TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/25 W107 2177603-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.06.2021
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Entscheidungsdatum

25.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W107 2177603-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.10.2017, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.06.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste - unter Zugrundelegung des angeführten Geburtsdatums - als Minderjähriger schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier am 19.05.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 21.05.2015 wurde der Beschwerdeführer von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute, seinem Fluchtgrund und allfälligen Rückkehrgefährdungen befragt. Als Fluchtgrund gab er an, sein Bruder habe in Afghanistan einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Mann gestorben sei. Die Familie des Verstorbenen schwöre Blutrache und bedrohe die gesamte Familie des Beschwerdeführers in Afghanistan.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 10.09.2015 wurde dem Kinder- und Jugendhilfeträger der Stadt XXXX , XXXX , die Obsorge für den (damals minderjährigen) Beschwerdeführer übertragen.

4. Am 26.09.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers seiner Muttersprache und seines gesetzlichen Vertreters niederschriftlich einvernommen. Zu seinem Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, sein Bruder XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) habe bei einem Verkehrsunfall unabsichtlich jemanden getötet und sei aus diesem Grund acht bis neun Monate in Haft gewesen. Die Unfallgegner hätten aus Rache seinen Bruder töten wollen und wenn sie diesen nicht erwischen, dann würden sie sich an ihm rächen. Er selbst sei zwar nicht bei dem Unfall dabei gewesen, habe es so jedoch so von seinem Vater erzählt bekommen. Das „Opfer“ des Unfalls kenne er zwar nicht, aber sein Leben sei in Gefahr, sein Vater habe ihn daher in den Iran geschickt, wo er bei seinem Onkel mütterlicherseits ca. zwei Jahre gelebt habe. Sein Bruder sei nach der Haft noch etwa ein Jahr in Afghanistan geblieben. Während dieser Zeit sei auch der weitere Bruder, XXXX , nach Afghanistan zurückgekehrt, da er aus Deutschland abgeschoben worden sei. Nach einem Jahr Aufenthalt in Afghanistan hätten die Brüder XXXX und XXXX aufgrund mehrmaliger Bedrohungen gemeinsam Afghanistan Richtung Iran und dann weiter Richtung Europa verlassen.

Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer ein Empfehlungsschreiben seines Klassenvorstandes, ein Anmeldeformular für die Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule (HAK), ein Jahres- und Abschlusszeugnis sowie einen Schülerbegleitpass einer Öffentlichen Neuen Mittelschule (NMS), ein Schreiben der XXXX -HTL sowie einen psychosozialen Bericht der Caritas vor.

5. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 13.10.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt; gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

6. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht vollumfängliche Beschwerde erhoben.

7. Das BFA legte die Beschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

8. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.11.2020 wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Stand 13.11.2019, mit der Möglichkeit zur Stellungnahme zur Kenntnis gebracht. Eine Stellungnahme wurde nicht abgegeben.

9. Am 11.01.2021 legte der ausgewiesene Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die ihm erteilte Vollmacht vor.

10. Mit Schreiben vom 08.02.2021 ersuchte der ausgewiesene Rechtsvertreter um Übermittlung der bzw. Akteneinsicht in die – zu XXXX beantragten - Übersetzungen der bereits vor dem BFA vorgelegten Beweisurkunden aus Afghanistan.

11. Mit Schriftsatz vom 11.06.2021 brachte der Beschwerdeführer, vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsberater, erstmals eine Verfolgung als „verwestlichter“ Rückkehrer vor. Dem Schreiben wurden ein Jahres- und Abschlusszeugnis der Öffentlichen Neuen Mittelschule XXXX , XXXX (Schuljahr 2016/17), eine Teilnahmebestätigung an einem Workshop der österreichischen Gesellschaft für Familienplanung, ein Schreiben der Caritas zur schulischen Situation des Beschwerdeführers, eine Bescheinigung hinsichtlich der Teilnahme an einer Unterweisung zum Thema „Verhalten im Brandfall“, zwei Kursbesuchsbestätigungen von Start XXXX – das Jugendcollege, ein Bestätigungsschreiben über eine einwöchige ehrenamtliche Mitarbeit, ein Bestätigungsschreiben des Abendgymnasiums XXXX hinsichtlich des Lehrgangs „Übergangsstufe für Flüchtlinge 2017/2019“, eine Aufnahmebestätigung der Schule für Sozialbetreuungsberufe sowie je eine Anmelde- und Buchungsbestätigung zu einem Sprachkurs beigelegt.

