TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/10 W265 2206556-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.08.2021
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Entscheidungsdatum

10.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W265 2206556-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom 21.08.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. VERFAHRENSGANG:

1. Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 18.09.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Er gab dabei an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Muslim und stamme aus der Provinz Nangarhar. Er sei verheiratet und habe eine Tochter. Er verfüge über keine Schuldbildung, auch über keine Berufsausbildung und sei Analphabet. Er habe fünf Schwestern und vier Brüder. Sein Bruder XXXX lebe seit drei Jahren in Deutschland. Befragt dazu, warum er sein Land verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, dass er hier arbeiten und Geld verdienen wolle. Er sehe in seiner Heimat keine Zukunft. Sonst habe er keine Fluchtgründe.

3. Der Beschwerdeführer reiste am 05.10.2016 nach Frankreich. Dort gab er bei der „individuellen Unterredung“ am 07.11.2016 an, dass er zwei Cousins habe, die in der europäischen Union leben würden. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine gesamte Familie sei in Afghanistan. Von Frankreich wurde er am 12.03.2018 nach Österreich überstellt.

4. Am 12.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Flughafen Wien, im Sondertransit Quartier, niederschriftlich einvernommen. Hier gab er an, dass er ledig sei und am 06.07.1993 geboren worden sei.

5. Am 15.06.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Zulassungsverfahren niederschriftlich einvernommen. Ergänzend gab er an, dass er im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Nangarhar geboren worden und aufgewachsen sei. Er habe dort bis zu seiner Ausreise nach Europa gelebt. Er habe als Kind gemeinsam mit seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen und kein Geld verdient. Die Familie hätte ein Haus und Grundstücke in der Größe von ca. 2-3 Jirib. Er sei verheiratet und habe zwei Töchter. Sie würden bei seinen Eltern im Heimatdorf leben. Er habe zwei Schwestern und einen Bruder. Er habe in Österreich keinen Asylantrag stellen wollen, er habe nach Frankreich reisen wollen.

Er legte zwei Dokumente vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, dass er Afghanistan wegen den Taliban verlassen habe. In seinem Heimatdorf würden die Taliban regieren. Sein Vater habe ihm zuletzt ein Taxi gekauft, damit er die Familie finanziell unterstützen könne. Er habe Personen, teilweise Mitglieder der nationalen Sicherheitskräfte, von seinem Heimatdorf nach XXXX transportiert. Dadurch habe er Probleme mit den Taliban bekommen. Sie hätten ihn geschlagen, belästigt und beschuldigt, dass er ein Spion sei. Er sei auch von ihnen festgenommen worden, später sei er aber wieder freigelassen worden. Seinen Cousin, der ein Soldat der afghanischen Armee gewesen sei, hätten sie mitgenommen. Diesen hätten sie getötet. Sein Onkel und seine Cousins väterlicherseits hätten ihn daraufhin beschuldigt, seinen getöteten Cousin verraten zu haben. Sein Vater habe ihm daher gesagt, dass er flüchten solle, sonst werde er Probleme mit den Taliban und auch mit seinem Onkel väterlicherseits haben. Daraufhin sei er geflüchtet. Die Polizei hätte gesagt, dass sein Onkel ihn überall finden würde und sie nichts dagegen tun könnten. Sein Onkel hätte ihn auch angezeigt. Er sei von seinem Onkel persönlich bedroht worden. Dieser habe zu ihm gesagt, dass er ihn umbringen werde, weil er seinen Sohn umgebracht habe. Sein Onkel würde aber mit der Familie des Beschwerdeführers im gemeinsamen Haus leben. In Afghanistan dürfte man Frauen und Kinder nicht gefährden. Wenn zwei Männer Probleme haben würden, dürften diese Probleme nicht über die Frauen und Kinder ausgetragen werden.

6. Mit Eingabe vom 23.07.2018 verständigte die Staatsanwaltschaft XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln, zu ZI XXXX .

