TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/12 W200 2241214-1

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Veröffentlicht am 12.07.2021
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Entscheidungsdatum

12.07.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W200 2241214-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. SCHERZ als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Afghanistan, gesetzlich vertreten durch das Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe, diese vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom 22.02.2021, Zl. 1263511800/200867066, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.06.2021 zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der minderjährige Beschwerdeführer führt nach eigenen Angaben den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger Afghanistans, schiitischer Hazara, stammt aus der Provinz (Maidan) Wardak und stellte am 23.12.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz in Griechenland. Nach erfolgter Dublin-Zustimmung Österreichs wurde der Beschwerdeführer am 15.09.2020 von Griechenland nach Österreich überstellt. Der am 23.12.2019 in Griechenland gestellte Antrag auf internationalen Schutz wurde mit 15.09.2020 in Österreich eingebracht.

Im Rahmen der Erstbefragung am 15.09.2020 gab der Beschwerdeführer befragt zum Fluchtgrund an, dass ihn sein Stiefvater gequält habe. Der Stiefvater habe gewollt, dass der Beschwerdeführer für die Miliz „Alipour“ gegen die Taliban kämpfe. Der Beschwerdeführer habe aber nicht kämpfen wollen, weshalb er sich entschlossen hätte, Afghanistan zu verlassen. Bei einer Rückkehr in die Heimat befürchte er, dass er umgebracht werde. Er habe keinen Platz mehr in Afghanistan.

Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion Tirol, am 03.02.2021 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, Hazara und Schiit zu sein, aus der Provinz (Maidan) Wardak zu stammen sowie vier Jahre lang die Grundschule besucht zu haben. Als Fluchtgrund nannte er im Wesentlichen, dass er bereits als Kind von seinem Stiefvater unterdrückt worden sei. Schon als der Beschwerdeführer 14 bzw. 15 Jahre alt gewesen wäre, habe sein Stiefvater ihm gedroht, ihn umzubringen. Grund dafür seien vermutlich die Grundstücke des verstorbenen Vaters des Beschwerdeführers gewesen. Der Stiefvater habe ihn in den Krieg schicken wollen. Der Beschwerdeführer hätte Mitglied in der „Alipour-Gruppe“ werden und in dieser Gruppe mitkämpfen sollen. Das habe der Beschwerdeführer aber nicht gewollt.

Am 17.02.2021 übermittelte der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme an das BFA. In dieser wurde zusammengefasst im Wesentlichen darauf verwiesen, bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers insbesondere auf die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers Bedacht zu nehmen. Zudem wurden Berichte übermittelt, die die Existenz der Miliz von Alipour nachweisen würden.

Mit Bescheid des BFA vom 22.02.2021 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Bezug auf Afghanistan abgewiesen (I.), dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt (III.).

Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA. Im Wesentlichen wurde die Beschwerde mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften begründet. Der Beschwerdeführer wiederholte im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und wies darauf hin, dass sein Vorbringen entgegen der Ansicht des BFA Asylrelevanz habe. Denn die Probleme des Beschwerdeführers mit seinem Stiefvater bestünden vor allem aus dem Grund, weil der Stiefvater den Beschwerdeführer für die regierungsfeindliche Miliz namens „Alipour“ rekrutieren habe wollen. Die Behörde habe sich mit diesem Vorbringen nicht auseinandergesetzt.

Mit Schreiben vom 02.06.2021 wurde für die gesetzliche Vertretung am Bundesverwaltungsgericht und damit in Verbindung stehende Vertretungsakte Vollmacht mit gleichen Rechten und Pflichten ohne Zustellvollmacht an die Mitarbeiter/innen der Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH erteilt.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 07.06.2021 zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes in Anwesenheit eines Dolmetschers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines gesetzlichen Vertreters neuerlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Das BFA wurde ordnungsgemäß zu dieser Verhandlung geladen, ein Vertreter des Bundesamtes nahm jedoch entschuldigt nicht an der Verhandlung teil. Hierbei bestätigte der Beschwerdeführer im Wesentlichen erneut die Richtigkeit seines bisherigen Vorbringens, konkretisierte dieses und legte Zeitungsartikel betreffend „Alipour“ vor.

