Entscheidungsdatum
12.07.2021Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Spruch
W165 2217040-1/18E
W165 2217038-1/15E
W165 2217039-1/16E
W165 2217041-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ilse LESNIAK als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX und 4.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, die minderjährige Viertbeschwerdeführerin gesetzlich vertreten durch die Kindesmutter (Zweitbeschwerdeführerin), alle vertreten durch RA Mag. Robert Bitsche, Nikolsdorfergasse 7-11/15, 1050 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.02.2019, Zlen. 1.) 1202210803-180752309, 2.) 1191055403-180465474, 3.) 1201856103-180744381 und 4.) 1172301701-171224133, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.11.2020, zu Recht erkannt:
A)
I.
Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, sowie XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und Abs. 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
II.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zu kommt.
III.
In Erledigung der Beschwerden werden die übrigen Spruchpunkte II. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer (in der Folge: BF1), und die Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge: BF2,) sind ein Ehepaar und Eltern des Drittbeschwerdeführers (in der Folge: BF3), und der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin (in der Folge: BF4).
Die BF4 reiste im Oktober 2017 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 30.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.
In ihrer polizeilichen Erstbefragung am selben Tag gab die BF4 in der Sprache Farsi befragt an, dass sie vor acht oder neun Jahren mit ihrer Familie in den Iran geflohen sei. Die Taliban hätten ihre Tante und ihre Familie bedroht, da ein Talib ihre Tante heiraten habe wollen, diese damit jedoch nicht einverstanden gewesen sei. Vor zwei Jahren sei sie mit ihrer Familie nach Afghanistan abgeschoben worden und anschließend wieder in den Iran gereist. Dort hätten sie ebenfalls Probleme gehabt. Außerdem seien sie wegen ihres Bruders, der sich in Österreich aufhalte und psychische Probleme habe, hergekommen.
Mit E-Mail vom 03.11.2017 brachte die BF4, vertreten durch ihren damaligen Rechtsberater, vor, dass sie im Iran bis zur siebenten Klasse die Schule besucht habe und mit ihrem volljährigen Bruder zusammengeführt werden wolle. Darüber hinaus lebe die Schwiegermutter ihrer Cousine in Wien, die bereit sei, ihr zu helfen. Ihre Eltern und ihr Bruder würden derzeit in Griechenland leben und würden beabsichtigen, ebenfalls nach Österreich zu reisen.
Die BF2 reiste am 16.05.2018 unter Verwendung gefälschter Dokumente auf dem Luftweg von Athen nach München, anschließend mit dem Zug nach Österreich und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
In ihrer polizeilichen Erstbefragung am 17.05.2018 gab die BF2 in der Sprache Farsi befragt an, dass sie vor etwa acht Jahren Afghanistan verlassen hätten, da sie von einem Mann bedroht worden seien. Dieser habe ihre verwitwete Schwägerin heiraten wollen. Ihre Schwägerin habe ihn nicht heiraten wollen, da er bereits verheiratet und sehr alt gewesen sei. Außerdem habe er zu verschiedenen Zeiten sowohl für die Regierung als auch für die Taliban gearbeitet. Der Mann sei kein guter Heiratsanwärter gewesen. Auf ihre negative Antwort zur Eheschließung habe er mit Drohung und Verfolgung reagiert. Sie seien geflohen und ihre Schwägerin sei auf dem Weg in die Türkei verschwunden, sodass sie nicht wisse, wo sie sich aufhalte.
Am 28.05.2018 wurde die BF4 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA), in der Sprache Dari befragt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen an, dass ihr Vater damals Güter aus dem Iran nach Afghanistan importiert habe und ihre Tante bei ihnen gelebt habe, die ledig gewesen sei. Ein Talib habe sich in ihre Tante verliebt, die dies nicht gewollt habe. Auch ihr Vater sei damit nicht einverstanden gewesen. Daraufhin habe der Mann ihrem Vater mit dem Tod gedroht, wenn er seine Schwester nicht mit ihm verheirate. Danach seien sie gemeinsam mit ihrer Tante in den Iran geflohen.