7. Mit Eingabe vom 14.08.2018 meldete die Landespolizeidirektion XXXX den Verdacht des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln, von dessen Verfolgung die Staatsanwaltschaft XXXX später vorläufig zurücktrat, zu ZI XXXX .

8. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 21.08.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei. Die geschilderten Gründe hätten keine Asylrelevanz. Es liege keine Verfolgung aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit, der politischen Überzeugung, des Glaubens oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor. Es sei außerdem nicht glaubhaft, dass er verheiratet sei und Kinder habe. Er sei arbeitsfähig, leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung und habe praktische Berufserfahrung gesammelt. Seine Familie lebe in der Provinz Nangarhar. Die Provinz Nangarhar gelte zwar als unsicher, aber er könne alternativ nach Mazar-e Sharif zurückkehren. Er habe in Afghanistan familiäre Anknüpfungspunkte und könnte daher Unterstützung erhalten.

Ein schützenswertes Privatleben habe er in Österreich nicht. Er gehe keiner Arbeit nach, lebe von Geldern aus öffentlicher Hand und habe keine besonderen sozialen Kontakte. Des Weiteren würden Anzeigen wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung vorliegen.

9. Mit Eingabe vom 22.08.2018 meldete die Landespolizeidirektion XXXX den Verdacht eines weiteren Vergehens wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtmittel, dessen Verfahren später eingestellt wurde, zu ZI XXXX .

10. Gegen den Bescheid vom 21.08.2018 erhob der Beschwerdeführer durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, der Verein für Menschenrechte Österreich, mit Eingabe vom 17.09.2019 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. In dieser brachte er im Wesentlichen vor, dass der Bescheid aufgrund von Verfahrensmängeln und einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung rechtswidrig sei. Das Fluchtvorbringen sei glaubhaft. Der Beschwerdeführer gehöre jener Gruppe von Personen an, die als Zielscheibe der Taliban gelten würden. Er fürchte sich daher wohlbegründet vor einer Verfolgung in Afghanistan. Des Weiteren sei nicht berücksichtigte worden, dass der Beschwerdeführer keinerlei familiäre oder soziale Bezugspunkte in Mazar-e Sharif habe, sodass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Alleine der Aufenthalt in Europa stelle eine Gefährdung für ihn dar, da er in Afghanistan keine richtigen Sozialbindungen hätte. Die Mietpreise würden sich erhöhen, es sei schwierig Arbeit zu finden und die Sicherheitslage sei nach wie vor in ganz Afghanistan volatil.

Er beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

11. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 20.09.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 26.09.2018 einlangten (vgl. OZ 1).

12. Am 16.11.2018 reichte die belangte Behörde eine Meldung der Landespolizeidirektion XXXX über eine Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Vergehens der Körperverletzung am 14.09.2018 nach (vgl. OZ 5).

13. Mit Eingabe vom 12.03.2019 reichte die belangte Behörde die Meldung der Landespolizeidirektion XXXX über eine weitere Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Vergehens der Körperverletzung am 05.02.2019 nach (vgl. OZ 6).

14. Mit Eingabe vom 12.04.2019 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX über die Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmittel, zu ZI XXXX , und wegen des Vergehens der Körperverletzung, zu ZI XXXX , nach (vgl. OZ 8).

15. Mit Eingabe vom 28.08.2019 reichte die belangte Behörde das Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 18.07.2019, zu ZI XXXX , nach, wonach der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt wurde, welche, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, bedingt nachgesehen wurde. Von einem Widerruf der bedingten Strafnachsicht zum Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 16.01.2019, ZI XXXX , wurde abgesehen. (vgl. OZ 11)

16. Mit Eingabe vom 10.10.2019 reichte die belangte Behörde den Bericht der Landespolizeidirektion XXXX über die Anzeige des Beschwerdeführers wegen des Verdachts des unerlaubten Umgangs mit Suchtmittel am 22.09.2019, nach (vgl. OZ 13).

