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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch das Verbot, den Kundenbereich von Betriebsstätten des Handels auch zum bloßen Abholen bestellter Waren ("click & collect") zu betreten oder zu befahren; Verbot der Warenabholung zur Reduktion der sozialen Kontakte im öffentlichen Raum im Hinblick auf die zuvor angeordneten und nachweislich nicht ausreichenden Maßnahmen sachlich gerechtfertigt, ebenso die unterschiedliche Behandlung der Abholung von Waren einerseits und der Abholung von Speisen und Getränken andererseits wegen deren Bedeutung für die Grundversorgung; hinreichende Darlegung der Ermittlung und Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen durch den Bundesminister; keine unverhältnismäßige Beschränkung der Erwerbsfreiheit sowie keine Verletzung im Recht auf Unversehrtheit des Eigentums durch das zeitlich eng begrenzte Verbot der Abholung von WarenRechtssatz
Abweisung des Hauptantrags auf Aufhebung des §5 Abs1 Z1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), mit der besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Notsituation auf Grund von COVID-19 getroffen werden (COVID-19-Notmaßnahmenverordnung - COVID-19-NotMV), BGBI II 479/2020, idF BGBI II 528/2020 zur Gänze.
Ausreichende Bestimmtheit des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV:
Hinsichtlich der Frage, ob das Verbot in §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV die Abholung von Waren umfasst oder verfassungskonform dahingehend auszulegen wäre, dass die reine Warenabholung nicht unter das Betretungs- und Befahrungsverbot der Kundenbereiche zu subsumieren sei, ist ungeachtet des Umstandes, dass die Bestimmung (arg.: "Kundenbereich", "zum Zweck des Erwerbs von Waren") unterschiedlich ausgelegt werden kann, hinsichtlich der zentralen Zielsetzung der COVID-19-NotMV und der auf der Homepage des BMSGPK veröffentlichten "Rechtliche[n] Begründung" sowie aus der Systematik der Verordnung (insbesondere im Hinblick auf die ausdrückliche Anordnung der Zulässigkeit der Abholung von Speisen und Getränken des Gastgewerbes gemäß §7 Abs7 COVID-19-NotMV) unmissverständlich, dass auch die Abholung von Waren als vom Betretungs- und Befahrungsverbot des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels zum Zweck des Erwerbs von Waren gemäß §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV umfasst anzusehen ist. Das Bedenken der antragstellenden Gesellschaft hinsichtlich des fehlenden Mindestmaßes an Verständlichkeit des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV geht somit ins Leere.
Keine Bedenken gegen die Ermittlung und Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen:
Im Verordnungsakt wird - unter Bezugnahme auf aktualisierte Daten und Berichte zur epidemiologischen Situation - ausgeführt, dass die Aufrechterhaltung der gesetzten Maßnahmen iSd §§3, 4, 5 und 11 COVID-19-MG zur Abwendung eines drohenden Zusammenbruchs des Gesundheitswesens gerechtfertigt sei, da durch die bereits gesetzten Maßnahmen zwar eine Abnahme der Fallzahlen erreicht worden, jedoch noch keine maßgebliche Entspannung in der Kapazitätsauslastung eingetreten sei.
Der BMSGPK hat in den Verordnungsakten hinreichend dargelegt, dass er die angefochtene Maßnahme im Einklang mit den im COVID-19-MG normierten Verfahrensregelungen erlassen sowie die im Gesetz vorgegebenen Kriterien für die Bewertung der epidemiologischen Situation angewendet hat. Er hat zudem hinreichend dargelegt, auf welchen Grundlagen die Entscheidung über die Erlassung bzw Beibehaltung der in §5 COVID-19-NotMV angeordneten Maßnahmen getroffen wurde.