In der Stellungnahme vom 07.06.2021 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass eine IFA nicht in Frage komme, da diese bereits mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen worden sei. In seinem Heimatort würde er zwangsläufig seinem Stiefvater und der Miliz von Alipour begegnen. Diese Miliz sei am Wachsen und kämpfe mittlerweile nicht mehr nur gegen die Taliban, sondern ebenso gegen die Regierung. Sie sei somit als regierungsfeindlich anzusehen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person:

Der minderjährige Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger, stammt aus dem Distrikt Markaz-e Behsud in der Provinz (Maidan) Wardak, gehört der Volksgruppe der Hazara und dem schiitischen Glauben an und spricht Dari als Muttersprache. Er ist gesund und verfügt über eine vierjährige afghanische Schulbildung.

Am 23.12.2019 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz in Griechenland. Nach erfolgter Dublin-Zustimmung Österreichs wurde der Beschwerdeführer am 15.09.2020 von Griechenland nach Österreich überstellt.

Der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , lebt in Österreich. Ihm wurde mit Bescheid des BFA vom 31.08.2017, Zahl 15-1078449406, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Vater des Beschwerdeführers starb als der Beschwerdeführer noch sehr jung war. Seine Mutter heiratete danach wieder. Der Beschwerdeführer wuchs im Haus des Stiefvaters auf und wurde von diesem unterdrückt, geschlagen und mit dem Tode bedroht. Seine Mutter konnte ihn vor diesen Übergriffen nicht beschützen. Der Beschwerdeführer musste für seinen Stiefvater auch schwere Arbeiten in der Landwirtschaft verrichten. Zudem wollte der Stiefvater den Beschwerdeführer für die Hazara-Miliz von Abdul Ghani Alipour rekrutieren. Er drohte dem Beschwerdeführer ihn zu zwingen für diese Miliz zu kämpfen, wenn er dies nicht freiwillig mache. Der Stiefvater pflegte Kontakt zu Mitgliedern der Miliz und arbeitete mit diesen zusammen. Diese besuchten den Stiefvater auch zu Hause. Im Zuge dieser Besuche wurde der Beschwerdeführer von den Miliz-Mitgliedern darauf hingewiesen, dass er für die Miliz arbeiten könne. Er würde kämpfen und eine Waffe haben, was für ihn als Waisenkind interessant sein müsse. Der Beschwerdeführer wollte jedoch nicht für diese Miliz kämpfen und verließ Afghanistan. Im Falle einer Rückkehr wäre er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und der Lage in seiner Herkunftsprovinz besonders gefährdet, gezwungen zu werden, für die Miliz von Alipour zu kämpfen. Von einer hinreichenden Schutzgewährung seitens der zuständigen afghanischen Behörden kann nicht ausgegangen werden. In Afghanistan ist daher von einer individuellen, konkret gegen den Beschwerdeführer gerichteten (drohenden) Verfolgungssituation auszugehen.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative außerhalb seiner Heimatprovinz ist dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar und wurde auch vom BFA bereits ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer ist noch minderjährig und er hat keine Schul- oder Berufsausbildung abgeschlossen. Ihm würde eine ausweglose Lage drohen, da auch nicht von einer Unterstützung seitens seiner Familie auszugehen ist.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Es liegen keine Gründe, nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, vor.

Zu Afghanistan:

1.       Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante – Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

Quellen:

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-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.pdf, Zugriff 22.10.2020

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1.1. (Maidan) Wardak

Die Provinz Wardak, auch bekannt als Maidan Wardak, grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni (UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Wardak 2019, UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinzhauptstadt Maidan Shahr befindet sich etwa 40-50 Kilometer südwestlich von Kabul (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. ARTE 3.4.2020).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Wardak im Zeitraum 2020/21 auf 637.634 Personen (NSIA 1.6.2020). Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. NPS Wardak o.D.).

Wardak ist aufgrund seiner strategischen Position, der Nähe zu Kabul und der Lage an wichtigen Fernstraßen eine bedeutsame Provinz (ARN 23.6.2019). Der Highway Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad (UNOCHA Wardak 4.2014). Die Taliban richten gelegentlich Kontrollpunkte an Abschnitt dieser Fernstraße in der Provinz Wardak ein (AVA 1.10.2019; vgl. UNSG 7.12.2018; vgl. PAJ 27.10.2018; AP 7.10.2018). Diese Straße gilt als eine der gefährlichsten in Afghanistan. Jedoch während des dreitägigen Waffenstillstandes zu Eid-al-Firt im August 2020 kam es entlang der Straße zu keinen Zusammenstößen und die Taliban lösten ihre Kontrollpunkte vorübergehend auf (WP 10.8.2020).