17. Mit Eingabe vom 06.11.2019 reichte die belangte Behörde die Meldung der Landespolizeidirektion XXXX über die Anzeige des Beschwerdeführers wegen des Verdachts des Sozialleistungsbetruges am 01.10.2019, nach (vgl. OZ 14).

18. Mit Eingabe vom 24.04.2020 reichte die belangte Behörde das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 26.02.2020, ZI XXXX , nach, wonach der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt wurde, welche, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, bedingt nachgesehen wurde. Von einem Widerruf der bedingten Strafnachsichten zu den Urteilen des Landesgerichts XXXX vom 16.01.2019, ZI XXXX , und des Bezirksgerichts XXXX vom 18.07.2019, ZI XXXX , wurde abgesehen. (vgl. OZ 15).

19. Mit Eingabe vom 06.05.2021 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX über die Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der Sachbeschädigung am 03.03.2021 nach (vgl. OZ 17 und 18).

20. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W166 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 neu zugewiesen, wo diese am 07.07.2021 einlangte (vgl. OZ 19).

21. Mit Eingabe vom 15.07.2021 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX über den endgültigen Rücktritt von der Verfolgung bezüglich ZI XXXX wegen des Verdachts des unerlaubten Umgangs mit Suchtmittel nach (vgl. OZ 22).

22. Mit Eingabe vom 21.07.2021 gab der Beschwerdeführer seine neue bevollmächtigte Vertretung, die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, bekannt (vgl. OZ 23).

23. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 02.08.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Der Behörde wurde das Verhandlungsprotokoll übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor. Dem Beschwerdeführer wurde eine einwöchige Frist zur Stellungnahme bezüglich der in der Verhandlung vorgelegten Unterlagen gegeben. Der Beschwerdeführer gab durch seine bevollmächtigte Vertretung eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderinformationen ab. Dazu führte er im Wesentlichen aus, dass dem Beschwerdeführer asylrelevante Verfolgung drohe und eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sei. Nach dem UNHCR „Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan“ vom November 2018 müssten längerfristige Folgen der Gewalt berücksichtigt werden. Durch den Abzug der Truppen sei die Instabilität des bewaffneten Konflikts in Afghanistan wesentlich erhöht. Das Land drohe unter die Kontrolle der Taliban zu fallen. Vor einer Verfolgung würde der Beschwerdeführer an keinem Ort mehr Schutz finden. In der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021 hätten die Taliban weitere Distrikte in den Provinzen Herat und Balkh übernommen. Dies bedeute, dass die Taliban insbesondere in den Gebieten erstarkt seien, die sich in räumlicher Nähe zu den Städten befinden würden, die als mögliche innerstaatliche Fluchtalternative in Frage kommen würden. Laut den Medien würden die Taliban bereits 85 % des Landes kontrollieren. Die Taliban seien mittlerweile militärisch bis nach Mazar-e Sharif vorgestoßen und sie würden sich in den Außenbezirken von Herat Gefechte mit den Sicherheitskräften liefern. Laut dem Länderinformationsblatt hätten mit April bzw. Mai 2021 die Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den Regierungstruppen stark zugenommen. Amnesty International und die afghanische Regierung würden von Europa einen Abschiebestopp nach Afghanistan fordern. Finnland und Schweden hätten bereits die Abschiebungen nach Afghanistan gestoppt. (vgl. OZ 25)

Er legte Integrationsunterlagen und Fotos vor.

II. DAS BUNDESVERWALTUNGSGERICHT HAT ERWOGEN:

1. FESTSTELLUNGEN:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und den Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, zu seiner Ausreise aus Afghanistan und zu seinem gesundheitlichen Zustand:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu.