12. Mit Eingabe vom 14.06.2021 wurde ein Empfehlungsschreiben übermittelt.

13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.06.2021 in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters, einer Vertrauensperson, eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie eines länderkundigen Sachverständigen (im Folgenden: SV) eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und zu seiner Lebenssituation in Österreich befragt wurde. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen.

In die Verhandlung wurden zudem die aktuellste, am Tag der Verhandlung den Parteien elektronisch verfügbare Version des Länderinformationsblatts zu Afghanistan (Stand 01.04.2021) sowie die Berichte von EASO und UNHCR sowie jene, die in der gegenständlichen Beschwerde bzw. Stellungnahme vom 11.06.2021 angeführt wurden, in das Verfahren eingeführt.

Der Beschwerdeführer legte durch seinen ausgewiesenen Rechtsvertreter in der mündlichen Verhandlung folgende Dokumente vor:

Drei Empfehlungsschreiben (Beilage ./1), Kopien eines E-Mailverkehrs, wonach sich der Beschwerdeführer für mehrere Lehrstellen beworben hat (Beilage ./2), ein Fotokonvolut im Hinblick auf seine ehrenamtliche Tätigkeit im „Kids-Camp“ in XXXX (Beilage ./3) sowie ein Konvolut an Unterlagen aus Afghanistan betreffend den Verkehrsunfall bzw. die Haft seines Bruders XXXX , die – laut Protokoll der Niederschrift - bereits am 26.09.2017 vor dem BFA in Vorlage gebracht wurden, sich aber nicht im BFA-Akt befinden (Beilagen ./4; darunter auch die Beilagen./4a, 4b und 4c).

Zudem wurden der AV vom 14.06.2021 über die telefonische Auskunft bei der Sozialversicherung zur vom Beschwerdeführer vorgelegten E-Card und des mehrfachen Verlustes derselben (Beilage ./5) sowie der AV hinsichtlich des vom Beschwerdeführer behaupteten – ebenfalls mehrfachen - Verlustes der Aufenthaltsberechtigungskarte (Beilage ./6) in das Verfahren eingeführt.

Der länderkundige Sachverständige (in der Folge: SV) erstattete im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein mündliches Gutachten zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im Lichte seines bisherigen Vorbringens sowie den vorgelegten, in Dari gehaltenen Dokumenten. Den Parteien wurde in der Verhandlung die Gelegenheit gegeben, zum Gutachten des SV Stellung zu nehmen und Fragen an den SV zu stellen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und Einholung gutachterlicher Ausführungen eines länderkundigen Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Verhandlung, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari. Er kann in Dari lesen und schreiben. Zudem spricht er etwas Englisch. Der Beschwerdeführer ist ledig und der Volksgruppe der Tadschicken zugehörig; er bekennt sich zum Islam sunnitischer Ausrichtung.

Der Beschwerdeführer ist bezüglicher seiner Herkunft mit den gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen Sachverständigen dem Distrikt XXXX , Afghanistan, zuzuordnen. Der Beschwerdeführer spricht - dem dortigen Gebiet entsprechend - Hoch-Dari (VP, S.11).

Der Beschwerdeführer ist in der afghanischen Provinz XXXX , geboren und dort gemeinsam mit seiner Familie (seinen Eltern, vier Brüdern – XXXX XXXX - und drei Schwestern, XXXX ) aufgewachsen; sie bewohnten ein drei- bis vier Zimmer - Haus mit Grundstück (VP S. 6). Im Alter von sieben oder acht Jahren übersiedelte der Beschwerdeführer mit seiner Kernfamilie aufgrund der schlechten Bildungsmöglichkeiten nach XXXX . Dort wohnte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie in einem Haus mit Garten; das Haus gehört dem Vater des Beschwerdeführers und befindet sich an der Adresse XXXX . Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX bis zur fünften Klasse die Schule (BFA-Akt, AS. 63; VP S. 7); er war nicht erwerbstätig. Für den Lebensunterhalt der Familie sorgte der Vater.

