TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/23 I405 2176489-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.06.2021
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Entscheidungsdatum

23.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
AVG §13 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §52
FPG §55 Abs2
VwGVG §17
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1
VwGVG §7 Abs2

Spruch


I405 2176489-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Kamerun, vertreten durch RAe Mag. Nadja LORENZ in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2021,

A)

I. beschlossen:

Das Verfahren zu Spruchpunkt I. und II. des verfahrensgegenständlichen Bescheides wird nach Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

II. zu Recht erkannt:

1. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III., erster Spruchteil, wird als unbegründet abgewiesen.

2. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wird Maria XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

3. In Erledigung der Beschwerden wird der Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine kamerunische Staatsbürgerin, stellte am 25.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am darauffolgenden Tag wurde sie durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und am 19.05.2017 sowie am 06.10.2017 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen.

3. Mit gegenständlich bekämpftem Bescheid der belangten Behörde vom 25.10.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Der BF wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gegen die BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Kamerun zulässig sei (Spruchpunkt III.). Ferner wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt IV.)

4. Mit Schriftsatz vom 06.11.2017 erhob die BF durch ihre Rechtsvertretung vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 05.06.2021 in Anwesenheit der BF, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die englische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person der BF:

Die volljährige BF ist Staatsangehörige von Kamerun, bekennt sich zum christlichen Glauben und gehört der Volksgruppe der Bafo an. Ihre Muttersprache ist ebenfalls Bafo. Sie spricht überdies Englisch. Ihre Identität steht fest.

Die BF leidet an keinen schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ist sie auch erwerbsfähig.

Die BF verfügt über eine mehrjährige Schulausbildung und hat in ihrem Herkunftsstaat ihren Lebensunterhalt als Schneiderin bestritten. Es leben noch Angehörige (u.a. ihr Sohn, ihre Schwester und Mutter) der BF in Kamerun.

Die BF hält sich spätestens seit ihrer Asylantragstellung im August 2015 in Österreich auf.

Die BF hat sich in all den Jahren ihres Aufenthaltes sowohl in wirtschaftlicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht in Österreich integriert.

Die BF hat mehrere Deutschkurse besucht und verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Sie ist bemüht, ihre Sprachkenntnisse weiterhin zu verbessern. Ein B1-Kursbesuch war bisher pandemiebedingt nicht möglich.

In Österreich verfügt sie über keine familiären Bindungen. Sie verfügt jedoch aufgrund ihres jahrelangen Aufenthaltes im Bundesgebiet über einen dementsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis, was ihr unter anderem durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit bei verschiedenen Einrichtungen gelungen ist. So engagiert sie sich seit November 2020 mehrere Tage pro Woche bei der Aktion „Essen auf Rädern“ für den Verein XXXX . Vor Ausbruch der Corona-Pandemie hat die BF außerdem in „ XXXX “ mitgeholfen. Auch war die BF im Verein „ XXXX “ aktiv und half in der Zeit vor der Pandemie bei diversen Aktivitäten und Veranstaltungen des Vereins sehr tatkräftig mit und unterstützte den Verein bei der Stadtsäuberung und durch ihre Mithilfe beim „ XXXX “ oder beim „ XXXX “. Sie nahm bei gemeinsamen Aktivitäten wie Wanderungen oder Filmabenden BF teil.

Die unbescholtene BF bezieht derzeit Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, sie verfügt jedoch über eine Einstellungszusage.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde und Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der BF vor dieser am 19.05.2017 sowie am 06.10.2017 und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.08.2015, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Kamerun. Zudem konnte sich die erkennende Richterin einen persönlichen Eindruck im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 06.05.2021 machen. Außerdem wurden Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Zentralen Fremdenregister (IZR) und der Grundversorgung GVS) ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

2.2. Zur Person der BF:

Die Feststellungen zu ihren Lebensumständen im Herkunftsstaat, zu ihrer Volljährigkeit, ihren Angehörigen, ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Einreise nach Österreich gründen sich auf den glaubhaften und gleichbleibenden Angaben der BF im Verfahren vor der belangten Behörde und im Beschwerdeverfahren.