Es kann nicht festgestellt werden, dass er verheiratet ist und Kinder hat.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar. Dort lebte er bis zu seiner Ausreise nach Europa. Er besuchte acht Jahre die Schule in seinem Heimatdorf, war aber trotzdem Analphabet bei seiner Einreise nach Österreich. Er arbeitete in der Landwirtschaft seines Vaters und später als Taxifahrer. Sein Vater besitzt Grundstücke im Heimatdorf.

Seine Eltern und Geschwister leben im Heimatdorf. Es kann jedoch nicht festgestellt werden, wie viele Geschwister er hat. Er hat Kontakt zu seinem ältesten Bruder. Er hat einen Onkel väterlicherseits im Heimatdorf, sein Onkel mütterlicherseits ist bereits verstorben.

Er hat Verwandte in Deutschland, es kann jedoch nicht festgestellt werden, welche Verwandte dort leben.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder Verfolgung durch seinen Onkel noch durch die Taliban.

Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls die Möglichkeit, in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und zu leben.

1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und ist seit seiner Antragstellung am 18.09.2016 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Am 05.10.2016 reiste er nach Frankreich. Von Frankreich wurde er am 12.03.2018 nach Österreich überstellt.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich von 28.01.2020 bis 26.05.2020 einen Deutschkurs an der Volkshochschule in XXXX , er legte jedoch keine Prüfungen ab. Er verfügt über sehr eingeschränkte Deutschkenntnisse.

Er lebt seit 31.12.2019 in der Betreuung des Roten Kreuzes in XXXX , wo er den Quartiergeber im XXXX in XXXX unterstützte.

Ansonsten leistete er keine ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Er verfügt über eine Einstellungszusage von der XXXX in XXXX vom 28.07.2021, als Arbeiter für den Bereich Abbruch und Entsorgung, im Ausmaß von 40 Stunden in der Woche mit einem Netto Gehalt von € 1.400,-. Er arbeitet dort bereits als geringfügig Beschäftigter seit 20.05.2021.

In seiner Freizeit geht er ins Fitnessstudio.

Er hat keine Verwandten im österreichischen Bundesgebiet.

Er wird von Bekannten und Betreuern als pünktlich, fleißig, verlässlich, motiviert, ehrgeizig, lustig, kontaktfreudig, freundlich, hilfsbereit, gewissenhaft, schweigsam und passiv beschrieben.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Bei ihm handelt es sich um einen jungen Mann im arbeitsfähigen Alter, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 16.01.2019, rechtskräftig seit 22.01.2019, zu ZI XXXX , wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmittel zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

Er wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 18.07.2019, rechtskräftig seit 23.07.2019, zu ZI XXXX , wegen des Vergehens Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

Er wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 24.05.2019, rechtskräftig seit 05.02.2020, zu ZI XXXX , wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmittel zu einer Zusatzstrafe von drei Monaten, unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 16.01.2019, rechtskräftig seit 22.01.2019, zu ZI XXXX , welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

Er wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 26.02.2020, rechtskräftig seit 03.03.2020, zu ZI XXXX , wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

Des Weiteren wurde er wegen des Verdachts des Vergehens der Sachbeschädigung am 03.03.2021 von der Staatsanwaltschaft XXXX angeklagt.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Nangarhar in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer steht jedoch als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm auch unter Berücksichtigung der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können, zu leben. Die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, besteht nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Er ist im afghanischen Familienverband aufgewachsen, sohin mit den sozialen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut, spricht einer der Landessprachen (Paschtu) und verfügt über eine achtjährige Schulbildung und Arbeitserfahrung als Arbeiter in der Landwirtschaft und als Taxifahrer in Afghanistan sowie über Arbeitserfahrung als Arbeiter im Bereich Abbruch und Entsorgung in Österreich, welche er bei einem Leben in Mazar-e Sharif nutzen wird können.

Festgestellt wird, dass auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einer relevanten physischen Vorerkrankung keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 4 samt Kurzinformation vom 19.07.2021 (LIB)

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 04.08.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 04.08.2021 (WHO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Landinfo Report Afghanistan vom 29.06.2017: „Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“

-        Landinfo Report Afghanistan vom 23.08.2017: Organisation und Struktur der Taliban

1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage (LIB)

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht.

