TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/27 W177 1438081-1

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Veröffentlicht am 27.07.2021
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Entscheidungsdatum

27.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch


W177 1438081-1/65E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 11.09.2013, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.07.2020 und 03.12.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (nunmehr „BF“), ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein. Er stellte am 01.10.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am gleichen Tag gab der BF an, er sei am XXXX in Kabul geboren worden, sunnitischer Moslem und ledig. Zum Fluchtgrund befragt, antwortete der BF, er sei aus Afghanistan geflohen, weil er dort keine Zukunft für sich sehe.

2 In der am 21.08.2013 stattgefundenen Niederschrift gab der BF zu seinem Fluchtgrund befragt an, er habe keine nennenswerten Probleme in Afghanistan gehabt. Er habe für sich keine Zukunft in Afghanistan gesehen. Es habe jeden Tag Bombenattentate, Explosionen sowie Selbstmordanschläge gegeben. Er hätte Angst, in so einen Anschlag hineingezogen zu werden und getötet zu werden.

3. Mit angefochtenem Bescheid wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III.). Das Bundesasylamt führte im Wesentlichen aus, dass der BF in Kabul einer geregelten Arbeit nachgegangen sei, keine wirtschaftlichen Probleme gehabt und ausgereist sei, weil er keine positive Zukunft aufgrund von Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten sowie Explosionen gesehen habe. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass er bei einer Rückkehr in eine Existenz bedrohende Notlage gedrängt werden würde, zumal er als gesunder, volljähriger Mann einer Form der Arbeit nachgehen könne und er einen Familienbezug in Afghanistan habe.

4. In der fristgerecht erhobenen Beschwerde beantragte der BF eine mündliche Verhandlung durchzuführen, dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben oder festzustellen, dass die Ausweisung auf dauerhaft unzulässig sei oder den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Bundesasylamt zurückzuverweisen. Er führte aus, dass er für eine Baufirma für Straßen- und Gebäudebau und anschließend als Wachmann für eine Sicherheitsfirma tätig gewesen sei.

5. Am 12.07.2017 fand erstmals eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. Der Rechtsvertreter teilte mit, dass der BF zur Verhandlung nicht erscheine. Er sei durch ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis an seinem Erscheinen gehindert worden.

6. Am 24.08.2017 wurde das Vollmachtsverhältnis zwischen dem MigrantInnenverein St. Marx und dem BF aufgelöst. Der BF wurde in weiterer Folge ab 19.01.2018 durch den Verein Menschenrechte vertreten.

7. Am 23.01.2018 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an welcher der BF, seine Rechtsvertretung und eine Dolmetscherin teilnahmen. Die Behörde hat entschuldigt auf eine Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.

Der BF gab an, er sei der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und habe Ende 2011 Afghanistan verlassen habe. Er sei über Pakistan in den Iran gereist und dort ca. 6 Monate geblieben. Im Oktober 2012 sei er nach Österreich gekommen.

Der BF führte aus, dass seine Eltern gestorben seien und er drei Brüder sowie vier Schwestern habe. Seine Familie habe in der Stadt Kabul gelebt. Im Jahr 2014, als sein Vater verstorben sei, sei der Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Wo seine Familie heute leben würde, wisse er nicht. Es könne sein, dass es zu Vorfällen gekommen sei, welche sie gezwungen hätten, von ihrem bisherigen Wohnort wegzugehen.

Als der Krieg in Afghanistan ausgebrochen sei, sei seine Familie nach Pakistan ausgewandert. Zu diesem Zeitpunkt sei er etwa neun Jahre alt gewesen. Die Familie sei etwa vier Jahre in Pakistan geblieben und hätte Teppiche geknüpft, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Als der BF wieder nach Kabul zurückgekehrt sei, seien die Taliban noch an der Macht gewesen, die etwa einem Jahr nach seiner Rückkehr gestürzt worden wären. In Kabul sei der BF wieder mit seiner Familie zusammen gewesen. Er habe arbeiten müssen, um für die Familie zu sorgen.

Der BF habe als Tagelöhner, Hilfsfahrer bei LKW-Transporten und Wachmann im Militärbildungszentrum einer Militärbasis für ausländische Truppen gearbeitet. Während seiner Tätigkeit habe drei Explosionen vor der Militärbasis gegeben. Verantwortlich dafür seien die Taliban gewesen. Diese hätten die Militärbasis angreifen wollen, weil dort Ausländer aufhältig gewesen seien.

