TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/2 W122 2211912-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.07.2021
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Entscheidungsdatum

02.07.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W122 2211912-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gregor ERNSTBRUNNER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA.: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.11.2018, Zl. 1159955101-170883198, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2021, zu Recht:

A) Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl:

Der Beschwerdeführer, ein zum Zeitpunkt seiner Antragstellung noch minderjähriger afghanischer Staatsangehöriger aus der Volksgruppe der Tadschiken und muslimischen Glaubens, ist spätestens am 27.07.2017 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet eingereist und stellte an diesem Tag den gegenständlichen Asylantrag. Diesen begründete er dahingehend, dass die Taliban bereits mehrmals versucht hätten, ihn zu rekrutieren. Etwa sieben Monate zuvor seien sie gewaltsam in sein Haus eingedrungen und hätten nach ihm gesucht. Seine Mutter habe ihn noch rechtzeitig verstecken können. Als die Taliban das Haus wieder verlassen hätten, sei er aus seinem Versteck gekommen und habe seine Eltern bewusstlos mit offensichtlichen Spuren von Gewaltanwendung vorgefunden. Sein Onkel habe ihm geraten, Afghanistan sofort zu verlassen und auch seine Ausreise organisiert. Zu den Kosten könne der Beschwerdeführer nichts sagen.

Am 05.09.2017 wurde eine Untersuchung zur Altersfeststellung durchgeführt und vom Sachverständigen XXXX als spätmögliches fiktives Geburtsdatum der XXXX festgelegt. Auf Grundlage des von ihm erstellten Sachverständigengutachtens wurde von der Behörde mit Verfahrensanordnung vom 24.08.2018 gem. § 7 VwGVG als Geburtsdatum des Beschwerdeführers als Teil seiner Verfahrensidentität der XXXX festgestellt.

Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab der Beschwerdeführer zu seiner Person an, er sei am XXXX in der Provinz Kunduz, Afghanistan geboren, sei ledig, gehöre zur Volksgruppe der Tadschiken und sei sunnitischer Moslem. Er habe ein Jahr lang die Koranschule in XXXX besucht und vor seiner Ausreise in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet. Weiters gab er die Namen und das ungefähre Alter seiner Eltern sowie seiner Schwester und seines Onkels an. Seine Eltern seien von den Taliban im Zuge der Hausdurchsuchung getötet worden, seine Schwester sei verschwunden. Zuletzt hätte er im Sommer 2017 Kontakt zu seinem Onkel gehabt, als er in Griechenland gewesen sei. Zur Ausreise führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er habe Afghanistan im Jänner 2017 verlassen und sei schlepperunterstützt über ihm unbekannte Länder, Griechenland und Italien nach Österreich gelangt. In Griechenland sei er erkennungsdienstlich behandelt worden, habe aber keinen Asylantrag dort gestellt. Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor: Er sei vier bis fünf Mal von den Taliban, die überall in der Provinz Kunduz aktiv seien, angehalten und aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen und im Dschihad zu kämpfen. Er habe das abgelehnt, woraufhin ihm bei seiner letzten Anhaltung gedroht worden sei, sofern er nicht komme, würde seine Familie getötet werden. Am nächsten Tag seien die Taliban ins Haus eingedrungen, weshalb er sich in einem Backofen versteckt habe. Er hätte gehört, dass lautstark nach ihm gefragt wurde und seine Eltern angegriffen wurden. Sie seien geschlagen worden, auch Schüsse seien gefallen. Nach etwa einer halben Stunde sei er aus seinem Versteck gekommen und habe seine Eltern am Boden vorgefunden. Seine Schwester sei nicht mehr auffindbar gewesen. Er habe daraufhin seinen Onkel angerufen, der sofort gekommen sei. Dieser habe ihm gesagt, es sei zu gefährlich und er solle Afghanistan verlassen, und seine Ausreise organisiert.

In Österreich wohne er in einer betreuten Unterkunft der Grundversorgung, leiste gemeinnützige Arbeit in seiner Gemeinde und spiele Fußball und Volleyball, auch mit Österreichern.