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt.

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte. Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden.

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak.

Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt.

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen.

Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen.

Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan.

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage (LIB)

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft.

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt.

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte.

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner.

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen.

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.

Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken.

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen.

Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch.

Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet.

1.5.3. Medizinische Versorgung (LIB)

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20.

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren.

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt, Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund zehn Mio. Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung.

Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung.

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden, was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen.

Nur eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen.

Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar, und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf.

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall. Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert.

1.5.4. Ethnische Gruppen (LIB)

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet.

1.5.5. Religionen (LIB)

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden.

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage (LIB)

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2020 gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog.

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, die glaubwürdige Beschwerden überprüft und an die Generalstaatsanwaltschaft zur weiteren Untersuchung und Strafverfolgung weiterleitet. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte; das Komitee für Drogenbekämpfung, Rauschmittel und ethischen Missbrauch sowie der Justiz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss.

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten.

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Die Regierung erzielt Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumt es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen.

Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus.

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen. Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, hat die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen von 54 auf 14 Delikte reduziert. Vorgesehen ist die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt. Sie wird durch Erhängen ausgeführt. Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch sog. „Zina“, Straßenraub). In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können.

Im zweiten Jahr in Folge wurden 2020 in Afghanistan keine Hinrichtungen verzeichnet. Im Rahmen der Vorbereitungen für die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ließen die Behörden ab August 2020 156 zum Tode verurteilte Gefangene frei. Amnesty International verzeichnete Berichte über vier neue Todesurteile, die im März 2021 wegen Entführung und Mordes verhängt wurden, es wurden jedoch keine offiziellen Zahlen genannt. Mit Stand Juli 2020 waren in Afghanistan etwa 700 Menschen zum Tode verurteilt.

1.5.7. Bewegungsfreiheit, Meldewesen und Dokumente (LIB)

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen [Anm.: siehe dazu auch Artikel 39 der afghanischen Verfassung]. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein.

Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangarhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr.

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten.

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig 'gelbe Seiten' oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten.

Da es in der Vergangenheit zu Fällen kam, bei denen Wohnungen zur Vorbereitung von terroristischen oder kriminellen Taten verwendet wurden, müssen nun insbesondere in Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif unter Umständen beispielsweise im Stadtzentrum gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass sich Mieter wie auch Vermieter beim Abschluss einer Mietvereinbarung mit einem Identitätsnachweis ausweisen, was jedoch nicht immer eingehalten wird. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potenziellen Mieter ab.

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf und stellt aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden werden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor Sämtliche Urkunden in Afghanistan sind problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhältlich.

Des Weiteren kommen verfahrensangepasste Dokumente häufig vor. Im Visumverfahren werden teilweise gefälschte Einladungen oder Arbeitsbescheinigungen vorgelegt. Medienberichten zufolge sollen insbesondere seit den Parlamentswahlen 2018 zahlreiche gefälschte Tazkira [Anm.: nationale Personalausweise] im Rahmen der Wählerregistrierung in Umlauf sein. Personenstands- und weitere von Gerichten ausgestellte Urkunden werden zentral vom Afghan State Printing House (SUKUK) ausgestellt.

Auf Grundlage bestimmter Informationen können echte Dokumente ausgestellt werden. Dafür notwendige unterstützende Formen der Dokumentation wie etwa Schul-, Studien- oder Bankunterlagen können leicht gefälscht werden. Dieser Faktor stellt sich besonders problematisch dar, wenn es sich bei dem primären Dokument um eine Tazkira handelt, welches zur Erlangung anderer Formen der Identifizierung verwendet wird. Es besteht ein Risiko, dass echte, aber betrügerisch erworbene Tazkira zur Erlangung von Reisepässen verwendet werden.

1.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen (LIB)

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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