Der BF3 reiste am 06.08.2018 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am 07.08.2018 fand im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi die polizeiliche Erstbefragung des BF3 statt. Dabei gab er an, dass sich ein Mann in seine Tante verliebt habe, womit sein Vater nicht einverstanden gewesen sei. Daraufhin habe sie der Mann mit dem Umbringen bedroht, weshalb er mit seiner Tante aus dem Iran geflohen sei. In der Türkei habe er seine Tante verloren.
Der BF1 reiste am 06.08.2018 unabhängig vom BF3 unter Verwendung gefälschter Dokumente auf dem Luftweg von Griechenland direkt nach Österreich ein und stellte am 08.08.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
In seiner polizeilichen Erstbefragung am selben Tag führte der BF1 in der Sprache Dari befragt aus, dass er aus dem Iran geflüchtet sei, da er zu seinem Sohn nach Österreich wollen habe. Im Iran würden Afghanen nicht anerkannt, hätten keine Rechte und dürften nicht zur Schule gehen. Er sei vor neun Jahren aus Afghanistan in den Iran geflüchtet, da seine Schwester einen Mann heiraten habe wollen, den er als Schwager nicht akzeptiert habe. Der Mann sei bei den Taliban gewesen, weshalb sie massive Probleme mit ihm gehabt hätten. Nachdem er sie mit dem Tod bedroht habe, seien sie geflüchtet. Im Iran sei sein Sohn von der Polizei geschlagen und zwei Tage festgenommen worden, weshalb er psychisch krank geworden sei und sie nach Österreich hätten fliehen müssen.
Am 30.08.2018 fand eine Einvernahme der BF2 vor dem BFA in der Sprache Farsi statt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass sie in Afghanistan mit ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin gelebt habe. Ein Mann habe sich in ihre Schwägerin verliebt und sei zu ihnen nach Hause gekommen, um diese zu heiraten. Zu Beginn seien alle damit einverstanden gewesen, auch ihre Schwiegermutter. Sie hätten über diesen Mann mehr wissen wollen und herausgefunden, dass er früher ein Talib gewesen und gefährlich sei. Deshalb hätten sie nicht gewollt, dass er ihre Schwägerin heirate. Der Mann habe damit gedroht, dass er sie alle umbringen werde, weshalb sie in den Iran geflohen seien.
Der BF1 und der BF3 wurden jeweils am 06.11.2018 vor dem BFA in der Sprache Dari befragt.
Der BF1 gab zu seinen Fluchtgründen an, dass eines Tages ein Mann zu ihnen nach Hause gekommen sei und erklärt habe, dass er seine Schwester heiraten wolle. Er habe geantwortet, dass er damit nicht einverstanden sei, da er ihn nicht kenne. Der Mann habe ihm seinen Namen und seine Adresse aufgeschrieben und ihm aufgetragen, zu recherchieren, wer er sei. Er habe mit seiner Schwester gesprochen, die ihm gesagt habe, dass sie den Mann nicht kenne. Ein paar Tage später habe er sich in der Nachbarschaft des Mannes umgehört und erfahren, dass er schon verheiratet sei, eine Familie habe, früher ein Talib gewesen sei und nun für die Regierung arbeite. Er habe auch erfahren, dass der Mann sehr gefährlich sei. Er habe die Informationen an seine Schwester weitergegeben, die mit der Heirat nicht einverstanden gewesen sei. Einige Tage danach sei der Mann in Begleitung von vier oder fünf Personen zu ihnen gekommen, um die Zustimmung des BF1 zur Heirat seiner Schwester einzuholen. Er habe ihnen mitgeteilt, dass er nicht zustimmen werde, woraufhin der Mann gedroht habe, seine Schwester sofort mitzunehmen und sie alle zu töten. Er habe daher um ein paar Tage Zeit gebeten, um nochmals recherchieren zu können. Am nächsten Morgen seien sie in den Iran gereist.