10. Das BVwG wies mit Erkenntnis vom 12.03.2018 die Beschwerde des BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.) und gab der Beschwerde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG statt und erkannte dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 12.03.2019 erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend hielt das BVwG fest, dass der BF persönlich glaubwürdig gewesen sei, jedoch die genannten Fluchtgründe keine asylrechtlich relevante Verfolgungsgefahr begründen hätten können, wodurch eine asylrechtlich relevante Gefährdung des BF in Afghanistan nicht glaubhaft gemacht worden sei. Der BF sei zwar ein junger, arbeitsfähiger und gesunder Mann, der aus Kabul stamme, jedoch habe er dort seinen familiären Rückhalt verloren. Neben dem Fehlen sozialer Sicherheiten sei auch zu berücksichtigen gewesen, dass sich der BF schon seit 2012 und daher nicht mehr über einen kurzen Zeitraum, in Österreich aufgehalten habe. Im Zuge seines Aufenthaltes habe sich der BF integrationswillig gezeigt, in dem er Deutsch gelernt hätte. Er habe auch seine Arbeitswilligkeit unter Beweis gestellt, in dem er mehrmals gemeinnützig tätig wurde.

11. Am 18.04.2018 erhob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr: „BFA“) im Zuge der Amtsrevision eine außerordentliche Revision an den VwGH.

12. Mit Erkenntnis des VwGH vom 05.11.2019, ZL. Ra 2018/01/01888-5, wurde das angefochten Erkenntnis in seinen Spruchpunkten A) II., A) III., und A) IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes behoben. Der VwGH hielt in diesem Erkenntnis begründend fest, dass die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der höchstgerichtlichen Judikatur nicht gegeben sei, zumal der BF ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann mit Berufserfahrung sei. Eine Annahme, dass eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz nicht zulässig sei, würde ebenfalls noch nicht die Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen, zumal die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative geprüft hätte werden müssen. Aus diesen Gründen sei das BVwG von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen.

13. Mit Schriftsatz vom 16.07.2020 legte die Rechtsvertretung des BF einen aktuellen Versicherungsdatenauszug des BF vor, dem zu entnehmen ist, dass der BF seit 23.06.2018 regelmäßig Beschäftigungen nachgeht.

14. Das BVwG führte am 17.07.2020 im Beisein eines Dolmetschers für Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine rechtsfreundliche Vertretung persönlich teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung mit Schreiben vom 01.07.2020 entschuldigt fern. Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nach einer vorläufigen Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19, wurden die Sach- und Rechtslage ausführlich erörtert. Daraufhin ersuchte die rechtsfreundliche Vertretung, um Einräumung einer großzügigen Frist zur Abgabe einer Stellungnahme und führte aus, dass es unbestritten sei, dass der BF Verwandte in Afghanistan habe, jedoch würde zu diesen schon kein Kontakt mehr bestehen und der BF sei auch nicht in der Lage, diese ausfindig zu machen. Er verfüge daher über kein soziales Netz in Afghanistan und keine besondere Berufsausbildung. Ebenso habe er auch jahrelang in Pakistan gelebt. Ebenso verfüge er über keine Ortskenntnisse in Mazar-e Sharif und Herat. In Österreich habe er gute Deutschkenntnisse erworben und sich gut integriert.

Der BF vermeinte, dass sich in seinem Heimatland die Sicherheitslage verschlechtert habe und er, durch das Anpassen an die österreichische Gesellschaft bedingt, nicht mehr in der afghanischen Gesellschaft Fuß fassen könne. Er trinke Alkohol und glaube nicht mehr an den Islam. Dies habe er auch zuvor noch nicht im Verfahren angegeben, weil es durch den Erhalt des subsidiären Schutzes hierzu keine Notwendigkeit gegeben habe. Jedenfalls hätten islamische Traditionen und Sitten für ihn schon lange keine Bedeutung mehr. Aus diesem Grund sei damals auch der Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen.