Eine weitere wichtige Straße führt von Maidan Shahr durch die Distrikte Jalrez, Hesa-e Awale Behsud, Markaz-e Behsud zum Haji-gak-Pass und weiter nach Bamyan (UNOCHA Wardak 4.2014; vgl. AAN 16.12.2019). Der Abschnitt im Distrikt Jalrez befindet sich unter Kontrolle der Taliban (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019). Die Taliban betreiben entlang dieser Straße Kontrollpunkte und heben Steuern ein (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019, PAJ 5.11.2018) und es sind Fälle dokumentiert, dass Durchreisende entführt oder getötet wurden (KNow 25.8.2019; vgl. DA 11.6.2019, RY 2.6.2019); vorwiegend Hazara (KNow 25.8.2019).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Wardak ist eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert (WP 10.8.2020; vgl. PBS 31.12.2019). Das Machtgleichgewicht in der Provinz Wardak blieb über Jahre hinweg relativ stabil (WP 10.8.2020). Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert (KP 19.7.2019; vgl. KP 2.7.2019; DA 11.6.2019) und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Wardak zugenommen (WP 10.8.2020).

Polizisten, die an den Außenposten an der Grenze zwischen Regierungskontrolle und Taliban-Einfluss stationiert sind, berichtet über häufige Angriffe der Aufständischen. In Bezirken, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, berichten Zivilisten von einem verstärkten Einsatz von Artillerie durch Regierungseinheiten (WP 10.8.2020). Auch im volatilen Distrikt Sayedabad gab es in den letzten Jahren fast täglich Kämpfe zwischen Regierungskräften und Taliban. Dort wurden, laut Angaben der Bewohner, durch Sicherheitskräfte im November 2019 rund 80 Wohnhäuser zerstört, da in der Vergangenheit gemäß Angaben der Behörden die Taliban immer wieder Wohnhäuser als Unterkünfte und Befestigungen nutzten (AN 3.11.2019).

Aus Sicherheitsgründen lebt die Bürgermeisterin von Maidan Shahr, Zarifa Ghafari, in Kabul und pendelt täglich 50 km zu ihrem Amtssitz (ARTE 3.4.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Wardak im Verantwortungsbereich des 203. ANA Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. KP 4.7.2019), das der Task Force Southeast unter der Leitung von US-Truppen untersteht (USDOD 1.7.2020).

Einheiten des Nationalen Sicherheitsdirektorates (NDS), der vom US-Geheimdienst CIA unterstützt werden, führen in der Provinz Wardak nächtliche Operationen durch, wobei es Berichten zufolge zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, Hinrichtungen und anderen Menschenrechtsverletzungen, kommt. Die Täter werden nicht zur Rechenschaft gezogen (FP 6.2.2020, HRW 30.10.2019, BAMF 15.7.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 145 zivile Opfer (55 Tote und 90 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einem Rückgang von 21% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2021).

In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen (TN 18.2.2020, PAJ 24.10.2019, KP 9.8.2019; KP 6.8.2019; KP 19.7.2019; KP 2.7.2019) und Luftschlägen (PAJ 18.2.2020, PAJ 24.10.2019, NG 17.10.2019, AT 8.12.2019). Die Taliban greifen regelmäßig Kontrollpunkte, Einrichtungen oder Konvois der Sicherheitskräfte an und es kommt zu Gefechten mit den Regierungstruppen, was zu Opfern unter den Sicherheitskräften und den Aufständischen führt (ATV 23.9.2020, WP 10.8.2020, AN 3.11.2019, GW 21.7.2020, AN 6.9.2020, IAR 21.9.2020, FRP 29.7.2019, TN 18.2.2020, PAJ 24.10.2019, NG 17.10.2019, KP 6.8.2019; KP 2.7.2019).

Bei einem Angriff der Taliban auf eine Basis des NDS in der Nähe der Provinzhauptstadt Maidan Shahr wurden im Jänner 2019 über 100 Sicherheitskräfte getötet (NYT 21.1.2019; vgl. Guardian 21.1.2019, ORF 21.1.2019).

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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