Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden T*****, vertreten durch Dr. Michael Pallauf ua, Rechtsanwälte in Salzburg, gegen die beklagte Partei N*****, vertreten durch Mag. Robert Morianz, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 17.673 EUR sowie Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 17.673 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 10. Juni 2021, GZ 2 R 60/21p-19, mit dem das Teilzwischenurteil des Landesgerichts Salzburg vom 9. Februar 2021, GZ 13 Cg 91/20t-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben und das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt.
Die
Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger ist Polizeibeamter. Er war am 6. April 2020 mit einem Kollegen in einem Streifenwagen unterwegs, als ihm gegen 20:00 Uhr auf einem Parkplatz drei um zwei Fahrzeuge herumstehende Personen – darunter der Beklagte – auffielen. Zum damaligen Zeitpunkt galt aufgrund der Covid-19-Pandemie eine gesetzliche „Ausgangssperre“. Als sich das Polizeifahrzeug den Personen näherte, begann der Beklagte, sich zu entfernen. Über Aufforderung der Polizisten blieb er jedoch stehen und begab sich zu den Fahrzeugen zurück. Während sein Kollege die Identität der drei Personen feststellte, bemerkte der Kläger unter einem Fahrzeug einen Beutel mit Cannabis. Die drei Personen wurden darauf einer Personendurchsuchung unterzogen. Dabei ertastete der Kollege des Klägers beim Beklagten einen harten Gegenstand. Nachdem dieser gefragt worden war, worum es sich dabei handle, riss er sich plötzlich los und rannte davon. Der Kläger nahm unmittelbar die Verfolgung auf, wobei er aufgrund der Dunkelheit eine Taschenlampe verwendete. Der Beklagte rechnete damit, dass er verfolgt wird. Er lief zunächst durch (entlang) eine(r) Gebüschzeile, querte eine Wiese und lief dann auf einer asphaltierten Straße und anschließend auf einer Schotterstraße weiter. Während seiner Flucht warf er ein Päckchen mit Kokain weg. Der Kläger übersah, nachdem er den Beklagten etwa 150 bis 200 Meter verfolgt hatte und sich bereits auf der Schotterstraße befand, ein dort ausgeschwemmtes Loch. Er kam dadurch zu Sturz, wobei er sich verletzte. Nachdem der Beklagte vom Kollegen des Klägers, der ebenfalls die Verfolgung aufgenommen hatte, fast eingeholt worden war, gab er seine Flucht auf.
[2] Der Kläger begehrt den Ersatz des durch den Sturz verursachten Schadens sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für daraus resultierende künftige Schäden.
[3] Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren mit Teilzwischenurteil dem Grunde nach statt.
[4] Es ging in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass der Beklagte durch seine Flucht die aufgrund der beruflichen Einsatzpflicht des Klägers gebotene und im öffentlichen Interesse gelegene Verfolgung durch diesen herausgefordert und für ihn dadurch eine erhöhte – leicht zu vermeidende – Gefahrenlage geschaffen habe. Die vom Kläger eingegangenen Risiken seien im Verhältnis zum Zweck der Verfolgung gestanden, den beim Beklagten befindlichen Gegenstand zur Aufklärung einer vermuteten Straftat bzw zur Sicherung der Strafverfolgung sicherzustellen. Die für die Beurteilung der Haftung des Beklagten vorzunehmende Interessenabwägung ergebe, dass das mit der Verfolgung verbundene Verletzungsrisiko von diesem zu tragen sei, weil er damit rechnen habe müssen und auch tatsächlich damit gerechnet habe, von den Polizisten verfolgt zu werden und dass sich diese dabei – schon wegen der Art seiner Flucht – verletzen könnten. Ein Mitverschulden an seinem Sturz sei dem Kläger nicht anzulasten.
[5] Das Berufungsgericht gab dem dagegen erhobenen Rechtsmittel des Beklagten Folge und wies das Zahlungsbegehren ab.