Der Vater des Beschwerdeführers arbeitete als selbständiger Edelsteinverkäufer in XXXX und XXXX ist aktuell sechzig Jahre alt und arbeitet nicht mehr. Das Haus in XXXX , XXXX , steht nach wie vor im Eigentum des Vaters. Das Erdgeschoss verfügt über drei Zimmer, die derzeit vom Vater und der Schwester ( XXXX ) des Beschwerdeführers bewohnt werden. Das Obergeschoss besteht aus vier Zimmern und ist vermietet. Das Haus verfügt auch über einen Garten. Den Lebensunterhalt bestreiten sie aus den Mieteinkünften und der fallweisen finanziellen Unterstützung durch den Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , der aktuell in Norwegen lebt. Die Mutter des Beschwerdeführers war Hausfrau und starb, als der Beschwerdeführer zwei Jahre alt war.

Der Beschwerdeführer hat vier Brüder und drei Schwestern: Der Bruder XXXX lebt in Norwegen und arbeitet als Pizzaverkäufer. Er unterstützt fallweise die Familie in Afghanistan finanziell. Aufenthaltsort und Beschäftigung des Bruders XXXX sind dem Beschwerdeführer nicht bekannt. Der Bruder namens XXXX ist bereits 2008 nach Europa ausgereist, lebte sechs Jahre in Norwegen und Deutschland, wurde nach Afghanistan abgeschoben, hielt sich ein Jahr lang in Afghanistan auf und reiste dann in den Iran, um mit dem Beschwerdeführer und dem Bruder, XXXX (GZ: XXXX ), erneut nach Europa zu flüchten. Der Beschwerdeführer reiste im Mai 2015 gemeinsam mit seinen Brüdern XXXX und XXXX nach Österreich. Aufenthaltsort und Aufenthaltstitel von XXXX konnte nicht festgestellt werden. Seine Schwester XXXX ist verheiratet, lebte mit ihrem Mann in XXXX , hatte aber vor Kurzem einen Schlaganfall, weshalb sie von ihrem Ehemann zur Behandlung nach Frankreich gebracht wurde. Der Ehemann lebte früher einmal in Frankreich. Die Schwester XXXX ist Hausfrau und lebt mit ihrem Ehemann, der in einem Büro in XXXX arbeitet, in einem eigenen Haus in XXXX . Die jüngste Schwester, XXXX , lebt in XXXX beim Vater des Beschwerdeführers in dessen Haus in XXXX und geht dort in die Schule (VP, S.6,7). Der Beschwerdeführer hat telefonischen Kontakt mit seiner Familie in Afghanistan, insbesondere mit dem Vater (VP S. 18).

In XXXX lebt weiters ein Onkel väterlicherseits, XXXX . Der Beschwerdeführer steht nicht in Kontakt zu diesem Onkel und hat kein gutes Verhältnis zu ihm. Ein weiterer Onkel väterlicherseits ist bereits verstorben. Eine Tante väterlicherseits namens XXXX lebt ebenfalls in XXXX ; eine Tante namens XXXX wohnt in XXXX , Afghanistan. Sie sind beide Hausfrauen, verheiratet und haben Kinder (VP, S. 6,7).

Im Jahr 2013 reiste der Beschwerdeführer in den Iran, wo er etwa zwei Jahre bei seinem Onkel mütterlicherseits namens XXXX in der Region XXXX lebte (BFA-Akt, AS 61; VP S.7). Im Iran ging der Beschwerdeführer nicht zur Schule, sondern unterstützte seinen Onkel mütterlicherseits in dessen Schneiderei; er führte auch Reinigungstätigkeiten aus (VP S. 7).

Festgestellt wird, dass dem Beschwerdeführer die Niederschrift im Verfahren vor dem BFA am 26.09.2017 wortwörtlich und in Anwesenheit seines damaligen gesetzlichen Vertreters vorgelesen, rückübersetzt und von ihm unterschrieben wurde (BFA-Akt, AS 73).

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan niemals persönlich konkret bedroht (BFA-Akt, AS 69).

Bei dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Konvolut an Unterlagen aus Afghanistan handelt es sich um dieselben Unterlagen, die der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) im Zuge seines Asylverfahrens vorgelegt hat (VP S. 8) und zu dessen Akt genommen wurden. Der Beschwerdeführer zu XXXX befindet sich seit 2015 illegal in Österreich, ist seit 2017 mehrfach strafrechtlich bescholten (SMG; schwere Körperverletzung; Widerstand gegen die Staatsgewalt) und befindet sich aktuell in der JA XXXX in Haft (s. Strafregisterauszug).