Die Feststellungen zu ihrem Gesundheitszustand ergeben sich aus den Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und den vorgelegten Unterlagen vom 05.06.2021. Die Feststellungen zur Identität ergibt sich aus der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Geburts- und Wahlkarte.

Die Feststellungen zu ihrer Einreise und ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet lassen sich zweifellos dem vorliegenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister entnehmen.

Dass die BF nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte und Arbeitserfahrung in ihrem Herkunftsstaat verfügt, ergibt sich aufgrund der glaubhaften Angaben der BF.

Die Feststellungen zum Privatleben der BF bzw. zum fehlenden Familienleben in Österreich beruhen auf den Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die Feststellungen hinsichtlich ihrer Deutschkenntnisse ergeben sich aufgrund der diesbezüglich vorgelegten Teilnahmebestätigungen. Die erkennende Richterin konnte sich auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein persönliches Bild über die Deutschkenntnisse und den Integrationswillen der BF machen.

Die Feststellungen zu den freundschaftlichen Kontakten der BF gehen aus den Angaben der BF und den vorgelegten Unterstützungsschreiben hervor. Die Feststellungen zu ihrer vielfältigen gemeinnützigen Tätigkeit gehen aus den Schreiben/Empfehlungsschreiben des Vereins VöMit vom 21.02.2021, des Vereins XXXX vom 25.02.2021, des XXXX vom 20.04.2021, der Stadtgemeinde XXXX vom 08.04.2019 hervor.

Die Feststellungen, dass die BF Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergeben sich aus einem aktuellen GVS-Auszug. Die Feststellung zur Einstellungszusage ergibt sich aus dem Schreiben der Genuss.Catering GmbH vom 24.04.2021.

Die Feststellung über die strafgerichtliche Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) I.:

3.1. Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides:

§ 7 Abs. 2 VwGVG normiert, dass eine Beschwerde nicht mehr zulässig ist, wenn die Partei nach Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Beschwerde verzichtet hat. Eine Zurückziehung der Beschwerde durch den BF ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich (Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, § 7 VwGVG, K 6). Dasselbe folgt sinngemäß aus § 17 VwGVG iVm § 13 Abs. 7 AVG.

Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Beschwerde zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offen lässt. Maßgebend ist daher das Vorliegen einer diesbezüglich eindeutigen Erklärung (vgl. zB VwGH 22.11.2005, 2005/05/0320 uvm. zur insofern auf die Rechtslage nach dem VwGVG übertragbaren Judikatur zum AVG).

Eine solche Erklärung lag im gegenständlichen Fall zweifelsfrei vor. Die BF hat die Zurückziehung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides in ihrem Schriftsatz vom 11.05.2021 durch ihre rechtsfreundliche Vertretung eindeutig zum Ausdruck gebracht.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder einzustellen ist.

Da die BF ihre Beschwerde gegen die Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen hat, war das Beschwerdeverfahren insoweit einzustellen.

Zu A) II.:

3.2. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 58 Abs. 1 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z 2) oder wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt (Z 5). Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK) von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen (§ 58 Abs. 3 AsylG). Auch wenn der Gesetzgeber das Bundesamt im Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung zur Prüfung und spruchmäßigen Erledigung der Voraussetzungen der §§ 55 und 57 AsylG 2005 von Amts wegen, dh auch ohne dahingehenden Antrag des BF, verpflichtet, ist die Frage der Erteilung eines solchen Titels auch ohne vorhergehenden Antrag im Beschwerdeverfahren gegen den negativen Bescheid durchsetzbar und daher Gegenstand der Sachentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/20/0121).

Indizien dafür, dass die BF einen Sachverhalt verwirklicht, bei dem ihr ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") zu erteilen wäre, sind weder vorgebracht worden, noch hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt der BF seit mindestens einem Jahr im Sinne des § 46 Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch ist diese zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch ist die BF Opfer von Gewalt im Sinne des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005. Eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß § 57 AsylG 2005 war daher nicht zu erteilen.

Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie hinsichtlich Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe abzuweisen war.

4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides – zweiter Spruchteil):

Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

Zu prüfen ist daher, ob eine Rückkehrentscheidung mit Art 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art 8 EMRK ist aus nachstehenden Gründen gegeben:

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, ergibt sich aus § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG. Dieser lautet:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre."