[6] Es argumentierte, dass die Flucht eines einer Straftat Verdächtigen vor der Polizei per se keine Haftung des Flüchtenden für Schäden des Verfolgers begründen könne, weil keine Rechtspflicht bestehe, sich der Strafverfolgung zu stellen, also nicht zu flüchten. Die Rechtswidrigkeit der Schädigung könne sich in solchen Fällen daher nicht schon aus dem Umstand der Flucht als solcher ergeben, sondern nur aus einer umfassenden Interessenabwägung, bei der neben der Eignung und Wahrscheinlichkeit des konkreten Fluchtverhaltens, einen schädlichen Erfolg herbeizuführen, sowie dem Wert der dadurch bedrohten Güter und Interessen des Geschädigten auch das dem Verdächtigen zuzugestehende – aus dem grundrechtlich garantierten Verbot, sich nicht selbst belasten zu müssen (nemo tenetur se ipsum accusare), abgeleitete – Recht, zu flüchten, zu berücksichtigen sei. Ergäbe sich die Rechtswidrigkeit der Verletzung des Verfolgers schon aus der Flucht als solcher, hätte dies zur Konsequenz, dass der Flüchtende in jedem Fall für „Verfolgungsschäden“ einzustehen hätte, was einer unzulässigen – gegen das Verbot der Verpflichtung zur Selbstbelastung verstoßenden – „Beugestrafe“ gleichkäme.
[7] Im vorliegenden Fall habe der Beklagte zwar aufgrund seiner Flucht sowie des konkreten Verdachts, eine strafbare Handlung (den verbotenen Handel mit Suchtgift) begangen zu haben, die rechtmäßige und nicht unverhältnismäßige Verfolgung durch den klagenden Polizisten herausgefordert. Die dadurch geschaffene Gefahrenlage sei aber nicht über dessen allgemeines Lebensrisiko hinausgegangen, weil das Laufen (auch auf einem Schotterweg und ohne ausreichendes Tageslicht, wobei der Kläger ohnehin mit einer Taschenlampe ausgerüstet war) „Teil der üblichen Lebensführung vieler Menschen“ und gerade auch eines Polizisten sei, „der eine gewisse körperliche Fitness aufbringen müsse“. Dass der Schotterweg – abgesehen von nicht ungewöhnlichen „Ausschwemmungen“ – besonders gefährlich gewesen wäre, stehe nicht fest. Es gehöre auch zum allgemeinen Lebensrisiko, dass man nicht immer „die volle Aufmerksamkeit vor die Füße“ richte, mitunter abgelenkt sei und manchmal schnell reagieren müsse. Der Beklagte habe daher durch seine (berechtigte) Flucht kein „gesteigertes“ Verfolgungsrisiko geschaffen, weshalb es dem Ersatzbegehren schon an der Rechtswidrigkeit seines Handelns fehle. Wenngleich der Beklagte mit seiner Verfolgung rechnete, habe er nicht voraussehen können, dass sich der Kläger dabei möglicherweise verletzen könnte.
[8] Die Revision sei zur Klarstellung der Rechtsfrage zulässig, inwieweit das Verbot der Verpflichtung zur Selbstbelastung ein von der Rechtsordnung anerkanntes Interesse zu fliehen begründet, das in die Beurteilung der Rechtswidrigkeit der Schädigung des Verfolgers einzubeziehen sei, sowie ob bereits eine Flucht als solche eine erhöhte Gefährdung des Verfolgers begründet.
[9] Die vom Kläger erhobene Revision ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts von der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht; sie ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[10] 1. Die Gefährdung absolut geschützter Rechtsgüter – und somit auch des Rechts auf körperliche Unversehrtheit – ist grundsätzlich verboten (RIS-Justiz RS0022946). Daraus ergeben sich Sorgfaltspflichten (RS0022946 [T10]), die denjenigen treffen, der die Gefahr einer solchen Rechtsgutverletzung erkennen kann. Die Rechtswidrigkeit eines schädigenden Verhaltens wird bei der Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter im Wege einer umfassenden Interessenabwägung geprüft (vgl RS0022917; RS0022939 [T6; T7 zu „Verfolgungsschäden“]), bei der insbesondere zu berücksichtigen ist, welche Verhaltenspflichten die Beteiligten (insbesondere der Schädiger) erfüllen können bzw ihnen zumutbar sind, ob das in Frage stehende Verhalten ex ante geeignet war, den schädigenden Erfolg (wahrscheinlich) herbeizuführen, sowie welcher Wert den bedrohten Rechtsgütern und Interessen zukommt (vgl RS0022899).
