TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/9 W131 2208834-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.08.2021
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Entscheidungsdatum

09.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W131 2208834-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag Reinhard GRASBÖCK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheids werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision gegen Spruchpunkt A) I. ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Die Revision gegen die Spruchpunkte A) II., III. und IV. ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in Folge: Bf) stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der Bf an, dass er am XXXX in Afghanistan, in XXXX geboren worden sei. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei Moslem. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er verfüge weder über eine Schul- noch über eine Berufsausbildung.

Seine Familie habe Afghanistan aufgrund von Grundstückstreitigkeiten verlassen. Er fügte hinzu, dass sein Vater von ihren Gegnern umgebracht worden sei. Seitdem sei auch sein Bruder verschollen. Den Iran habe er verlassen, weil er dort illegal aufhältig gewesen sei und Afghanen dort entweder abgeschoben oder in den Krieg nach Syrien geschickt werden würden.

3. Am XXXX wurde der Bf von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren: belangte Behörde) und in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und schiitischer Moslem zu sein. Er stamme aus der Stadt XXXX , in der Provinz XXXX und habe zuletzt als Maler im Iran gearbeitet.

Befragt zu seinen Fluchtgründen bezüglich seinen Herkunftsstaat Afghanistan gab er an, dass, in XXXX seit dreißig Jahren Krieg herrsche. Seine Familie habe in einem Mietshaus gewohnt. Dort habe es Streitigkeiten mit den Nachbarn gegeben, weil diese das Grundstück für sich beansprucht hätten. Bei diesem Konflikt sei sein Vater getötet worden und sein Bruder spurlos verschwunden. Da das Leben der Familie in Gefahr gewesen sei, sei seine Mutter mit ihm und seiner kleinen Schwester in den Iran geflüchtet.

4. Mit Bescheid vom XXXX , zu der im Spruch genannten Zl., wurde der Antrag des Bf auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen den Bf gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG setzte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bf eine zweiwöchige Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für seine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Bf seine Fluchtgründe, wonach seine Familie in einen Grundstückstreit involviert gewesen sei, in dessen Rahmen sein Vater getötet worden sei, nicht habe glaubhaft machen können. Selbst wenn er und seine Mutter aufgefordert worden wären, die Ortschaft zu verlassen, lasse sich dadurch noch keine persönliche Verfolgung seiner Person oder seiner Familie ableiten. Eine landesweite Suche nach seiner Person aufgrund dieser Grundstückstreitigkeiten habe nicht festgestellt werden können. Es drohe dem Bf auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat Stadt in Anspruch nehmen. Der Bf verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

5. Der Bf erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde.

6. An der am XXXX durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung nahm der Bf teil. Auch ein bevollmächtigter Vertreter von XXXX nahm an der Verhandlung teil. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verzichtete bereits mit Beschwerdevorlage auf die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung.

7. Mit Eingabe vom XXXX übermittelte der Bf eine Vollmacht, wonach er nunmehr von der die XXXX rechtsfreundlich vertreten wird.

8. Mit Schreiben vom XXXX legte der Bf ein Empfehlungsschreiben des XXXX vor.

9. Mit Schreiben vom XXXX wurde eine Vollmacht übermittelt, wonach der Bf nunmehr von Rechtsanwalt XXXX rechtsfreundlich vertreten wird.

10. Am XXXX wurde dem Bf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan in der Fassung vom 11.06.2021 und die EASO Country Guidance zu Afghanistan vom Dezember 2020 zum Parteiengehör übermittelt.