Der BF3 führte zu seinen Fluchtgründen aus, dass ein Talib sich in seine Tante verliebt und sie heiraten habe wollen. Da sein Vater gegen die Hochzeit gewesen sei, seien sie bedroht worden. Er habe dies von seinen Eltern mitbekommen, selbst könne er sich nicht daran erinnern. Den Iran hätten sie verlassen, da sie illegal dort gelebt hätten. Er habe dort zur Schule gehen wollen, jedoch habe ihn der Direktor nicht aufgenommen.
Mit den Bescheiden vom 28.02.2019 wies das BFA die Anträge der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) ab, erkannte den Status der Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen die BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf das BFA Feststellungen zur Person der BF, zur Situation im Falle ihrer Rückkehr und zur Lage in deren Herkunftsstaat. Die BF hätten keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe den BF keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die BF würden aus Herat stammen und zumindest der BF1 und die BF2 daher über entsprechende Ortskenntnisse verfügen. Sie hätten dort ein Haus, das vermietet werde, weshalb die BF im Falle der Rückkehr eine Wohnmöglichkeit hätten. Die BF hätten Kontakt zu den Geschwistern des BF1 und der Schwester der BF2, die nach wie vor in Herat leben und dort arbeiten würden. Der BF1 habe sowohl in Afghanistan wie auch im Iran Berufserfahrung gesammelt und sei im Iran in der Lage gewesen, den Lebensunterhalt für die gesamte Familie zu erwirtschaften, weshalb ihm dies auch in Zukunft zuzutrauen sei. Die BF könnten Mazar-e Sharif oder Herat erreichen, ohne einer besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Die BF würden auch nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG erfüllen. Der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe deren Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer, des Fehlens von familiären Bindungen im Inland, des unsicheren, ausschließlich auf unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz gestützten Aufenthalts und der nach wie vor bestehenden engeren Bindung zum Herkunftsstaat, nicht entgegen. Aufgrund der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, nicht gegeben seien.
Gegen diese Bescheide richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 27.03.2019, mit der die Bescheide hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis V. angefochten wurden und die BF Unterlagen zum Nachweis ihrer Integration übermittelten. Nach Zusammenfassung des Fluchtvorbringens führten die BF aus, dass die BF zwar als Muslime geboren seien, jedoch nicht an den Islam glauben würden und die BF4 in Österreich mit dem Christentum in Berührung gekommen sei sowie einige Male die Kirche besucht habe. Da nicht nur Konversion, sondern auch Apostasie in Afghanistan bestraft werde, drohe ihnen im Falle der Rückkehr neben der Todesstrafe Verfolgung durch private Personen, die die Bestrafung oftmals „selbst in die Hand“ nehmen würden. Die BF2 und die BF4 seien selbständige Frauen, die in ihrer Wertehaltung und Lebensweise am in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert seien und die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan sowie deren Kleidungsvorschriften ablehnen würden. Für sie bestehe daher aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen ein Verfolgungsrisiko. Im Übrigen wurden Ausführungen zur Sicherheitslage in Afghanistan erstattet.
Mit einer am 05.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG), eingelangten Beschwerdeergänzung übermittelten die BF einen Taufschein der BF2, beantragten die Einvernahme eines Zeugen zum Beweis der Konversion der BF2 und brachten vor, dass sich die BF2 auch nach ihrer Taufe am 27.06.2020 weiterhin mit dem Christentum beschäftige, regelmäßig Gottesdienste sowie Veranstaltungen innerhalb der Gemeinde besuche und sich in der Kirchengemeinde engagiere, sodass ihr nunmehr auch aus diesem Grund Verfolgung drohe. Die BF4 spreche Deutsch auf Niveau B1, habe den Pflichtschulabschluss erfolgreich absolviert, besuche derzeit die Polytechnische Schule und beabsichtige, anschließend eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. Sie sei Mitglied in einem Verein, übe in ihrer Freizeit diverse Sportarten aus, sei westlich gekleidet und habe sich inzwischen acht Mal tätowieren lassen, wobei die Tattoos klar sichtbar seien. Sie führe nunmehr ein eigenständiges und selbstbewusstes Leben und sei nicht gewillt, sich den Unterdrückungen und Diskriminierungen in Afghanistan zu unterwerfen.