Der Beschwerdeführer gab zudem an, wegen Kopfschmerzen ärztliche Behandlung aufzusuchen.

Im Rahmen der Einvernahme wurden ein Tiroler Integrationskompass, Bestätigungen für A1/1-, A1/2- und A2-Deutschkurse, eine Arbeitsbestätigung der Gemeinde Tristach, eine Teilnahmebestätigung für ORS-Kurse zur Erlangung von Grundkenntnissen der deutschen Sprache sowie ein TIK-Beratungsplan.

Auf Rückfrage der Behörde bestätigte der behandelnde Arzt, XXXX , dass der Beschwerdeführer wegen anhaltender Schlafstörungen mit ausgeprägten Albträumen, Unruhe und Ängsten bei ihm in Behandlung stehe. Nachts würde er die Ereignisse traumatisch wiedererleben, könne nicht weiterschlafen, Leide unter Ängsten, Unruhe, Nervosität, Anspannung, die bis in den Morgen anhalte. Als Diagnose stellte er Insomnie mit Albträumen und Panikattacken, sowie eine posttraumatische Belastungsstörung fest, welche medikamentös unter Einnahme von Antidepressiva (Trittico 75 mg.) behandelt würden.

Mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 30.10.2018 im Auftrag der Behörde wurde vom Sachverständigen XXXX festgestellt, dass der Beschwerdeführer unter einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion leide. Die Beschwerden hätten sich unter laufender medikamentöser, antidepressiver Therapie bereits verbessert und seien in Remission befindlich. Im Falle einer Überstellung des Betroffenen nach Afghanistan sei eine kurz- bis mittelweilige Verschlechterung des Krankheitsbildes des Beschwerdeführers möglich, da in diesem Falle der Wunsch, in Österreich bleiben zu dürfen nicht erfüllt werden würde. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht bestehe aber nicht die reale Gefahr, dass er aufgrund der psychischen Störung in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten oder die Krankheit sich in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern könne.

2. Bescheid

Am 26.11.2018 wurde mit Bescheid des BFA Zl. 1159955101-170883198 der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 27.07.2017 (vgl. Erstbefragung, Seite 2) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, abgewiesen. Die Behörde erkannte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und wies erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsgenehmigung (Spruchpunkt III.).

Rechtlich führte das Bundesasylamt zu Spruchpunkt I. im Wesentlichen aus:

„Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 24.11.1999, 99/01/0280). Nach Rechtsprechung des VwGH liegt eine dem Staat zuzurechnenden Verfolgungshandlung nicht nur dann vor, wenn diese unmittelbar von staatlichen Organen aus Gründen der Konvention gesetzt wird, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder in der Lage ist, von Privatpersonen ausgehende Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, sofern diesen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – Asylrelevanz zukommen sollte (VwGH 21.09.2000, 98/20/0434). Auf die Frage, ob der Staat „seiner Schutzpflicht nachkommen kann“, kommt es im Zusammenhang mit einer drohenden Privatverfolgung, die in keinen Zusammenhang mit einem Konventionsgrund steht, nur an, wenn die staatlichen Einrichtungen diesen Schutz aus Konventionsgründen nicht gewähren (VwGH 24.06.1999, 98/20/574; 13.11.2001, 2000/01/0098; 23.11.2006, 2005/20/0460). In dem gegenständlichen Fall sind die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK, nicht landesweit gegeben. Ihre Furcht geht zudem von einer Terrororganisation aus und nicht von offizieller, quasi staatlicher Seite. Sie konnten aus Sicht des Bundesamtes keinerlei individuelle und glaubhafte landesweit vorliegende Bedrohungshandlung vorbringen. Ihre Befürchtungen beziehen sich auf den, vor allem in Ihrer Herkunftsprovinz Kunduz herrschenden Konflikt zwischen dem Talibanregime und den Regierungstruppen. Eine glaubhafte individuelle Bedrohungshandlung nach der GFK konnte in Ihrem Fall nicht ausgemittelt werden.“

3. Beschwerde:

Gegen Spruchpunkt I. erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und beantragte die Abänderung des Bescheides dahingehend, dass seinem Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze Folge gegeben und gem. § 3 abs. 1 AsylG 2005 Asyl gewährt sowie der Flüchtlingsstatus zuerkannt werde. Begründend führte er im Wesentlichen aus:

Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure sei nach ständiger Judikatur des VwGH asylrelevant. Die Schutzbedürftigkeit sei in beiden Fällen gleich, da es für einen Verfolgten keinen Unterschied mache, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten habe oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit drohe. In beiden Fällen sei es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; 06.03.2001, 2000/01/0056; 04.04.2001, 2000/01/0301; 26.02.2002, 99/20/0509; 19.09.2006, 2006/01/0064; 28.10.2009, 2006/01/0793). Der Schutz im Herkunftsstaat dürfe nicht bloß theoretisch zur Verfügung stehen, wobei nicht auf eine gänzliche Schutzunfähigkeit oder das Fehlen jeglicher „polizeilicher Ordnungsmacht“ abgestellt, sondern vielmehr bestehe das Erfordernis eines tatsächlichen und effizienten Schutzes im Einzelfall, welcher geeignet sein muss, die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung unter das Maß der Erheblichkeit zu senken (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509; 17.09.2002, 2000/01/0414). Der Beschwerdeführer sei in einem wehrfähigen Alter, in dem junge Männer in Afghanistan von den Taliban zwangsrekrutiert würden. Er gehöre aufgrund seines Alters und Geschlechts zu dieser Gruppe und könne sich dieser nicht entziehen. Verweigere er den Beitritt zur Taliban, so drohe ihm Verfolgung, weshalb Asylrelevanz vorliege. Bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland drohe ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch die Taliban, wobei die afghanischen Sicherheitskräfte sowie Behörden und Gerichte nicht in der Lage seien, ihn zu vor einer solchen Verfolgung zu schützen. Er sei daher als Flüchtling iSd GFK anzusehen.

4. Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht:

Die Beschwerde wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 21.12.2018, eingelangt am 02.01.2019, samt bezughabenden Akten zur Entscheidung vorgelegt.

Am 06.05.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der der Beschwerdeführer persönlich teilnahm. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der Beschwerdeführer gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können, und gesund zu sein. Nach einer vorläufigen Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat wurde der bisherige Verfahrensgang seitens des erkennenden Richters zusammengefasst und die Aktenteile zum Inhalt der heutigen Niederschrift erklärt. Der Beschwerdeführer gab an, die Wahrheit gesagt zu haben. Er könne keine Identitätsdokumente vorlegen, seine Tazkira befinde sich bei seinem Onkel in Afghanistan, zu dem er seit seiner Ausreise aus Griechenland keinen Kontakt mehr habe. Er habe er seine Telefonnummer in Griechenland verloren und auch andere Versuche, Kontakt über andere Personen aufzunehmen seien gescheitert. Zu seiner Schwester habe er seit seiner Ausreise aus Afghanistan keinen Kontakt mehr gehabt, er wisse nicht, ob sie noch lebe. Sonst hätte er in seiner Heimat keine Familie. Er gab an, zum Zeitpunkt der Ausreise wie auch weiterhin ledig zu sein und keine Kinder zu haben. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre zur Volksgruppe der Tadschiken und sei Moslem. Er spreche Dari und Deutsch, könne aber nur auf Deutsch ein wenig lesen und schreiben. Er könne die Namen seiner Eltern und Geschwister nicht vollständig aufschreiben bzw. sei sich nicht sicher, ob er sie richtig schreibe. Die genauen Geburtsdaten seiner Eltern und seiner Schwester kenne er nicht, seine Mutter sei etwa 50 Jahre und seine Schwester etwa 23 Jahre alt. Er habe in der Provinz Kunduz, in Tagodar gelebt (anzumerken ist, dass der im Protokoll angeführte Ort XXXX nach Angaben des Dolmetschers möglicherweise phonetisch falsch vernommen worden und eigentlich Tagodar gemeint gewesen sein könnte). Dort habe ein Jahr eine Moschee/Koranschule besucht und etwa drei Monate in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet. Den Lebensunterhalt habe er vom Einkommen seines Vaters bestritten, ihre wirtschaftliche Situation sei gut gewesen. In Österreich habe er keine Verwandte oder sonstige private Bindungen. Er wohne zusammen mit einem anderen Afghanen und dessen zwei Kinder. Er habe einen Deutschkurs auf dem A1-Level besucht und nun mit einem A2-Kurs begonnen. Seit er eine Aufenthaltsbewilligung bekommen habe, arbeite er in einem Restaurant im 14. Wiener Gemeindebezirk, wo er im Normalfall € 1350 bis 1400 verdiene. Daraus bestreite er seinen Lebensunterhalt.

Afghanistan habe er Anfang 2017 verlassen. Er habe fliehen müssen, weil die Taliban ihn zwangsweise für den Dschihad rekrutieren haben wollen. Nach der letzten Aufforderung seien sie zu ihm nach Hause gekommen und hätten ihn gesucht. Sein Vater habe ihnen die Tür geöffnet und gerufen, dass die Taliban da wären. Seine Mutter habe ihn im Ofen versteckt. Dort habe er gehört, wie nach ihm gefragt wurde und seine Mutter geschrien habe. Es seien vier Schüsse gefallen und er habe Angst gehabt. Nach einer halben Stunde sei er aus seinem Versteck gekommen und habe seine Eltern blutend auf dem Boden gefunden. Er habe sie gerufen aber sie hätten kein Lebenszeichen gezeigt. Seine Schwester habe er gesucht aber nicht gefunden. Daraufhin habe er seinen Onkel angerufen, der zu ihm kam. Dieser habe ihm gesagt, es sei zu gefährlich in Afghanistan und er müsse flüchten. Sie seien etwa vier Stunden nachts mit dem Taxi gefahren, er wisse nicht über welche Strecke. Nach Afghanistan könne er nicht zurück, weil er dort niemanden mehr habe und selbst getötet würde. Er könne auch in keine andere, als sicher geltende Provinz – wie etwa Herat oder Mazar-e Sharif – gehen, da er sich nicht in die dortige Kultur eingelebt habe und auch keine Angehörigen dort hätte.

In weiterer Folge wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG erfolgte die Verkündung der Entscheidung samt wesentlichen Entscheidungsgründen und Erteilung der Rechtmittelbelehrung.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Zeugnis zur Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A1

?        Arbeitszeugnis über die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Abwäscher/Küchenhilfe des Restaurant XXXX , 1140 Wien

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen männlichen, afghanischen Staatsbürger. Er ist volljährig, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er ist im Entscheidungszeitpunkt nicht verheiratet und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan geboren worden und wuchs dort in der Provinz Kunduz auf. Dort besuchte er ein Jahr lang die Koranschule. Die letzten drei Monate vor seiner Ausreise aus Afghanistan hat der Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet.

Die Eltern und Schwester des Beschwerdeführers sind in Afghanistan geblieben, ein aktueller Aufenthaltsort dieser konnte nicht eruiert werden. Ein Onkel des Beschwerdeführers lebt in der Provinz Kunduz.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Einreise durchgehend im Bundesgebiet. Ihm wurde zunächst subsidiärer Schutz zuerkannt, weil ihm aufgrund seines Gesundheitszustandes, in Verbindung mit seinem jungen Alter und seinen Angaben, keinerlei Verwandte oder nahe Angehörige in sicheren Provinzen zu haben, eine Rückkehr in seine Heimatprovinz objektiv und subjektiv nicht zumutbar war und diese auch einer Rückführung in andere Landesteile Afghanistans ein Rückkehrhindernis entgegenstand.

Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Gegenteiliges hat der Beschwerdeführer auch nicht angeführt. Er ist wegen seiner Anpassungsstörung mit einer leichtgradig depressiven Reaktion in medikamentöser Behandlung, die mit allen gängigen Antidepressiva gut behandelbar ist und sich aus neurologisch-psychiatrischer Sicht auch im Falle einer Überstellung nach Afghanistan nicht in einen lebensbedrohlichen Zustand verschlechtern wird.

Der Beschwerdeführer spricht Dari und Deutsch auf A1-Niveau.

Der Beschwerdeführer hat im Zuge seines fast vierjährigen Aufenthaltes Kurse zum Erwerb der deutschen Sprache auf dem Niveau A1 abgeschlossen und besucht einen A2-Deutschkurs. Er arbeitet seit Juli 2019 als Küchenhilfe in einem Restaurant.

In Österreich hat der Beschwerdeführer keine Familie und keine engen sozialen Kontakte.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.11.2018, Zl. 1159955101-170883198 wurde dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt. Neue Gründe für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, die erst nach Erlassung des Bescheides eingetreten wären, wurden nicht vorgebracht.

1.2.    Zum Fluchtvorbringen

Der Beschwerdeführer stellte am 27.07.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der Beschwerdeführer im Wesentlichen damit, dass er in Afghanistan er von den Taliban zwangsrekrutiert werden würde. Sie hätten ihn mehrmals angehalten und aufgefordert für sie zu kämpfen. Als er dies verweigert habe, hätten sie sein Haus gestürmt und seine Eltern getötet. Aus Angst vor den Taliban habe er Afghanistan verlassen.

Festgestellt wird, dass dieses Vorbringen des Beschwerdeführers bezüglich einer aktuellen Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht wurde und ihm diesbezüglich in Afghanistan auch keine asylrechtlich relevante Verfolgungsgefahr droht.

Es kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer keiner konkreten persönlichen Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation des Beschwerdeführers im Fall seiner Rückkehr

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Provinz Kunduz zählt zu den volatilen und stark vom Konflikt betroffenen Provinzen, weshalb dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in diese Provinz nicht zumutbar ist.

Mangels des Vorliegens eines sozialen Netzwerks in anderen Landesteilen Afghanistans gilt das für den Beschwerdeführer zu seiner Heimatprovinz Ausgeführte auch für die Städte Mazar-e Sharif und Herat:

Die Städte Mazar-e Sharif und Herat sind zwar vom Konflikt relativ wenig betroffen und stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können. Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Dem Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat aber mangels des Vorliegens eines sozialen Netzwerks nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Aufgrund der COVID-19 Pandemie hat sich die Möglichkeit, einer wirtschaftlichen Betätigung oder Erwerbstätigkeit nachzugehen, ohne Kontakte zu einem lokalen Netzwerk von Unterstützern zu haben, maßgeblich verschlechtert.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand 02.04.2021, Schreibfehler teilweise korrigiert):

COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11% über dem des Vorjahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.03.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.03.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.03.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.03.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.08.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 01.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.01.2021, AAN 01.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.03.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.03.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.03.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.09.2020). Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.03.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 31.03.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Mio. (NSIA 6.2020) bis 39 Mio. Menschen (WoM 06.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Es ist geplant, die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hatte, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020) waren nur noch 1,8 Mio. Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Mio. bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Mio. (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah, erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020, TN 11.05.2020).

Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung unter Vorsitz von Abdullah wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004, USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.01.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.01.2021).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Insbesondere im Süden herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 09.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020), wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).

Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 05.01.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.01.2021; vgl. TN 09.01.2021).

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.01.2020; vgl. DZ 29.01.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.01.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.01.2020; vgl. BBC 23.01.2021).

Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.02.2021b.; vgl. AP 23.02.2021).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 25.03.2021

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020; vgl. HRW 13.01.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.01.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.08.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43% aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.08.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.01.2021; vgl. AAN 16.08.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.01.2021, vgl. AIHRC 28.01.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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