11. In der Stellungnahme vom XXXX brachte die Rechtsvertretung des Bf im Wesentlichen vor, dass er als Kleinkind mit seiner Mutter und seiner Schwester in den Iran gekommen sei und dementsprechend im Iran sozialisiert worden sei. Er verfüge weder über eine Schul- noch über eine Berufsausbildung. Im Iran habe er lediglich als Hilfsarbeiter, in der Funktion eines Malers gearbeitet. Er habe im Iran nicht selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen können, sondern sei von seiner Mutter finanziert worden. Weiters wird darauf hingewiesen, dass er unter Iranern aufgewachsenen sei bzw. unter Afghanen, die selbst im Iran geboren oder aufgewachsenen seien und er folglich nicht mit der afghanischen Kultur und Gepflogenheiten vertraut sei. Zudem könne er bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan weder von seiner Mutter noch von seiner Tante, die beide im Iran aufhältig seien, finanziell unterstützt werden. Zu berücksichtigen sei, dass er in Afghanistan über keinerlei Anknüpfungspunkte oder familiären Bindungen verfüge. Zudem könne er sich nicht an seine Heimat erinnern und kenne sich dort auch nicht aus. In weiterer Folge wird auf die Schlussfolgerungen der EASO Country Guidance verwiesen, wonach solche Personen, wie der Bf, die fast ihr gesamtes Leben außerhalb ihrer Heimat verbracht hätten, nicht einmal in den Großstädten Afghanistans Fuß fassen könnten. Abschließend wird auf die Voraussetzungen für die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative für die Personengruppe der „long time absent“ gemäß der Guidance hingewiesen und auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes verwiesen. Weshalb ersucht wird dem Bf, auf den die genannten Kriterien zutreffen würden, den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Bf führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er spricht zudem Paschtu und Farsi. Er ist ledig und kinderlos. Der Bf besuchte keine Schule und erlernte keinen Beruf. Der Bf arbeitete als Maler im Iran.

Der Bf wurde in der Provinz XXXX , in der Stadt XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern ein paar Jahre auf. Der Bf verließ Afghanistan im Kleinkindalter, zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester. Sie lebten seither im Iran, wo er sich bis zuletzt aufgehalten hat. Die Mutter und die Schwester des Bf leben nach wie vor im Iran. Eine finanzielle Unterstützung durch seine im Iran lebenden Angehörigen ist – und dies blieb im Verfahren unbestritten – nicht möglich. Der Bf verfügt über keine Familienangehörigen in Afghanistan. Ein Onkel mütterlicherseits und dessen Sohn leben in Schweden. Sie hat der Bf nie persönlich kennengelernt und stand mit ihnen auch nie in Kontakt. Ein weiterer Cousin des Bf hielt sich (zumindest in der Vergangenheit) ebenfalls als Asylwerber in Österreich auf.

Der Bf ist gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich in einem Verein namens Ringerclub XXXX aktiv. Der Bf hat bereits mehrere Deutschkurse besucht.

Der Bf ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es gab in Afghanistan zwischen der Familie des Bf bzw. des Eigentümers des Mietshauses und deren Nachbarn keine Streitigkeiten um Grundstücke oder aus anderen Gründen. Weder der Bf noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht. Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Verfolgung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wurde nicht konkret vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.

Der Bf war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der Bf verließ den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort lebende Afghanen. Er wurde im Iran nicht verfolgt oder bedroht. Dem Bf droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen ihn gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.

Es kamen auch keine sonstigen Gründe während des Verfahrens hervor, die auf eine drohende Verfolgung des Bf hindeuten. Der Bf wurde in seinem Herkunftsstaat nie von der Polizei gesucht und hatte dort auch keine Probleme mit Gericht oder den Behörden.

Es kann (auch sonst) nicht festgestellt werden, dass der Bf mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private, aus welchen Gründen auch immer, zu erwarten hätte.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR) und

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO).

Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 11.06.2021 werden auszugsweise folgende entscheidungsrelevanten die Person des Bf individuell betreffende Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen:

1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

1.3.2.  Grundversorgung und Wirtschaft

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.7.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von U.S.-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.1.2021).