Festgestellt wird, dass bei dem vom Beschwerdeführer als Fluchtgrund angeführten Verkehrsunfall niemand getötet wurde (VP S. 8, 9).

In der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlage aus Afghanistan, gehalten in der Sprache Dari, ist mit Übersetzung durch den Dolmetscher und dem länderkundigen Sachverständigen folgendes festgehalten (wörtlich, auszugsweise):

„[…] Der Patient wurde nach der notwendigen Behandlung bezüglich einer Blutung am 02.07.1391 vom Spital entlassen und ihm wurde für drei Wochen in seinem Haus Bettruhe empfohlen […]“ (VP S. 8, 9; Beilagen ./4a und 4b),

Dem Beschwerdeführer ist der Grund für die Inhaftierung seines Bruders XXXX in Afghanistan nicht bekannt (VP S. 10).

Zur Verfolgung wegen eines Verkehrsunfalls in Afghanistan aus Gründen der Blutrache wird mit dem länderkundigen Sachverständigen Folgendes festgestellt (wörtlich, auszugsweise):

„Wenn der Motorradfahrer tatsächlich getötet worden und seine Familie eine paschtunische Familie wäre, hätten sie das Haus der Familie des BF sofort angegriffen, auf alle Fälle jemanden getötet, z.B. den Vater der Familie, oder das Haus in Brand gesetzt. Wenn eine Familie aber nicht so aggressiv ist, dann verlangt die Familie bei einer Jirga nach Kompensation für ihren Toten. Die Kompensation ist zuerst die Verheiratung eines Mädchens aus der Familie des „Täters“ mit einem Jungen aus der Familie des „Opfers“. Die Kompensation kann auch materiell erfolgen, indem die Familie des „Täters“ Geld oder Tiere der Familie des „Opfers“ zur Verfügung stellt. Die Kompensation kommt dann in Frage, wenn die „Opferfamilie“ in der Nachbarschaft der „Täterfamilie“ lebt und beide Familien in den jeweiligen Gesellschaften Ansehen genießen und die Bevölkerung der beiden Dörfer rege Beziehungen zueinander hat.“

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer nicht aus Gründen der Blutrache in Afghanistan verfolgt wird. Der Bruder des Beschwerdeführers lebte nach dem behaupteten Vorfall bzw. nach Enthaftung mehrere Monate unbehelligt in XXXX , ebenso leben der Vater und die Schwester des Beschwerdeführers nach wie vor im eigenen Haus in XXXX (VP S. 7).

Festgestellt wird mit den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen, dass die vom Beschwerdeführer vorgelegte Unterlage Beilage ./4c manipuliert wurde (wörtlich, auszugsweise):

„[…] In dem Dokument ./4c in der dritten Zeile von unten stelle ich fest, dass die Angaben des Bruders des BF, er habe seinen Führerschein aus der Provinz Parwan bekommen, zweifelhaft sind, weil das Wort „Parwan“ in einer anderen Schrift als die gesamte Schrift des Dokuments ist und man kann deutlich erkennen, dass unter dem Wort von „Parwan“ eine Manipulation vorgenommen worden ist, in dem das ursprüngliche Wort bearbeitet und überschrieben wurde. Aber man sieht trotzdem bestimmte Teile des vorherigen Wortes, was man mit freiem Auge erkennen kann. Normalerweise wird das P von Parwan unten mit drei Punkten geschrieben, während auf dem Dokument dort stattdessen ein „Hakerl“ ist. Zum Vergleich schreibe ich das Wort „Parwan“ in der üblichen Schreibweise, um den Vergleich ersichtlich zu machen (s. gelbes Post-it auf dem Dokument ./4c)….“.

Festgestellt wird, dass weder konkret der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat noch, dass jeder afghanische Staatsangehörige, welcher aus Europa nach Afghanistan zurückgekehrt, in Afghanistan psychischer und / oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer oder Angehörige seiner Familie aufgrund eines Verkehrsunfalls seines Bruders und einer dadurch begründeten Blutrache bzw. Todesfeindschaft von der Familie des Unfallopfers bedroht werden.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner gegen ihn gerichteten Bedrohung oder Verfolgung, sei es durch staatliche Organe oder durch Private, aufgrund seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) ausgesetzt und hat eine solche im Falle seiner Rückkehr auch nicht zu erwarten.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise als (mündiger) Minderjähriger in Österreich und seiner Asylantragstellung im Mai 2015 durchgehend im Bundesgebiet auf. Er besuchte während seines Aufenthaltes in Österreich Deutschkurse, Zertifikate bestandener Deutschprüfungen legte er nicht vor. Der Beschwerdeführer besucht derzeit einen B1-Sprachkurs und spricht sehr gut Deutsch (VP.S.17).