Am 27.11.2020 fand eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. Die BF wurden in Anwesenheit ihrer bevollmächtigten Rechtsvertreterin ausführlich zu ihren Fluchtgründen, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und im Iran sowie ihrer Integration in Österreich befragt und legten Unterlagen zu ihrer Integration vor. Der beantragte Zeuge wurde zu den religiösen Aktivitäten der BF2 einvernommen. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Behörde übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 30.10.2017, 17.05.2018, 07.08.2018 und 08.08.2018; die Niederschriften der Einvernahmen vor dem BFA am 28.05.2018, 30.08.2018 und 06.11.2018 sowie die Beschwerde vom 27.03.2019;
? Länderfeststellungen der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 4 vom 11.06.2021), EASO-Bericht „COI Report: Afghanistan – Key socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City“ vom August 2020, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, die EASO – Country Guidance Afghanistan von Dezember 2020 (insb. Auszug: III. Subsidiärer Schutz, Seiten 94ff und V. Innerstaatliche Schutzalternative, Seiten 159ff), ACCORD-Bericht zu Afghanistan: „Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa“ vom 15.06.2020 sowie die Analyse der Staatendokumentation vom 25.06.2020;
? Einvernahmen der BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.11.2020;
? Einvernahme des Leiters der Klosterkirche, welche die BF2 besucht, als Zeuge im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.11.2020;
? Einsicht in die von den BF vorgelegten Unterlagen (insb. zu ihrer Integration und dem vorgebrachten Religionswechsel der BF2).
2. Feststellungen:
2.1. Zur Person der BF:
Die BF führen die im Spruch genannten Namen und Geburtsdaten. Sie sind afghanische Staatsangehörige und gehören der Volksgruppe der Tadschiken an. Ihre Muttersprache ist Dari, zusätzlich beherrschen sie die Sprache Farsi. Der BF1 und die BF2 sind verheiratet und die Eltern des mittlerweile volljährigen BF3 und der minderjährigen BF4. Der BF1 und die BF2 haben einen weiteren gemeinsamen bereits volljährigen Sohn.
Die BF1 und der BF2 stammen aus Herat-Stadt und lebten dort gemeinsam mit ihrem volljährigen Sohn, dem BF3 und der BF4, die ebenfalls in Herat-Stadt geboren sind, in ihrem eigenen Haus. Der BF1 arbeitete zunächst im Textilhandel und hatte anschließend ein Transportunternehmen, das Waren aus dem Iran nach Afghanistan importierte. Die BF2 war Hausfrau.
Im Jahr 2009 übersiedelten die BF in den Iran. Dort war der BF1 weiterhin selbständiger Transportunternehmer und die BF2 Hausfrau. Der BF3 und die BF4 erhielten sieben Jahre Unterricht von einer Privatlehrerin.
Im August 2017 reisten die BF gemeinsam über die Türkei nach Griechenland und anschließend unabhängig voneinander weiter nach Österreich.
Die BF4 gelangte im Oktober 2017 in einem LKW über ihr unbekannte Länder in das Bundesgebiet und stellte am 30.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Die BF2 reiste unter Verwendung gefälschter Dokumente am 16.05.2018 mit dem Flugzeug von Athen nach München, anschließend mit dem Zug weiter nach Österreich und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF3 begab sich Anfang August 2018 mit gefälschten Dokumenten auf dem Luftweg von Griechenland nach Frankreich, anschließend mit dem Zug über die Schweiz nach Österreich und stellte am 06.08.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag flog der BF1 ebenfalls unter Verwendung eines gefälschten Personalausweises von Griechenland nach Wien und stellte am 08.08.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF1, die BF2 und der BF3 leben gemeinsam mit dem volljährigen Sohn bzw. Bruder, der an Schizophrenie leidet, in einer Flüchtlingsunterkunft. Dem volljährigen Sohn des BF1 und der BF2 (Bruder des BF3 und der BF4), wurde mit Bescheid des BFA vom 28.02.2019 der ihm zuerkannte Status als subsidiär Schutzberechtigter aberkannt. Dazu ist beim BVwG ein Beschwerdeverfahren anhängig. Die BF4 lebt getrennt von ihren Familienangehörigen in einem SOS-Kinderdorf und wird vom Jugendamt betreut. Sie besucht ihre Familienangehörigen zweimal wöchentlich und telefoniert regelmäßig mit ihnen. Die BF beziehen Leistungen aus der Grundversorgung. Das Geld wird auf das Konto der BF2 überwiesen.