Dürre und Überschwemmungen

Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Diese hatte primär Auswirkungen auf den Agrarsektor mit Verlusten bei Viehbeständen (STDOK 10.2020; vgl. STDOK 21.7.2020, STDOK 13.6.2019, ACCORD 26.5.2020) und verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter. Auch folgten schwerwiegende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken (FAO 23.11.2018; vgl. AJ 12.8.2018).

Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen (WHO 3.2019; vgl. STDOK 21.7.2020). Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben worden waren (GN 6.3.2019).

Günstige Wetterbedingungen während der Aussaat 2020 lassen eine weitere Erholung der Weizenproduktion von der Dürre 2018 erwarten. COVID-19-bedingte Sperrmaßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, da sie in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt werden konnten (IOM 23.9.2020).

Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 5.5.2021; vgl. UNOCHA 11.5.2021). 405 Familien wurden landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.5.2021).

Armut und Lebensmittelunsicherheit

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2020; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 9.12.2020).

In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 16.7.2020). Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018), sind es in urbanen Gebieten rund 41,6% (NSIA 2019).

Lebensmittelunsicherheit

Laut einer IPC-Analyse [Anm.: Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen] vom April 2021 hatten für den Zeitraum März bis Mai 2021 fast 11 Millionen Menschen in Afghanistan aufgrund von Konflikten, COVID-19, hohen Lebensmittelpreisen und grassierender Arbeitslosigkeit ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit (IPC-Phase 3 oder höher) zu erwarten. Zwischen Juni und November 2021 (Ernte- und Nacherntesaison) wird eine leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit erwartet, wobei die Anzahl der Menschen in IPC-Phase 3 oder höher auf 9,5 Millionen sinkt, wobei 6,7 Millionen in IPC-Phase 3 (Krise) und 2,7 Millionen in der IPC-Phase 4 (Notfall) sein werden (IPC 22.4.2021).

Die COVID-19-Krise führte kurzfristig zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit (USAID 12.1.2021; vgl. IPC 10.2020) und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise (IPC 10.2020; vgl. IOM 18.3.2021). Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein (IOM 18.3.2021). Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht lagen die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 weiterhin über dem Durchschnitt, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel auf den Quellmärkten zurückzuführen ist, insbesondere für Weizen in Kasachstan. Auf nationaler Ebene waren die Preise für Weizenmehl in Afghanistan von November bis Dezember 2020 stabil, allerdings auf einem Niveau, das 11% über dem des letzten Jahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag (FEWS NET 1.2021; vgl. IOM 18.3.2021). Die Preise der meisten Grundnahrungsmittel sind von März bis April 2021 auf den wichtigsten Märkten in Afghanistan leicht gesunken oder stabil geblieben (FEWS NET 5.2021).

Die afghanische Grenzen sind alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtert. Insgesamt werden in den kommenden Monaten zwar keine signifikanten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit erwartet, aber die anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind in Afghanistan immer noch sichtbar. Insbesondere wird erwartet, dass die unterdurchschnittliche Anzahl von Wanderarbeitern im Iran zu unterdurchschnittlichen Überweisungen für ländliche und städtische Haushalte beitragen wird (FEWS NET 1.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die Situation der Ernährungssicherheit hat sich im Vergleich zu den letzten drei Jahren und im Vergleich zu den Prognosen aus früheren Analysen relativ verbessert. Die Verbesserung ist auf die geringeren Auswirkungen von COVID-19 als ursprünglich prognostiziert und die Aufstockung der humanitären Nahrungsmittelhilfe als Reaktion auf die COVID-19-Krise zurückzuführen. Eine erhebliche Aufstockung der humanitären Hilfe seit dem letzten Quartal 2020 hat erheblich dazu beigetragen, die akute Ernährungsunsicherheit in der aktuellen Periode zu mildern, insbesondere in Provinzen, die in der vorherigen Analyse für die aktuelle Periode in Phase 4 prognostiziert wurden. Die Situation der Ernährungssicherheit ist jedoch nach wie vor besorgniserregend und wird sich in der mageren Jahreszeit 2021-2022 voraussichtlich weiter verschlechtern (IPC 22.4.2021).