Der Beschwerdeführer wohnt seit etwa zwei Monaten – somit seit 04/2021 - mit einem ebenfalls aus XXXX stammenden Freund namens XXXX gemeinsam in einer gemieteten Wohnung im XXXX in XXXX . Der Beschwerdeführer kennt seinen Mitbewohner seit fünf Jahren aus XXXX . Sein Anteil der Mietkosten in Höhe von EUR XXXX wird von der Caritas getragen.

Der Beschwerdeführer besuchte in den Schuljahren 2015/2016 und 2016/2017 die Öffentliche Neue Mittelschule XXXX und konnte diese erfolgreich abschließen. Zudem absolvierte er im März 2018 den Kurs „Verhalten im Brandfall“ und nahm im November 2017 an einem Workshop der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung teil. Der Beschwerdeführer besuchte auch zwei Kurse von „Start XXXX – das Jugendcollege“ und hat sich im Jahr 2020 in der Sozialbetreuungsschule in XXXX angemeldet. Aufgrund des Lockdowns konnte er bisher nicht am Unterricht teilnehmen. Der Beschwerdeführer war acht Tage lang beim „Kids-Camp“ ehrenamtlich tätig (Beilage ./3).

In seiner Freizeit geht der Beschwerdeführer mit einem Freund namens XXXX spazieren, lernt gemeinsam mit diesem und spielt Fußball. Zudem liest er manchmal Bücher auf Deutsch. Der Beschwerdeführer hat einen Freundeskreis bestehend aus Afghanen, die aus verschiedenen Provinzen stammen, und auch Österreichern, vorwiegend Personen, die mit ihm die Schule besucht haben (VP. S16). Der Beschwerdeführer lebt völlig selbständig, erhält aber fallweise Unterstützung in Form von Speisen oder kleineren Geldzuwendungen durch eine Österreicherin namens XXXX . Der Beschwerdeführer befindet sich nicht in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu einer in Österreich lebenden Person (VP S. 16).

Der Beschwerdeführer bezieht nach wie vor Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ging während seines Aufenthalts zu keinem Zeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nach.

Der Beschwerdeführer beabsichtigt, in Österreich eine Lehre als Elektrotechniker zu beginnen. Im Jahr 2017 konnte er bereits ein einwöchiges Praktikum in diesem Bereich absolvieren. Der Beschwerdeführer hat sich auch bei verschiedenen Restaurants und Hotels als Lehrling beworben, aber noch keine Zusage erhalten (./2).

Festgestellt wird, dass dem Beschwerdeführer – nach mehrmaligen Verlusten – bereits die fünfte E-Card und die fünfte Aufenthaltsberechtigungskarte ausgestellt wurden (VP S 3, 10; Beilage ./6).

In Österreich lebt ein Bruder des Beschwerdeführers namens XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), dessen Antrag auf internationalen Schutz in erster Instanz abgewiesen wurde; das Beschwerdeverfahren ist derzeit am Bundesverwaltungsgericht anhängig. Eine mündliche Beschwerdeverhandlung fand am 10.06.2021 vor dem BVwG statt. Der Kontakt zu seinem mehrfach vorbestraften und aktuell in der JA XXXX inhaftierten Bruder beschränkt sich auf fallweise Telefonate. Ansonsten leben keine Verwandten oder Familienangehörigen des Beschwerdeführers in Österreich. Der Beschwerdeführer führt hier auch keine Lebensgemeinschaft und ist nicht Mitglied in einem Verein. Besonders verfestigte Sozialkontakte sind ebenfalls nicht hervorgekommen.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen dieANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Kabul

Letzte Änderung: 25.03.2021

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Suro -bi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 1.6.2020).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-2021 (NSIA 1.6.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu möglichen 6,5 Millionen Einwohnern (AAN 19.3.2019; vgl. IGC 13.2.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 10.3.2019) – zählte, aufgrund iihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horziontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschicken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.).

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern" (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne" (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft" entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, BalaChawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile- Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.05.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).

Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).

Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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