[11] 2. Auch bei der hier zu beurteilenden Verletzung eines Polizisten bei der Verfolgung einer einer gerichtlich strafbaren Handlung verdächtigen Person geht es regelmäßig um die Frage der Haftung für eine Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter (1 Ob 97/15v; 7 Ob 78/18y). Nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung haftet der Verfolgte, solange er seine Flucht nicht aufgegeben hat, nach den zur Schaffung einer Gefahrenlage entwickelten Grundsätzen (vgl 8 Ob 3/87; 10 Ob 55/11b; 1 Ob 97/15v; 7 Ob 78/18y). Die Rechtswidrigkeit der Flucht ist demnach aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung zu beurteilen. Ihre Bejahung setzt voraus, dass für das nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zur Verfolgung berechtigte bzw verpflichtete Polizeiorgan erkennbar eine gesteigerte Gefahrensituation geschaffen wurde, die (deutlich) über dessen allgemeines Lebensrisiko hinausgeht (RS0023175 [T2]; vgl etwa auch Karner in KBB6 § 1295 ABGB Rz 4 mwN). Es begründet demnach nicht jede Flucht eines Tatverdächtigen per se eine Haftung für Schäden der ihn berechtigt (im Fall eines Polizisten: verpflichtend) verfolgenden Person, sondern nur eine solche, die für den Flüchtenden erkennbar mit einer gesteigerten Gefährdung der absolut geschützter Rechtsgüter des Verfolgers verbunden ist.
[12] 3. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger aufgrund des im Umfeld des Beklagten sichergestellten Päckchens Cannabis, des bei ihm bei der Personendurchsuchung (im Schrittbereich) ertasteten „harten Gegenstands“ sowie seiner darauffolgenden Flucht berechtigte Gründe für den Verdacht, der Beklagte habe – was sich im Nachhinein als zutreffend erwies – eine Straftat, nämlich verbotenen Handel mit Suchtgift im Sinn des § 28a SMG, begangen. Seine plötzliche Flucht forderte die Verfolgung durch den im Rahmen seiner polizeilichen Einsatzpflicht dazu verpflichteten (vgl 1 Ob 97/15v; 7 Ob 78/18y) Kläger heraus. Dass er den Beklagten zu Fuß verfolgte, war keinesfalls unverhältnismäßig. Der Fluchtversuch war für den Kläger überraschend, weil der Beklagte an der zuvor erfolgten Identitätsfeststellung mitgewirkt und auch die Personendurchsuchung zunächst hingenommen hatte. Dadurch, dass er sich plötzlich – nachdem bei ihm der verdächtige Gegenstand festgestellt wurde – losriss und davonlief, musste der Kläger eine unmittelbare Verfolgungsreaktion setzen und sein Augenmerk beim Laufen (im Dunkeln) darauf richten, den Beklagten nicht aus den Augen zu verlieren, weshalb er auch die von ihm mitgeführte Taschenlampe nicht stets auf den unmittelbar vor ihm befindlichen Boden (vor seine Füße) richten konnte. Der Beklagte wählte bei seinem Fluchtversuch eine Route, die ihn auf kurzer (ca 150 bis 200 Meter langer) Distanz über wechselndes Terrain führte. Er lief zunächst im Bereich eines Gebüschs bzw durchquerte dieses, rannte anschließend über eine Wiese und setzte seine Flucht auf einem Asphalt- sowie einem Schotterweg fort.
[13] 4. Legt man diesen Sachverhalt der rechtlichen Beurteilung zugrunde, kann der Ansicht des Berufungsgerichts, wonach sich durch den Sturz des Klägers bloß sein allgemeines, mit dem Laufen auf einer Schotterstraße verbundenes Lebensrisiko verwirklicht habe, nicht gefolgt werden. Vielmehr ergab sich durch die dem flüchtenden Beklagten zuzurechnende (durch ihn herausgeforderte) Verfolgung aufgrund des Überraschungsmoments, der herrschenden Dunkelheit sowie des auf kurze Distanz häufig wechselnden und teilweise unebenen Untergrundes eine – im Vergleich zu einem „normalen Trainingslauf“ – deutlich erhöhte Gefährdung für den Kläger. Da diese dem Beklagten bewusst sein musste (soweit er in der Revisionsbeantwortung behauptet, nicht davon ausgegangen zu sein, verfolgt zu werden, widerspricht dies dem festgestellten Sachverhalt) ist eine Verlagerung des Verletzungsrisikos auf ihn gerechtfertigt.