Die trockenere Witterung hat laut Feldberichten den Weizen in kritischen Blühstadien in tieferen Lagen beeinträchtigt, hauptsächlich in regengespeisten und flussabwärts bewässerten Gebieten. Die Wahrscheinlichkeit einer unterdurchschnittlichen Weizenproduktion ist in den regengespeisten Gebieten der nördlichen, westlichen und einigen nordöstlichen Provinzen höher. Seit Ende Mai 2021 hat die Weizenernte in den tiefer gelegenen Gebieten der östlichen, südlichen und nordöstlichen Provinzen begonnen. Gleichzeitig wurden intensive Konflikte in den südlichen, nordöstlichen und östlichen Provinzen gemeldet, die zu erheblichen Vertreibungen führten und den Zugang zu den Feldern während des Höhepunkts der Erntesaison behinderten (FEWS NET 5.2021).

Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020). Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.7.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).

Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken (Schwörer 30.11.2020).

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (IOM 2020).

Rückkehrende können bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum Spinzar Hotel unterkommen. Die Kosten dafür betragen 1.425 AFN pro Nacht (IOM 2020). Viele Rückkehrer wohnen nach ihrer Ankunft übergangsweise in Teehäusern. Diese waren während des Lockdowns in Afghanistan im März 2020 vorübergehend geschlossen, sind jedoch aktuell wieder geöffnet (Schwörer 30.11.2020).

Arbeitsmarkt

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 10.2020). Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in "prekären Beschäftigungsverhältnissen", mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020). Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; vgl. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten (AAN 3.12.2020), auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (IOM 23.9.2020).

Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich (STDOK 4.2018; vgl. CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (AF 2018).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (CSO 2018; vgl. IOM 18.3.2021). Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (STDOK 4.2018).

Laut dem Afghanistan National Peace and Development Framework (ANPDF) hat die Regierung geplant, sich auf mehrere Sektoren zu konzentrieren, um Arbeitsplätze zu schaffen. Insbesondere konzentriert sie sich auf umfassende Programme zur Entwicklung der Landwirtschaft und des Privatsektors. Laut ANPDF steigt und fällt das afghanische BIP mit der Leistung der Landwirtschaft, die für mindestens 40% der Bevölkerung Arbeitsplätze schafft und einen bedeutenden Anteil der aktuellen Exporte ausmacht (IOM 18.3.2021; vgl. GoIRA 2021).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).

Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrasektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (IOM 18.3.2021).

Wirtschaft und Versorgungslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif

Herat

Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den „bessergestellten“ und „sichereren Provinzen“ Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf (STDOK 13.6.2019). Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat - wie auch in anderen afghanischen Städten - vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihnen abhängigen Personen versorgen. Hinzu kommt, dass Herat als Hotspot für Tagelöhner gilt (AAN 3.12.2020) - die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in Herat sind Tagelöhner, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind (USIP 2.4.2015). Die Verbreitung von Tagelohnarbeit ist zum Teil eine Folge der massiven Bevölkerungsbewegungen - insbesondere des Zustroms von Zehntausenden von Menschen, die vor allem durch den Konflikt zwischen 2012 und 2019 vertrieben wurden. Diese Bevölkerungsbewegungen, insbesondere von Binnenflüchtlingen, haben die Provinz Herat, vor allem ihre Hauptstadt Herat-Stadt, zu einem zunehmend schwierigen Lebens- und Arbeitsraum gemacht (AAN 3.12.2020)