15. Am 24.11.2020 erfolgte seitens der Rechtsvertretung eine Stellungnahme. In dieser wurde erneut auf die lange Aufenthaltsdauer und die integrativen Schritte des BF Bezug genommen. Ebenso wurde ausgeführt, dass der BF nach der Zuerkennung von subsidiärem Schutz regelmäßig gearbeitet habe. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem BF auch wegen seines langen Aufenthaltes in Österreich, der mangelnden Ortskenntnisse zu Mazar-e Sharif und Herat sowie der fehlenden Schulbildung und der geringen Berufserfahrung nicht zumutbar. Zu berücksichtigen wären ebenfalls noch die durch COVID-19 verschlechterte Versorgungslage in Afghanistan sowie die Abkehr vom Islam, die den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer weiteren Gefährdung aussetzen würde.

16. Das BVwG führte am 03.12.2020 im Beisein eines Dolmetschers für Sprache Dari eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine rechtsfreundliche Vertretung persönlich teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung mit Schreiben vom 02.12.2020 entschuldigt fern. Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nach einer vorläufigen Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19, wurden die Sach- und Rechtslage ausführlich erörtert.

Es wurde festgehalten, dass der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte in seinem Heimatland verfüge und sich die wirtschaftliche Situation durch die COVID-19-Pandemie insbesondere im Segment der Tagelöhner verschärft habe. Durch den langen Aufenthalt im Bundesgebiet sei der BF nicht ausreichend mit den afghanischen Sitten und Bräuchen verbunden. Mittlerweile sei der BF auch gut integriert und gehe regelmäßig Arbeiten in Beschäftigungsverhältnissen nach.

Befragt zum Islam gab der BF an, dass ihn daran der Zwang gestört habe. Es habe ihm niemand erklärt, um was es bei der Religion gehe und er sei gezwungen worden, beten zu gehen. Seine Eltern hätten dies so gewollt. Falls man in der Moschee nicht mitgemacht hätte, sei man ebenfalls beschimpft und geschlagen worden. Seine Ausreise sei damals auch nicht mit seiner Familie abgesprochen worden. In Österreich habe sein ehemaliger Mitbewohner auch alle Kontakte zu ihm abgebrochen, als er mitbekommen habe, dass er nicht mehr an den Islam glaube. Interesse sich anderen Religionen zuzuwenden habe der BF nicht. In Afghanistan sei er bis zu seinem 18. Geburtstag mehrmals geschlagen worden, wenn er sich nicht an die Religion gehalten habe. Er wolle auch im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr die islamische Religion annehmen.

Nach Schluss der mündlichen Verhandlung wurde festgehalten, dass die Verkündung der Entscheidung gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfällt.

17. Mit Schriftsatz vom 15.12.2020 legte die Rechtsvertretung des BF einen aktuellen Dienstvertrag des BF vom 08.12.2020, samt Überlassungsmitteilung, die einen Dienstbeginn ab 09.12.2020 ausweist, vor.

18. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Erkenntnis vom 25.01.2021 zu Recht erkannt, dass der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und dem BF gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt werde (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt II.). Begründend wurde festgehalten, dass der Abfall vom Islam zwar nicht asylrechtlich relevant sei, jedoch im Falle einer Rückkehr eine Reintegration des BF in einem streng muslimischen Land bedeutend erschweren würde, zumal sich der BF durch seinen langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet von über acht Jahren sowieso von dem Werten und Normen eines streng muslimischen Landes entfernt habe.

Der BF sei zwar anpassungsfähig, jedoch verfüge er nur über Arbeitserfahrung als Tagelöhner und Hilfsarbeiter, welche ihm bei seiner Rückkehr im beruflichen Alltag in einer Großstadt jedenfalls nicht helfen könnte, zumal sich im Zuge der COVID-19-Pandemie insbesondere die Situation im Bereich der Hilfsarbeiter und Tagelöhner drastisch verschlechtert habe. Auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie sei dem BF jedenfalls eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar.

Die Wohnraum-, Arbeitsmarkt- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif seien bereits vor der COVID-19-Pandemie angespannt gewesen. Es war am Arbeitsmarkt zwar schwierig, aber insbesondere im Bereich der Gelegenheitsarbeiten ohne besondere Vorkenntnisse möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und auf diese Weise ein Einkommen auf dem dort üblichen Niveau zu erzielen. Dies habe sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie zusehends verschlechtert.

Der BF habe nur eine geringe Schulbildung und es mangle ihm an der notwendigen Arbeitserfahrung, abseits von Hilfsarbeiten, sich in einer fremden Großstadt selbstständig eine Arbeit zu beschaffen und seine grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen können.