Der BF1 und die BF2 haben bisher keinen Deutschkurs besucht, üben keine ehrenamtlichen Tätigkeiten aus und sind überwiegend zu Hause. Die BF2 verwaltet das Geld, das die BF aus der Grundversorgung beziehen, geht selbständig einkaufen und kümmert sich um den volljährigen, psychisch kranken Sohn sowie den Haushalt. Bei der Betreuung ihres gemeinsamen Sohnes unterstützt sie der BF1. Die BF2 ist mit ihrer Nachbarin befreundet und wird zu ihren gemeinsamen Treffen sowie Arztterminen vom BF3 begleitet, der für sie mangels eigener Deutschkenntnisse übersetzt. In ihrer Freizeit geht sie manchmal spazieren oder Rad fahren.
Die BF2 nahm von Mitte März 2019 bis Ende Juni 2020 an einem Glaubenskurs der katholischen Kirche teil, zu dem sie der BF3 begleitete und wurde am 27.06.2020 getauft und gefirmt. Sonntags besucht sie regelmäßig Gottesdienste der Klosterkirche in ihrem Wohnort.
Der BF3 spricht Deutsch und besuchte einen Pflichtschulabschlusskurs, der bis Ende Dezember 2020 gedauert hat und hat zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sechs Prüfungen positiv abgelegt, wobei fünf Prüfungen mit „Sehr gut“ bewertet wurden.
Die BF4 spricht sehr gut Deutsch, erwarb an einer Neuen Mittelschule den Pflichtschulabschluss und besucht derzeit eine Polytechnische Schule mit Schwerpunkt „Gesundheit und Soziales“. Sie ist Mitglied in einem Ballsportverein, wo sie einmal wöchentlich trainiert. In ihrer Freizeit trifft sich die BF4 mit ihren Freunden, übt verschiedene Sportarten aus (Schwimmen, Eislaufen, Schi fahren) und geht Billard spielen. In Zukunft möchte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester beginnen und in einer eigenen Wohnung leben.
Die BF4 war in der Vergangenheit mehrmals in Beziehungen. Sie kleidet sich modisch, trägt ihre Haare offen, hat Ohrringe und aufgeklebte Fingernägel. Sie hat mehrere Tattoos (unter anderem eine Blume auf dem Rücken sowie einen Schriftzug auf dem Handgelenk), die sie anfertigen ließ, ohne die Zustimmung ihrer Eltern einzuholen. Ihre Eltern und der BF3 sind mit ihrer Lebensweise einverstanden.
Die BF sind unbescholten.
2.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Die BF haben nicht glaubhaft gemacht, dass sie von einem potenziellen Heiratsanwärter der Schwester des BF1 bedroht worden wären, da der BF1 mit der Hochzeit seiner Schwester nicht einverstanden gewesen wäre und sie deshalb im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban in ganz Afghanistan verfolgt und getötet würden.
Die BF2 hat nicht glaubhaft gemacht, dass sie aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert ist oder eine selbständige Frau ist, die in ihrer Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist und ihr daher Verfolgung, Gewalt oder Diskriminierung von erheblicher Intensität aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, einer (ihr unterstellten) politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten afghanischen Frauen drohen würden.
Die BF wurden in ihrem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatten mit den Behörden ihres Herkunftsstaates weder aufgrund ihrer Rasse, Nationalität, ihres Religionsbekenntnisses oder ihrer Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst in irgendeiner Art und Weise Probleme. Sie waren nie politisch tätig und gehörten keiner politischen Partei an.
Ebenso wenig haben die BF glaubhaft gemacht, dass sie aufgrund eines Abfalls vom Islam in Afghanistan der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wären.