Die Herater Wirtschaft bietet seit langem Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran (GoIRA 2015; vgl. EASO 4.2019, WB/NSIA 9.2018), wie auch Bergbau und Produktion (EASO 4.2019). Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt (GoIRA 2015; vgl. EASO 4.2019). Manche alten Handwerksberufe (Teppichknüpfereien, Glasbläsereien, die Herstellung von Stickereien) haben es geschafft zu überleben, während sich auch bestimmte moderne Industrien entwickelt haben (z.B. Lebensmittelverarbeitung und Verpackung). Die Arbeitsplätze sind allerdings von der volatilen Sicherheitslage bedroht (insbesondere Entführungen von Geschäftsleuten oder deren Angehörigen durch kriminelle Netzwerke, im stillen Einverständnis mit der Polizei). Als weitere Probleme werden Stromknappheit bzw. -ausfälle, Schwierigkeiten, mit iranischen oder anderen ausländischen Importen zu konkurrieren und eine steigende Arbeitslosigkeit genannt (EASO 4.2019).

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage (STDOK 21.7.2020; vgl. GoIRA 2015). Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (GoIRA 2015). Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren (STDOK 21.7.2020; vgl. MIC 2018). Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden (STDOK 21.7.2020).

In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden, wenn finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden (STDOK 21.7.2020).

1.3.3.  Medizinische Versorgung

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück (AA 16.7.2020). In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020).

Im Jahr 2003 richtete das Gesundheitsministerium ein standardisiertes Basispaket an Gesundheitsdiensten (Basic Package of Healthcare Services, BPHS) ein, um die medizinische Grundversorgung und den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten für die gesamte Bevölkerung Afghanistans sicherzustellen. Die Umsetzung des BPHS wurde an Nichtregierungsorganisationen (NGO) vergeben, die in allen Provinzen Afghanistans - mit Ausnahme von drei Provinzen, in denen das MoPH das BPHS direkt umsetzte - medizinisches Personal ausbildeten und grundlegende Gesundheitsdienste anboten. Im Jahr 2005 erweiterte das MoPH das Programm durch die Einführung des Essential Package of Hospital Services (EPHS). Das EPHS ist ein standardisiertes Paket von Krankenhausleistungen für jede Ebene von Krankenhäusern im öffentlichen Sektor (MedCOI 5.2019).

Bislang werden BPHS und EPHS vom MoPH reguliert und an 40 nationale und internationale NGOs in 31 Provinzen ausgelagert. In den verbleibenden drei Provinzen Afghanistans stellt das MoPH das BPHS über eine Contracting-In-Initiative mit dem Titel „Strengthening Mechanism“ direkt bereit (MedCOI 5.2019; vgl. GaH 2016).

Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen (AA 16.7.2020). Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20 (USIP 4.2020).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vgl. EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020).

Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vgl. WHO 4.2018). Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen (AA 16.7.2020). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2020). Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt. Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene (MedCOI 5.2019). Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (AA 16.7.2020). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2020; vgl. WHO 8.2020).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019). Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden (AA 16.7.2020), was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (MedCOI 5.2019).

In einem MoU (Memorandum of Understanding) zwischen dem Gesundheitsministerium und drei indischen Privatunternehmen wurde am 16.6.2020 der Bau von zwei Gesundheitszentren und einer Pharmafabrik in Afghanistan im Wert von 12,5 Mio. $ vereinbart. Außerdem wurden im vergangenen Jahr Vereinbarungen über den Bau eines Gesundheitszentrums in Kabul und 53 Gesundheitszentren in den Provinzen Kandahar und Helmand unterzeichnet. Darüber hinaus hat Aga Khan Health Services (AKHS) als Teilprojekt im Rahmen des nationalen Projekts (SEHATMANDI) im Februar 2019 bis Juni 2021 das Management von Gesundheitseinrichtungen in den Provinzen Bamyan und Badakhshan auf Basis einer leistungsbezogenen Bezahlung übernommen. Im Januar 2019 erhielt das Schwedische Komitee für Afghanistan (SCA) den neuen SEHATMANDI-Vertrag zur Umsetzung der Interventionen Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Health Services (EPHS) in der Provinz Wardak, Afghanistan bis zum 30.6.2021 (RA KBL 20.10.2020).

1.3.4.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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