Kein Verstoß des §5 COVID-19-NotMV gegen den Gleichheitssatz:
Der VfGH geht davon aus, dass dem Verordnungsgeber bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ein weiter Entscheidungsspielraum zukommt. Der COVID-19-NotMV idF BGBl II 479/2020 und BGBl II 528/2020 lag - vor dem Hintergrund der hohen Infektionszahlen und der prognostizierten Überlastung der Intensivpflege im Herbst bzw Winter 2020 sowie des Umstandes, dass die vom BMSGPK zuvor bereits angeordneten Maßnahmen nachweislich nicht ausreichten, um das Infektionsgeschehen einzudämmen - das allgemeine Ziel zugrunde, die weitere Verbreitung von COVID-19 insbesondere durch eine drastische Reduktion der sozialen Kontakte zu verhindern. Die COVID-19-NotMV sah zur Erreichung dieses Zieles ein umfangreiches Maßnahmenpaket, ua eine ganztägige Ausgangsbeschränkung sowie weitreichende Betretungs- und Befahrungsverbote für Handels- und gewisse Dienstleistungsbetriebe sowie für das Gastgewerbe, Beherbergungsbetriebe und Freizeiteinrichtungen, mit nur wenigen Ausnahmen vor. Angesichts dieser Zielsetzung der COVID-19-NotMV und der zum Zeitpunkt der Erlassung der COVID-19-NotMV idF BGBl II 479/2020 und BGBl II 528/2020 vorgelegenen, in den Verwaltungsakten abgebildeten krisenhaften epidemiologischen Situation handelte der BMSGPK nicht unsachlich, wenn er zur drastischen Reduktion der sozialen Kontakte ein grundsätzliches - auch die Abholung von Waren umfassendes - Betretungs- und Befahrungsverbot von Betriebsstätten des Handels von (Privat-)Kunden vorsah.
Auch in der unterschiedlichen Behandlung der Abholung von Waren einerseits und der Abholung von Speisen und Getränken andererseits vermag der VfGH keine unsachliche Ungleichbehandlung zu erkennen. Speisen und Getränke stellen - im Gegensatz zum Großteil der Waren des Handels, die nicht unter die in §5 Abs4 COVID-19-NotMV normierten Ausnahmen fallen und daher nicht zur Verrichtung des täglichen Lebens erforderlich sind - notwendige Güter der Grundversorgung dar, deren ständige Verfügbarkeit als essenziell und damit "systemrelevant" anzusehen ist. Auch die gemäß §5 Abs4 Z11 und Z12 COVID-19-NotMV vom Verbot ausgenommenen Postdiensteanbieter sowie Tankstellen und Waschanlagen sind als zur Erfüllung zentraler Bedürfnisse wie der Aufrechterhaltung der Kommunikation, des Zugangs zu Informationen oder der Mobilität zur Wahrnehmung der in §1 Abs1 COVID-19-NotMV genannten Tätigkeiten erforderlich anzusehen. Darüber hinaus bestand für alle sonstigen Waren des Handels weiterhin die Möglichkeit, diese im Wege des Online-Handels zu vertreiben bzw zu erwerben. Diese Möglichkeit wurde vom Verordnungsgeber nicht eingeschränkt.
Das Verbot der Warenabholung diente vorrangig dem Ziel, die sozialen Kontakte im öffentlichen Raum auf die unbedingt erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens (wie insbesondere die Sicherstellung der Versorgung mit Grundgütern des täglichen Lebens) zu reduzieren. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung, der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden epidemiologischen Situation sowie des weiten, dem Verordnungsgeber bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zukommenden Entscheidungsspielraumes ist das - für die Dauer von rund einer Woche (mit BGBl II 479/2020 insgesamt rund drei Wochen) vorgesehene - Verbot der Warenabholung als gerechtfertigt und sachlich anzusehen. Mit der 2. COVID-19-NotMV, BGBl II 598/2020, wurde die Abholung vorbestellter Waren vom, ab dem 26. Dezember 2020 wieder normierten, Betretungs- und Befahrungsverbot des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels zum Zweck des Erwerbs von Waren, ausdrücklich ausgenommen.
Auch die Ausnahme vom Betretungsverbot für zumindest zweiseitig unternehmensbezogene Geschäfte ist auf Grund von - epidemiologisch relevanten - Unterschieden im Tatsächlichen als sachlich gerechtfertigt anzusehen. Der BMSGPK handelte nicht unsachlich, wenn er das Infektionsrisiko im Vergleich zum sonstigen Handel (auf Grund des zu erwartenden unterschiedlichen Einkaufsverhaltens, der Leistungserbringung nach Terminvereinbarung sowie der damit verbundenen Steuerbarkeit von Kundenströmen und Nachvollziehbarkeit der Kontakte) im Zeitpunkt der Verordnungserlassung als geringer beurteilte.