Glaubhaft ist jedoch, dass die BF4 eine selbständige junge Frau ist, die in ihrer Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan sowie Kleidungsvorschriften ab und kann sich auch nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die BF4 ist nicht besonders religiös. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zu Erwerbstätigkeit für Frauen.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Zur allgemeinen Lage in Afghanistan werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 4 vom 11.06.2021, wiedergegeben:
„[…]
Politische Lage
Letzte Änderung: 11.06.2021
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga, dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Distrikträten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021) und mindestens zwei Frauen sollen aus jeder Provinz gewählt werden (insgesamt 68) (USDOS 30.3.2021).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlichen kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
[…]
Politische Parteien und Wahlen
Letzte Änderung: 11.06.2021
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 12.5.2021). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen auf Basis ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Wahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 30.3.2021). Es ist geplant, die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, AA 1.10.2020).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen - bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).
Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten für die Hälfte der Positionen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) Kandidaten vorzuschlagen (RA KBL 12.10.2020).
Die Bemühungen um die Durchführung von Wahlreformen zur Vorbereitung der verfassungsmäßig vorgeschriebenen und überfälligen Provinz-, Distriktrats- und Kommunalwahlen, wie in der politischen Vereinbarung vom 17.5.2020 zwischen Präsident Ghani und Dr. Abdullah dargelegt, kamen nur langsam voran. Am 15.12.2020 unterzeichneten die beiden Wahlorgane, die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und das United Nations Development Programme (UNDP), die Verlängerung des United Nations Electoral Support Project, um die technische Hilfe der Vereinten Nationen bis Ende Dezember 2021 fortzusetzen. Präsident Ghani und seine beiden Vizepräsidenten trafen sich am 17.1.2021 und am 19.1.2021 mit der Unabhängigen Wahlkommission und der Wahlbeschwerdekommission, um die Abhaltung der verzögerten Wolesi Jirga-Wahl für die Provinz Ghazni sowie der Provinzrats-, Distriktrats- und Kommunalwahlen zu besprechen. Die Wahlleitungsgremien erklärten sich bereit, die Wahlen im Oktober 2021 abzuhalten, abhängig von Sicherheit, Budget und Personalausstattung. Einheimische Wahlbeobachtungsorganisationen, darunter die Transparent Election Foundation of Afghanistan und das Free and Fair Election Forum of Afghanistan, äußerten sich skeptisch über die Praktikabilität der Durchführung von Wahlen im Oktober (UNGASC 12.3.2021).
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Friedens- und Versöhnungsprozess
Letzte Änderung: 11.06.2021
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020a). Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der afghanischen Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der afghanischen Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020a) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die "innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Frauenrechtlerinnen in Afghanistan haben jedoch seit vielen Jahren Bedenken geäußert, dass die Regierung die Rechte der Frauen eintauschen wird, um eine Einigung mit den Taliban zu erreichen. Die afghanische Regierung hat sich oft dagegen gewehrt, Frauen in Friedensgespräche einzubeziehen. Im Juni 2015 verabschiedete die afghanische Regierung einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrats für den Zeitraum 2015 bis 2022, der auch das Ziel enthielt, die effektive Beteiligung von Frauen am Friedensprozess zu gewährleisten, doch dem Plan fehlten Details und er wurde nicht sinnvoll umgesetzt (HRW 22.3.2021).
Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 wurde nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Kabul in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021).
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner "schwierig", sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021).
Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b; vgl. AP 23.2.2021).
Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind (HRW 22.3.2021).
Beobachter sehen bei den Taliban eine bewusste Strategie des Teilens und Herrschens am Werk, die Einladungen zu privaten Gesprächen an verschiedene regionale Warlords und Herrscher verschickt haben. Offenbar ist das Ziel, Präsident Ghani zu isolieren (BAMF 10.5.2021).