19. Am 24.02.2021 erhob das BFA im Zuge der Amtsrevision eine außerordentliche Revision an den VwGH.

20. Mit Erkenntnis des VwGH vom 26.05.2021, ZL. Ra 2021/01/0081-7, wurde das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Der VwGH hielt in diesem Erkenntnis begründend fest, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - auf die im Vorerkenntnis hingewiesen worden sei - bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen sei, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen seien, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohe. Es bedürfe einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen habe. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat könne auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfinden würde, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation sei nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reiche nicht aus. Vielmehr sei es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen würden (vgl. bereits Rn. 7 des Vorerkenntnisses; VwGH 29.1.2021, Ra 2020/01/0422, jeweils mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof habe auch bereits festgehalten, dass in der Rechtsprechung bereits klargestellt worden sei, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an Covid-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellen würde, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen sei, nicht ankomme, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen würden, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre (vgl. etwa VwGH 22.1.2021, Ra 2020/01/0423, mwN).

Im Übrigen entspreche es zudem der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreiche, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen zu können (vgl. etwa VwGH 9.2.2021, Ro 2021/01/0007, mwN).

Das BVwG habe zwar - aufgrund fehlender sozialer Bindungen und eingeschränkter beruflicher Chancen wegen seiner bisherigen Tätigkeit als Tagelöhner sowie aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation und Versorgungslage in den Großstädten als Folge der COVID-19-Pandemie - eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten festgestellt. Weshalb der Mitbeteiligte durch diese Umstände - trotz Vertrautheit mit den kulturellen Gegebenheiten, der Sprache und der Tatsache, dass es sich bei ihm um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handeln würde, der nach den Feststellungen des BVwG auch keiner Covid-19-Risikogruppe angehöre - aber in eine Situation ernsthafter individueller Bedrohung des Lebens käme, zeige das BVwG nicht auf. Die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze würden sich daher nicht ergeben.

Auch die Annahme des BVwG, dem Mitbeteiligten sei eine Rückkehr nach Kabul nicht zumutbar, vermag die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht zu rechtfertigen, denn die Zumutbarkeit einer Rückkehr ist bei der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative, nicht aber bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz zu prüfen (vgl. VwGH 19.10.2020, Ra 2020/01/0362, mwN). Hinsichtlich der vom BVwG darüber hinaus geprüften und letztlich verneinten innerstaatlichen Fluchtalternativen Herat und Mazar-e Sharif genüge der Hinweis, dass die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK in der Herkunftsregion nicht dargetan worden sei und es daher auf die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus diesem Grund nicht ankäme (vgl. VwGH 15.3.2021, Ra 2021/20/0037, mwN).

21. Am 11.06.2021 erging seitens des BVwG im Zuge eines Parteiengehörs eine vorläufige aktualisierte Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat, nämlich das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, die EASO Guidance und die neue UNHCR-Richtlinie. Diese würden im Verfahrensakt zur allfälligen Einsicht und schriftlichen Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen aufliegen. Weiters werde der BF ersucht, sämtliche Unterlagen in Bezug auf die Integration vorzulegen. Sollte die Stellungnahme nichts Anderes erfordern, wird das Gericht aufgrund der an sich geklärten Sachlage vor dem Hintergrund des Erkenntnisses des VwGH ohne weitere Verhandlung schriftlich entscheiden.

22. Mit Schriftsatz vom 30.06.2021 erstattete der BF, nunmehr vertreten durch die BBU GmbH, eine Stellungnahme ihm Rahmen des Parteiengehörs und legte einhergehend ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor. In der Stellungnahme wurde ausgeführt, dass die sicherheitsrelevanten Vorfälle um Kabul zugenommen hätten und die Taliban durch den Abzug der internationalen Truppen im Begriff wären, wieder zu alter Stärke zu gelangen und in absehbarer Zeit die Herrschaft über Afghanistan zurückerlangen würden. Die Versorgungslage habe sich in den letzten Jahren ebenfalls verschlechtert und laut UNHCR-Richtlinien aus dem Jahr 2018 sei eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul nicht mehr zumutbar. Aber auch eine Rückkehr nach Herat würde mangels dortiger sozialer Anknüpfungspunkte des BF zu einer Verletzung der durch Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährten Rechte führen. Beim BF käme noch erschwerend hinzu, dass er als Rückkehrer und als vom Islam Abgefallener selbst in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat so auffällig wäre, sodass sich die Gefährdung von der in den ländlichen Regionen des Landes nicht unterscheiden würde. Auch habe sich durch die COVID-19-Pandemie Situation in Bezug auf die Ernährungssicherheit drastisch verschlechtert und es gäbe keine Anzeichen dafür, dass sich dies in naher Zukunft bessern würde.

23. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Dienstvertrag samt Überlassungsmitteilung

?        Versicherungsdatenauszug (zuletzt vom 21.06.2021)

?        Dienstvertrag vom 01.06.2021

?        Diverse Verdienstnachweise und Lohnzettel aus dem Jahr 2021

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den im Spruch genannten Namen und ist am im Spruch genannten Datum geboren. Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und ist der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zugehörig, wobei sich der BF zu dieser Religion nicht mehr bekennt und sich als konfessionslos sieht.

Der BF wurde in der afghanischen Provinz Kabul geboren, die er im Kindesalter zusammen mit Verwandten nach Pakistan verließ, ehe nach jahrelangem Aufenthalt in Pakistan wieder nach Kabul zurückging, wo er sich bis zu seiner Reise nach Europa im Jahr 2011 durchgehend aufhielt und er zuletzt bei einer Security-Firma als Wachmann gearbeitet hat. Der BF war nach dieser Ausreise aus seinem Heimatland nie mehr in Afghanistan.

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 01.10.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF besuchte drei Jahre lang die Schule und hat in Pakistan als Teppichknüpfer gearbeitet. Er verfügt über Berufserfahrung am afghanischen Arbeitsmarkt, wo er als LKW-Hilfsfahrer und als Wachmann tätig war.

Der BF ist gesund, ledig und hat keine Kinder. Die Muttersprache des BF ist Dari.

Der BF hat keine Familienangehörigen in Afghanistan bzw. jahrelang keinen Kontakt zu möglicherweise noch in Afghanistan aufhältigen auch nahen Familienangehörigen. Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF ist in seinem Heimatland und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Kabul, die nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt, zumutbar. Da er in Kabul aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in dieser Stadt Ortskenntnis hat und über er mit den dortigen Gegebenheiten vertraut ist. ist eine Rückkehr in diese möglich und. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist dem BF auch noch – neben einer Rückkehr nach Kabul –, die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans, insbesondere der Stadt Herat und der Stadt Mazar-e Sharif, zumutbar. Bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde; er ist gesund. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF. Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Der BF hat jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist. Er hat drei Jahre lang die Schule besucht und in seinem Heimatland jahrelang Berufserfahrung als LKW-Fahrer und Wachmann gesammelt.

1.3.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 01.10.2012 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 01.10.2012 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Das BVwG erkannte dem BF mit Erkenntnissen vom 12.03.2018 und 25.01.2021 jeweils den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, sodass sich der BF aufgrund einer diesbezüglich gewährten Aufenthaltsberechtigung rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und ihm ab dem 12.03.2018 auch der Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt offen gestanden ist.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Er ist auch kein Mitglied in sonstigen Vereinen und konnte auch keine Referenz- und Empfehlungsschreiben vorlegen.

Der BF konnte auch keine Nachweise über seine Deutschkenntnisse erbringen. Es wurden weder Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen noch Prüfungszertifikate vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung vom 03.12.2020 war der BF auf die Heranziehung eines Dolmetschers angewiesen.

Der BF lebte bis zu Erteilung der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter von der Grundversorgung. Erst mit der einhergehend erteilten Zutrittsberechtigung zum Arbeitsmarkt wurde der BF selbsterhaltungsfähig. Es wird nicht verkannt, dass dem BF eine wirtschaftliche Integration gelungen ist, jedoch erst ab einem Zeitpunkt nach dem er den Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten hat und er bereits sechs Jahre im Bundesgebiet aufhältig war.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist somit unbescholten.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 in den Aktualisierungen vom 02.04.2021 und 16.06.2021 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (3.2021) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

COVID-19

Letzte Änderung: 10.06.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021, HRW 13.1.2021, UNOCHA 19.12.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, Martins/Parto 11.2020, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.4.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 11.06.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga, dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Distrikträten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021) und mindestens zwei Frauen sollen aus jeder Provinz gewählt werden (insgesamt 68) (USDOS 30.3.2021).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlichen kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Politische Parteien und Wahlen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 12.5.2021). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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