Keine Verletzung im Recht auf Freiheit der Erwerbsbetätigung:
Wenngleich sich das Betretungs- und Befahrungsverbot dem Wortlaut nach an die (Privat-)Kunden der Betriebe richtete, kam diese Maßnahme - trotz der Ausnahme für zumindest zweiseitig unternehmensbezogene Geschäfte - für zahlreiche Betriebsstätten des Handels einem teilweisen Betriebsverbot gleich. Die Möglichkeit, Waren im Wege des Online-Handels zu vertreiben, war demgegenüber zu keinem Zeitpunkt eingeschränkt. Das Betretungs- und Befahrungsverbot stellt somit einen Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der antragstellenden Gesellschaft auf Freiheit der Erwerbsbetätigung dar. Der BMSGPK konnte angesichts der zum Zeitpunkt der Erlassung der COVID-19-NotMV und der Novelle BGBl II 528/2020 vorliegenden Daten davon ausgehen, dass die Anordnung bzw Beibehaltung eines Betretungs- und Befahrungsverbotes von Betriebsstätten des Handels iSd §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV zum Erwerb und zur Abholung von Waren - als eine von zahlreichen weiteren staatlichen Maßnahmen - zu einer Reduktion der persönlichen Kontakte von Menschen führt und damit ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Zielsetzung darstellt.
Verhältnismäßigkeit des Betretungs- und Befahrungsverbots des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV:
Nimmt der Verordnungsgeber das gesundheitspolitische Ziel der Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 und der prognostizierten Überlastung der Intensivpflege zum Anlass für die Erlassung eines Betretungs- und Befahrungsverbotes zum Erwerb und zur Abholung von Waren, verfolgt er damit ein Ziel von erheblichem Gewicht. Demgegenüber wird der durch das Verbot der Warenabholung bewirkte Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Erwerbsbetätigung der antragstellenden Gesellschaft insofern abgeschwächt, als die Maßnahme nur für einen kurzen Zeitraum von zehn Tagen normiert wurde. Zudem war es der antragstellenden Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt untersagt, ihre Waren - wie bei Einrichtungshäusern üblich - auch online zu vertreiben. Darüber hinaus war die mit dem Betretungs- und Befahrungsverbot bewirkte Einschränkung in ein umfangreiches Maßnahmen- und Rettungspaket eingebettet, das funktionell darauf abzielt, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Betretungs- und Befahrungsverbotes abzufedern. Insgesamt überwog damit das Gewicht der gesundheitspolitischen Zielsetzungen zur Vermeidung der Verbreitung von COVID-19 die Schwere des Eingriffs in die grundrechtlich geschützte Rechtsposition der antragstellenden Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund der im Verordnungsakt dokumentierten epidemiologischen Situation war das Verbot zur Zielerreichung der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems jedenfalls erforderlich. Dies zeigt sich auch darin, dass der BMSGPK angesichts der seit Herbst 2020 stark steigenden Infektionszahlen zunächst noch versucht hatte, die Verbreitung von COVID-19 durch die Anordnung gelinderer Maßnahmen zu verhindern. Da nachweislich weder die mit der COVID-19-SchuMaV gesetzten Maßnahmen noch das mit der COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, normierte Betretungsverbot des Handels ausreichten, um das Infektionsgeschehen einzudämmen, war das in §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV normierte Betretungs- und Befahrungsverbot jedenfalls als zur Zielerreichung notwendig und insgesamt als angemessene Maßnahme anzusehen.
Aus denselben Gründen liegt auch keine Verletzung des Grundrechts auf Unversehrtheit des Eigentums vor.
Schlagworte
COVID (Corona), Eigentumseingriff, Erwerbsausübungsfreiheit, Legalitätsprinzip, Determinierungsgebot, Auslegung verfassungskonforme, Rechtspolitik, Verordnung, Bundesminister, VfGH / IndividualantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:V592.2020Zuletzt aktualisiert am
22.11.2021