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Bei dieser Interessensabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007 sowie VwGH vom 03.04.2009, Zl. 2008/22/0592; vom 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216; vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479 und vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423).

Wie sich aus den bisherigen Angaben der BF im Verfahren vor der belangten Behörde und vor dem erkennenden Gericht ergibt, hat die BF keine in Österreich lebenden Verwandten und auch sonst keine familiären Anknüpfungspunkte. Die Rückkehrentscheidung bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Schutz des Familienlebens.

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen sowie der in § 9 Abs. 2 BFA-VG normierten Integrationstatbestände, die bei der Beurteilung eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, ist im gegenständlichen Fall der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers nicht durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen gerechtfertigt. Dies aus folgenden Gründen:

Wie oben unter den Feststellungen ausgeführt wurde, hat die BF ihren knapp sechsjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet für ihre Integration in sprachlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht genützt.

Zunächst ist hinsichtlich der langen Verfahrensdauer anzumerken, dass diese nicht der BF anzulasten ist. Zudem hat sie lediglich einen Asylantrag gestellt und sich nie dem Verfahren entzogen oder ihre Mitwirkungspflicht verletzt.

Wie oben unter den Feststellungen ausgeführt wurde, hat die BF ihren knapp sechsjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet für ihre Integration in sprachlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht genützt. In sprachlicher Hinsicht hat die BF mehrere Sprachkurse besucht und verfügt über ein Sprachzertifikat auf dem Niveau A2. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung konnte er auf einfache Fragen adäquat antworten. Sie ist auch bemüht, ihre Sprachkenntnisse durch den Besuch eines B1-Kurses zu verbessern, was jedoch pandemiebedingt nicht möglich war.

Die BF ist auch bemüht sich beruflich zu integrieren, wie dies aus ihren verschiedenen karitativen Hilfstätigkeiten hervorgeht. Sie ist zwar derzeit nicht selbsterhaltungsfähig, da sie auf die Grundversorgung angewiesen ist, jedoch ist die BF arbeitswillig und verfügt auch über eine Einstellungszusage, wodurch sie nicht nur für ihren Lebensunterhalt aufkommen können wird, sondern sich in die österreichische Gesellschaft und insbesondere auch am österreichischen Arbeitsmarkt integrieren wird.

Aufgrund ihres jahrelangen Aufenthaltes im Bundesgebiet verfüg der BF über einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis, wie dies aus den vorgelegten Unterstützungsschreiben hervorgeht. Zudem ist die BF in mehreren Einrichtungen gemeinnützig tätig, wie dies aus den diversen Bestätigungen hervorgeht. Damit hat die BF ihre Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben tatkräftig bekundet.

Die BF ist auch strafrechtlich unbescholten. Sie hat somit gezeigt, dass sie in den letzten Jahren um eine möglichst umfassende und auf Dauer angelegte Integration in Österreich bemüht war bzw. ist.

Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes im vorliegenden Fall die privaten Interessen der BF angesichts der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen die BF würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen die BF unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen die BF auf Dauer unzulässig ist.

Da die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG im Fall des BF gegeben sind, war der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides stattzugeben und der BF1 eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wird daher - unter der Voraussetzung der Erfüllung der allgemeinen Mitwirkungspflicht im Sinne des § 58 Abs. 11 AsylG - der BF den Aufenthaltstitel im Sinne des § 58 Abs. 4 AsylG auszufolgen haben.

Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

5. Angesichts des Verfahrensergebnisses war daher in Hinblick auf den Spruchpunkt IV. diesem stattzugeben und dieser zu beheben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asylverfahren Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK befristete Aufenthaltsberechtigung Beschwerdeverzicht Beschwerdezurückziehung Deutschkenntnisse Einstellung Einstellung des (Beschwerde) Verfahrens ersatzlose Teilbehebung Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Kassation mündliche Verhandlung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Rückkehrentscheidung behoben Spruchpunktbehebung subsidiärer Schutz Verfahrenseinstellung Zurückziehung Zurückziehung der Beschwerde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I405.2176489.1.00

Im RIS seit

20.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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