (mit der Kernfamilie) als eines der grundlegenden Aspekte des Rechtes auf Achtung des Familienlebens hervorgehoben. In einer Gesamtbetrachtung in der das Kindeswohl zu berücksichtigen ist, tritt jedoch die Frage, ob das Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist (bzw. das Kind zu einem Zeitpunkt geboren wurde), in dem der Aufenthalt eines Elternteils unsicher war, in den Hintergrund (Chmielewski, Kindeswohl als Kriterium der Interessensabwägung, MIGRALEX, 03/2013, 71).
In diesem Zusammenhang ist aber auch besonders das Kindeswohl (vgl. auch Urteil des EGMR v. 28.06.2011, Nunez gegen Norwegen, Kammer IV, Bsw Nr. 55-597/09) zu berücksichtigen, das in diesem Zusammenhang auf Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention verweist, wo das Wohl des Kindes als vorrangiger Gesichtspunkt hervorgestrichen wird (vgl. z. B. auch AsylGH vom 17.04.2012, Zl. D3 401794-1/2008/9E, AsylGH vom 04.06.2012, Zl.: D3 414251-2/2011/5E u.a.).
Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR-Urteil vom 16.04.2013, Udeh gegen Schweiz, Nr. 12020/09) besteht eine gewisse Priorität zumindest des Familienlebens gegenüber der Unbescholtenheit (siehe zum Beispiel auch BVwG vom 30.10.2015, W159 1248124-2/15E).
Wenn auch im fremdenpolizeilichen Verfahren keine so eindeutige gesetzliche Regelung hinsichtlich der Verpflichtung der persönlichen Einvernahme vor den wie in Asylverfahren (§ 19 AsylG 2005), so ergibt sich aus der oben angeführten ständigen eindeutigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes doch das unabdingbare Erfordernis der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vor Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, was nur durch eine persönliche Einvernahme gewährleistet wird, welche im vorliegenden Verfahren von der belangten Behörde völlig unterlassen wurde.
Darüber hinaus hat sich das Bundesamt auch in keiner Weise mit dem Privat- und Familienleben des BF in Italien und seinen dortigen Lebensverhältnissen auseinandergesetzt.
Es musste dem Bundesamt bereits aus der im Akt aufliegenden niederschriftlichen Einvernahme am 11.03.2020 bekannt gewesen sein, dass der BF über einen italienischen Aufenthaltstitel verfügt, zumal er mit einer italienischen Staatsangehörigen verheiratet ist. Aufgrund dieser Angaben war für das Bundesamt erkennbar, dass diesbezüglich detailliertere Ermittlungen angestellt hätten werden müssen. Diese Angaben wären zu prüfen gewesen und jedenfalls eine niederschriftliche Einvernahme unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers geboten gewesen. Stattdessen forderte es den BF auf, Stellung zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen in Österreich zu machen. Fragen zu seinen Angehörigen und dem Privatleben in Italien wurden nicht gestellt.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass das Bundesamt jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit hinsichtlich der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks und des Bestehens eines Privat- und Familienlebens in einem Mitgliedsstaat, im konkreten Fall in Italien, unterlassen hat. Auch wäre zu prüfen gewesen, ob der BF weiterhin über einen italienischen Aufenthaltstitel verfügt und als begünstigter Drittstaatsangehöriger zu qualifizieren wäre.
Des Weiteren ist der Beschwerde beizurtreten, dass die belangte Behörde im vorliegenden Fall auch jegliche Ermittlungstätigkeit hinsichtlich der aktuellen Situation im Herkunftsstaat des BF unterlassen hat. So hat sie keinerlei Länderfeststellungen in den angefochtenen Bescheid aufgenommen, obwohl das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria zuletzt am 23.11.2020 gesamtaktualisiert wurde.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den Asyl- und Fremdenbehörden zu erwarten, dass sie zur Feststellung zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und von Amts wegen aktuelles Berichtsmaterial heranziehen (z.B. VwGH vom 15.09.2010, 2008/23/0334 und viele andere mehr).
Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 50 Abs. 1 FPG ist es jedoch erforderlich, aktuelle Länderberichte nicht nur "in das Verfahren einzuführen", sondern in der Entscheidung inhaltlich wiederzugeben (VfGH vom 13.03.2013, U 2375/12).
Dem bekämpften Bescheid ist nicht zu entnehmen, auf Basis welcher Feststellungen die belangte Behörde zu der Beurteilung gelangt, dass die Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat zulässig ist. In diesem Sinne ist es erforderlich, sich mit der persönlichen Situation des BF im Hinblick auf die getroffenen Länderfeststellungen auseinanderzusetzen (VfGH vom 02.05.2011, U 1005/10).
Wie der Verwaltungsgerichtshof zu der quasi eine Vorgängerbestimmung des anzuwendenden § 28 Absatz 3 VwGVG darstellenden § 66 Absatz 2 AVG ausgeführt hat, dass es nicht im Sinne des Gesetzgebers wäre, wenn nahezu das gesamte Verfahren vor die Berufungsbehörde (nunmehr Verwaltungsgericht) verlagert würde und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde, [...] bzw. dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages erst bei der "obersten Berufungsbehörde (nunmehr: Verwaltungsgericht) beginnen würde (VwGH 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315; 21.12.2000, Zl. 2000/20/0084).
In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass im vorliegenden Verfahren jedenfalls die in der eingangs zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs genannten besonders gravierenden Ermittlungslücken vorliegen. Der BF wäre für das Bundesamt jederzeit greifbar gewesen, da er sich in Strafhaft befindet.
Eine Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall ist weder im Interesse der Raschheit gelegen noch mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden, da abgesehen von den dargelegten umfassenden Ermittlungen auch eine weitere Befragung des BF unumgänglich ist und würde überdies im Falle einer Ersetzung der verwaltungsbehördlichen Einvernahme durch eine Beschwerdeverhandlung dem BF die Rechtsmittelinstanz verlustig werden.
Deshalb war der angefochtene Bescheid wegen des engeren Zusammenhangs aller Spruchteile zur Gänze gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG mit Beschluss aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen. Da der angefochtene Bescheid zur Gänze aufzuheben war, erübrigte sich auch eine Entscheidung zur Frage der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.
Im vorliegenden Fall konnte die Verhandlung im Sinne des § 24 Abs. 2 VwGVG entfallen, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben war.
Zu Spruchpunkt B) - Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Weder noch fehlt es an einer Rechtsprechung, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchpunkt A) wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren vor dem Bundesamt notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, weil § 28 Abs. 3 2. Satz inhaltlich § 66 Abs. 2 AVG (mit Ausnahme des Wegfalls des Erfordernisses der Durchführung einer mündlichen Verhandlung) entspricht und die Judikatur des VwGH betreffend die Zurückverweisung wegen mangelhafter Sachverhaltsermittlungen heranzuziehen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat überdies bereits festgehalten, dass die Revision wegen der Einzelfallbezogenheit der Entscheidung über die Anwendung des § 28 Abs. 3 VwGVG keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG begründet (vgl. VwGH 25.01.2017, Ra 2016/12/0109).
Im Übrigen wurde die gegenständliche Entscheidung mit der gefestigten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch insbesondere mit aktueller Judikatur des EGMR begründet.
Schlagworte
Abschiebung aktuelle Länderfeststellungen Aufenthaltstitel aufschiebende Wirkung - Entfall begünstigte Drittstaatsangehörige Behebung der Entscheidung berücksichtigungswürdige Gründe Einreiseverbot Ermittlungspflicht freiwillige Ausreise Frist Gefährdung der Sicherheit Gefährdungsprognose Gesamtbetrachtung Haft Haftstrafe Interessenabwägung Kassation Kindeswohl mangelhaftes Ermittlungsverfahren mangelnde Sachverhaltsfeststellung öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit persönlicher Eindruck Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung Rückkehrentscheidung behoben Straffälligkeit strafgerichtliche Verurteilung Strafhaft strafrechtliche Verurteilung Straftat Suchtmitteldelikt ZurückverweisungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:I405.1418144.3.00Im RIS seit
21.10.2021Zuletzt aktualisiert am
21.10.2021