[14] 5.1. Die gegenteilige Rechtsansicht des Berufungsgerichts weicht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab, der es zu 1 Ob 97/15v für die für eine Haftung erforderliche Gefahrenerhöhung beim Verfolger als ausreichend ansah, dass ein Verdächtiger in der Nacht auf einer für den Fußgängerverkehr vorgesehenen, gut ausgeleuchteten Asphaltfläche im Laufen flüchtete, weil dadurch eine rasche Reaktion der ihn verfolgenden Polizistin erforderlich wurde, womit die Gefahr verbunden war, in der Schnelligkeit Hindernisse oder sonstige besondere Bodenbeschaffenheiten zu übersehen oder falsch einzuschätzen.
[15] 5.2. Die genannte Entscheidung wurde zwar in der Literatur insoweit kritisiert, als das allgemeine Berufsrisiko eines Polizisten durch das schlichte Weglaufen (die dadurch herausgeforderte Verfolgung) auf einer gut beleuchteten Asphaltfläche in keinem relevanten Ausmaß erhöht werde und eine „schadenersatzrechtlich unbeachtliche“, für den Verfolger ungefährliche Flucht bei einer derart strengen Beurteilung kaum denkbar sei (L. Nordmeyer, EvBl 2015/147, Glosse zu 1 Ob 97/15v). Zu 7 Ob 78/18y bestätigte der Oberste Gerichtshof jedoch die Rechtsansicht, wonach schon das „schnelle Rennen“, wie es zur Verfolgung eines flüchtenden Tatverdächtigen erforderlich ist, „zwangsläufig“ ein erhöhtes Risiko für den Verfolger mit sich bringt. Gerade im Zusammenhang mit einem – wie auch hier – unerwarteten Fluchtversuch erhöhe sich das Risiko, sich (im Zuge eines plötzlich und mit großer Kraftanstrengung gestarteten Sprints) zu verletzen, ohne dass weitere Umständen wie Dunkelheit oder Unebenheiten des Geländes hinzutreten müssen. Im vorliegenden Fall ergaben sich die gefahrenerhöhenden Umstände für den Verfolger aber ohnehin nicht bloß aus dem „schlichten Weglaufen“ des Flüchtenden, sondern daraus, dass die Flucht im Dunkeln über wechselnden Untergrund und mitunter unebenes Gelände erfolgte.
[16] 6. Der Oberste Gerichtshof geht im Übrigen davon aus, dass es an einem allgemein anerkannten Interesse des einer Straftat Verdächtigen an der Flucht fehlt, weil ein solches Verhalten von der Allgemeinheit missbilligt wird (vgl 1 Ob 97/15v; 7 Ob 78/18y; siehe auch bereits 8 Ob 3/87 sowie 10 Ob 55/11b: „von der Rechtsordnung verpönte Flucht“). Das Berufungsgericht sieht darin einen Widerspruch zur Beurteilung, wonach keine Rechtspflicht bestehe, nicht zu flüchten (1 Ob 97/15v; 7 Ob 78/18y). Das Recht, nicht (aktiv) an der Beschaffung von Beweisen gegen sich selbst mitwirken zu müssen (Nemo-tenetur-Grundsatz; vgl L. Nordmeyer aaO), woraus teilweise auch die fehlende Rechtspflicht, nicht zu flüchten, abgeleitet wird, kann aber keinesfalls so weit gehen, dass deshalb eine durch einen Flucht(-versuch) bewirkte und für den Flüchtenden erkennbare (deutliche) Gefahrenerhöhung für den verfolgenden Polizisten gerechtfertigt wäre. Es kann hier daher dahingestellt bleiben, ob der genannte Grundsatz wirklich ein „Recht auf Flucht“ vor der Polizei einräumt (kritisch etwa L. Nordmeyer aaO, der dies als „kühnen Schluss“ bezeichnet).
[17] 7. Da für ein – auch bei Verfolgungsschäden grundsätzlich denkbares (RS0027064 [T1]) und vom Beklagten eingewandtes – Mitverschulden des Klägers keine Anhaltspunkte bestehen, ist der Revision Folge zu geben und das dem Zahlungsbegehren dem Grunde nach stattgebende (Teilzwischen-)Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.
[18] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf §§ 50 Abs 1, 52 Abs 3 und 4 ZPO.
Textnummer
E132891European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0010OB00158.21Y.0907.000Im RIS seit
21.10.2021Zuletzt aktualisiert am
17.01.2022