Die USA versuchten, in Istanbul eine Konferenz zu organisieren, um an einer Einigung zwischen den Taliban-Aufständischen und der afghanischen Regierung zu arbeiten, indem sie beide Parteien und andere wichtige internationale und regionale Akteure zusammenbrachten (AAN 1.5.2021; vgl. REU 20.4.2021). Die Taliban zeigten, wie sie selbst sagten, kein Interesse an dem Treffen und erklärten nach der Biden-Ankündigung zu den Truppen, dass sie nicht teilnehmen würden. Die Taliban nannten die Konferenz einen Versuch, "die Taliban, ob sie wollen oder nicht, zu einer überstürzten Entscheidung zu drängen, die von Amerika benötigt wird" (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021, AP 21.4.2021)
Die USA, die Türkei, Katar und Pakistan versuchten Berichten zufolge, die Taliban zur Teilnahme an der Konferenz zu bewegen, die für den 24.4.2021 bis 4.5.2021 geplant war, aber scheiterte. Sie wurde offiziell nicht abgesagt, sondern verschoben (AAN 1.5.2021; vgl. TN 22.4.2021). Die Taliban haben die Teilnahme an einem zukünftigen Gipfel in der Türkei nicht ausgeschlossen (RFE/RL 12.5.2021a).
Auf der Kabuler Seite zog die politische Klasse auch nach dem klaren Signal der USA, die Truppen abzuziehen, nicht an einem Strang, weder um ernsthaft mit den Taliban zu verhandeln noch um eine alternative Strategie zu beschließen und zu verfolgen (AAN 1.5.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021, BBC 23.4.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021).
Für die Taliban ist die Errichtung einer "islamischen Struktur" eine Priorität. Wie diese aussehen würde, haben die Taliban noch nicht näher ausgeführt. Ähnliche Bedenken werden in Bezug auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert. Die Verhandlungen mit den USA haben bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs ausgelöst. Indem sie mit den Taliban verhandeln, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt. Gleichzeitig haben die Verhandlungen aber auch die afghanische Regierung unterminiert, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021). Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte (RFE/RL 19.5.2021).
Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird (VIDC 26.4.2021; vgl. AAN 1.5.2021, GM 18.5.2021). Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen (AAN.1.5.2021; vgl. GM 18.5.2021), während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm.: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen (RFE/RL 12.5.2021a; vgl. BBC 15.4.2021). Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden (RFE/RL 12.5.2021a) und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, LWJ 20.5.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens 12 Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).
Es wird erwartet, dass unter einer künftigen Taliban-Herrschaft die Rechte der Frauen im Land einen schweren Rückschlag erleiden werden (BAMF 10.5.2021; vgl. AI 24.5.2021, TD 25.5.2021, BBC 25.4.2021). Außerdem werden die Auswirkungen für Frauen in ländlichen Gebieten, in denen die Taliban die absolute Kontrolle haben, noch schlimmer sein als für Frauen in den großen städtischen Zentren wie Kabul (TD 25.5.2021). Im Mai 2021 warnte Human Rights Watch (HRW), dass sich die Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund fehlender Spendengelder als Folge des Abzugs der internationalen Truppen und der unklaren Lage im Land verschlechtern wird (HRW 5.2021; vgl. BAMF 10.5.2021).
Viele der schätzungsweise 18.000 afghanischen Dolmetscher, Kommandosoldaten und andere, die mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben, haben Visa beantragt, um in die USA auszuwandern - ein Prozess, der nach Angaben von Gesetzgebern mehr als zwei Jahre dauern könnte, was sie möglicherweise Racheakten der Taliban aussetzen würde (RFE/RL 19.5.2021). US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021). In den vergangenen Wochen gab es mehrere Demonstrationen afghanischer Ortskräfte in der Hauptstadt Kabul. Sie forderten die ausländischen Truppen und Botschaften auf, sie im Ausland in Sicherheit zu bringen (DZ 7.62021; vgl. HRW 8.6.2021).
Im Mai 2021 schätzt das US-Militär, dass es bis zu einem Viertel seines Abzugs aus Afghanistan abgeschlossen hat (VOA 25.5.2021; vgl. AnA 26.5.2021) und fünf Einrichtungen an das afghanische Verteidigungsministerium übergeben wurden, darunter die riesige Militärbasis Kandahar Airfield [KAF] im Süden Afghanistans (AnA 26.5.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021).
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.06.2021
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2021
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).
Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).
Zivile Opfer
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
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Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021).
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei w