TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 W178 2201172-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W178 2201172-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr.in Maria PARZER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX .1994, StA. AFGHANISTAN, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, ohne Zustellvollmacht, gegen den Bescheid des BFA, RD Wien, Außenstelle Wien (BFA-W-ASt-Wien) vom 19.06.2018, Zl. 1121071301-160918407, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.07.2021, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde gegen den Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird Herrn XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 11.08.2022 erteilt.

IV.      Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden Bf) ist nach Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet eingereist. Er stellte am 01.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei, in Kabul geboren und in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , aufgewachsen sei, der Volksgruppe der Paschtunen angehöre, mit sunnitischem Religionsbekenntnis. Er sei 12 Jahre zur Schule gegangen und habe auch in der elterlichen Landwirtschaft gearbeitet. Er habe Afghanistan aus Angst vor den Taliban verlassen, diese hätten von seinem Vater verlangt, dass der Bf mit ihnen in den Krieg ziehe. Weiters lebe seine Ehefrau in Österreich und er wolle mit ihr gemeinsam leben.

2. Am 05.08.2016 und 14.11.2016 wurden dem BFA unter anderem zwei Meldezettel (des Bf und seiner Gattin an gemeinsamer Adresse), ein Ehevertrag des islamischen Zentrum Wien vom 14.07.2016 und ein Schreiben zur traditionellen Hochzeit am 03.04.2015 vorgelegt.

3. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens wurde der Bf am 04.01.2016 [sic], richtig wohl 2017, beim BFA, Erstaufnahmestelle Ost, Traiskirchen, einvernommen. Auf Vorhalt, dass der für die Zeit vom 22.06.2016 bis 13.07.2016 ein deutsches Visum besitze, gab der Bf an, dass er davon nichts wisse und bloß in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Seine Gattin XXXX lebe in Österreich, dies sei immer sein Zielland gewesen.

4. Mit Bescheid vom 12.02.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen und die Zuständigkeit von Deutschland festgestellt (Pkt. I). Gemäß § 61 Abs. 1 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) wurde die Außerlandesbringung angeordnet und die Abschiebung des Bf nach Deutschland für zulässig erklärt (Pkt. II).

5. Am 14.08.2017 erging ein Aktenvermerk des BFA, Erstaufnahmestelle Ost, an das BFA, Regionaldirektion Wien, welcher die Zulassung des Verfahrens in Österreich bestätigt. Der vorherige Bescheid sei zwecks Zustellung an die Polizeiinspektion Hohenbergstraße übermittelt worden, dort aber nie angekommen. Er gelte somit als nicht zugestellt. Da die Überstellungsfrist nach Deutschland am 12.03.2017 ebenso abgelaufen sei, erfolge nunmehr die Zulassung zum Verfahren in Österreich.

6. Am 07.06.2018 wurde der Bf beim BFA, Regionaldirektion Wien, einvernommen und gab dort an, dass er in der Stadt Kabul geboren worden sei und in der Provinz Maidan Wardak („Dorf Sangemarmar Kahroti“) gewohnt habe. Zu seinen Fluchtgründen gab er erstens an, dass seine in Österreich asylberechtigte Ehefrau, die er traditionell nach islamischem Recht geheiratet habe, hier sei. Zweitens würden die Taliban wollen, dass er mit ihnen in den Kampf ziehe. Da sein Vater und er nicht mit denen arbeiten möchten, sei er weggeschickt worden. Er gelte nun für die Taliban als Ungläubiger und sie hätten seinem Vater gesagt, dass sie ihn töten werden, wenn sie ihn erwischen.

Zu seinem Leben in Österreich gab er an, dass er räumlich nicht mehr mit seiner Ehefrau zusammenlebe und legte unter anderem Teilnahmebestätigungen von Deutschkursen und ein ÖSD Zertifikat A1 („sehr gut bestanden“) vom 16.03.2018 vor.

7. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19.06.2018 wurde dem Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten keine Folge gegeben (Pkt. I) und der Antrag wurde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Pkt. II). Weiters wurde ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz nicht erteilt (Pkt. III) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 Asylgesetz i.V.m. § 9 BFA-VG gegen den Bf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Pkt. IV) und festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Pkt. V). Es wurde unter Punkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen festgesetzt.
Das BFA hat im Wesentlichen zur Begründung angeführt, dass der Bf nicht glaubhaft habe machen können, dass er einer Gefährdung oder Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt sei. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass er aufgrund seiner hier lebenden Ehefrau gekommen sei. Eine Rückkehr in die Heimatprovinz Maidan Wardak sei möglich, diese gehöre zu den relativ sicheren Provinzen. Er sei gesund, arbeitsfähig und verfüge über enge familiäre Kontakte in Afghanistan, auf die er zurückgreifen könne.

8. Dagegen wurde Beschwerde eingebracht. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es dem BFA nicht gelungen sei, die Glaubwürdigkeit des Bf und die Asylrelevanz der Fluchtgründe zu widerlegen. Allenfalls wäre dem Bf aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage im Inland und der daraus entstehenden Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Falle der Rückkehr subsidiärer Schutz zu gewähren. Das Verfahren sei sowohl im Hinblick auf das Ermittlungsverfahren als auch die Beweiswürdigung mangelhaft geblieben, auch die rechtliche Beurteilung sei unrichtig. Die belangte Behörde habe sich mit der konkreten Situation des Bf nicht auseinandergesetzt und etwa die Gefahr der Zwangsrekrutierung und das aufrechte Familienleben in Österreich nicht entsprechend gewürdigt.

9. Am 23.10.2018 wurden von der rechtsfreundlichen Vertretung des Bf Unterlagen zur Integration vorgelegt, darunter etwa das ÖSD Zertifikat A2 („sehr gut bestanden“) vom 11.07.2018, das ÖSD Zeugnis zur Integrationsprüfung Niveau B1 vom 29.09.2018, diverse Teilnahmebestätigungen an Kursen und einen Tätigkeitsnachweis als ehrenamtlicher Mitarbeiter für das Österreichische Rote Kreuz vom September 2018.

10. Am 29.06.2021 wurde der Bf, die Zeugin XXXX , ein Dolmetscher für die Sprache Pashtu und die belangte Behörde zur mündlichen Verhandlung vor dem BVwG geladen. Die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen wurde ebenfalls informiert.

11. Am 27.07.2021 teilte Frau XXXX mit, dass sie seit 2018 keinen Kontakt mehr zum Bf habe und ersucht das Gericht von der Ladung als Zeugin Abstand zu nehmen, was gewährt wurde. Sie übermittelte unter anderem eine Scheidungsurkunde des Islamischen Zentrum Wien vom 17.02.2021 und ein Protokoll des Bezirksgerichts Meidling vom 13.11.2018, welches mitteilt, dass nie eine nach österreichischem Recht gültige Eheschließung zwischen ihr und dem Bf stattgefunden habe.

12. Am 28.07.2021 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt. Der Bf wurde im Beisein seiner rechtlichen Vertretung und mehrerer Vertrauenspersonen einvernommen. Es wurden umfangreiche Unterlagen zur Fragen der Integration und eine psychotherapeutische Stellungnahme von Annette Bullig-Wenzl, MSc, vom 08.07.2021 vorgebracht. Weiters wurde schriftlich zu den aktuellen Länderberichten der Staatendokumentation und zur Lage in Afghanistan Stellung genommen.

13. Am 01.08.2021 wurde von der rechtfreundlichen Vertretung des Bf eine ergänzende Stellungnahme hinsichtlich einer landesweiten Gefährdung durch die Taliban und dem Nichtbestehen einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative, insbesondere auch nicht in der Stadt Herat, eingebracht und auf entsprechende Berichte verwiesen, https://www.longwarjournal.org/archives/2021/07/taliban-advances-on-herat-city.php, https://www.tagesschau.de/ausland/taliban-afghanistan-115.html, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/31/afghanistans-herat-under-pressure-amid-ongoing-taliban-assault.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zum Beschwerdeführer

Der Beschwerdeführer (in der Folge: Bf) heißt XXXX , geboren am XXXX .1994, StA Afghanistan, und stellte am 01.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, mit sunnitischem Religionsbekenntnis, seine Muttersprache ist Paschtu. Sein Geburtsort ist Kabul, er ist in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX , im Dorf XXXX aufgewachsen. Nach dem Schulbesuch in Kabul ist er in sein Heimatdorf zurückgekehrt und hat dort bis zu seiner Ausreise gewohnt.

Er ist in seiner Muttersprache kein Analphabet, hat einen afghanischen Matura- und einen österreichischen Pflichtschulabschluss.

Der Vater des Bf ist Landwirt und verfügt über eigene Grundstücke, die Familie gehört im Heimatdorf der finanziellen Mittelschicht an. Der Bf hat noch zwei Schwestern, die nach wie vor mit den Eltern in Afghanistan leben. Der Bf kann auf ein familiäres Netz im Herkunftsstaat zurückgreifen, seine ursprüngliche Heimatprovinz, in welcher sich seine Familie aufhält, ist jedoch nicht sicher für eine Rückkehr, vgl. 1.3.1.

Der Bf ist physisch gesund, aber leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen; F33.30) und einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1). Er ist seit Jänner 2021 laufend in psychotherapeutischer Behandlung, vgl. Psychotherapeutische Stellungnahme von Annette Bullig-Wenzl, MSc, Therapiezentrum Rosensteingasse, vom 08.07.2021.

Weiters leidet er unter Schlaflosigkeit und nimmt unregelmäßig das Medikament Trittico ein. Nach Aussage des Bf in der mündlichen Verhandlung am 28.07.2021 leidet er zwar nicht an Selbstmordgedanken, er trinkt aber Alkohol und fügt sich selbst Schnittverletzungen auf der Hand zu (vgl. VHS S 9).

Der Bf ist in Afghanistan nicht in der Lage, die notwendige Therapie zu erhalten (vgl. 1.3.2 und 1.3.9), er braucht eine regelmäßige psychotherapeutische Betreuung (wöchentlich).

Der Bf konnte mehrere Deutschprüfungen ablegen und hat am 15.01.2021 die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden. Er hat sich einen umfassenden Kreis an Unterstützer und Unterstützerinnen geschaffen und ist Mitglied in einem Snooker-Verein. Entsprechende Zeugnisse, Empfehlungsschreiben und Bestätigungen wurden vorgelegt.

Der Bf ist, entsprechend seiner psychischen Probleme, unter geschützten Bedingungen arbeitsfähig und zeigt dies auch durch regelmäßige ehrenamtliche Tätigkeiten, die der sozialen und ausgleichenden Persönlichkeit des Bf entgegenkommen. Er ist in der Lage ab September 2021 den Brückenlehrgang für technische Fachrichtungen des Berufspädagogischen Instituts Mödling zu besuchen, vgl. diverse Arbeitsbestätigungen und Zusicherung des Teilnahmeplatzes, vorbehaltlich des Zustandekommens des Lehrgangs, vom 03.03.2021.

Der Bf ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2 Zu den Fluchtgründen

Der Bf hat sich in den Einvernahmen allgemein auf die schlechte Sicherheitslage im Herkunftsstaat, die drohende Zwangsrekrutierung durch die Taliban, sowie das Zusammenleben mit seiner nach islamischem Recht vermählten Gattin in Österreich berufen.

Letzter Grund ist nicht mehr aktuell, der Bf beruft sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht mehr darauf: Das Paar lebt seit 2018 getrennt und ist seit 17.02.2021 auch nach islamischem Recht geschieden, vgl. oben 1.1. Er hat in Österreich keine familiären Beziehungen.

Es wird weiters festgestellt, dass der Bf in Afghanistan niemals persönlich von den Taliban verfolgt oder bedroht worden ist. Sonstige aktuelle Fluchtgründe konnten ebenfalls nicht festgestellt werden.

1.3 Länderfeststellungen

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung, Stand Juni 2021 (LIB)

-        BFA Staatendokumentation: Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, 19.07.2021 und vom 02.08.2021

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Scharif vom 16.10.2020

-        Stahlmann, Friederike: Erfahrungen und Perspektiven Abgeschobener Afghanen. Im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021

-        Long War Journal (LWJ), Taliban advances on Herat City, Online-Artikel vom 30.07.2021 (https://www.longwarjournal.org/archives/2021/07/taliban-advances-on-herat-city.php, abgerufen am 02.08.2021)

-        https://www.tagesschau.de/ausland/taliban-afghanistan-115.html (vom 01.08.2021, abgerufen am 10.08.2021)

-        https://www.aljazeera.com/news/2021/7/31/afghanistans-herat-under-pressure-amid-ongoing-taliban-assault (abgerufen am 02.08.2021)

-         Einzelne Medienberichte: Kämpfe in wichtigen afghanischen Provinzhauptstädten - news.ORF.at, darunter Herat (vom 31.07.2021, abgerufen am 02.08.2021);

-        Nachrichtenagentur pajhwok 03.08.2021, Helmand: ‘Ariana Hospital bombed based on wrong coordinates’ , vgl. https://factcheck.pajhwok.com/ (abgerufen am 10.08.2021)

-        Nachrichtenagentur pajhwok, 03.08.2021: Conflict displaces 5000 more families in Helmand – Pajhwok Afghan News, vgl. https://pajhwok.com/ (abgerufen am 10.08.2021)

-        Taliban in Afghanistan auf dem Vormarsch - Aktuell nach eins vom 05.08.2021 um 13:15 Uhr – ORF-TVthek EGMR App.nr. 38335/21 R.A. v. Austria vom 02.08.2021 zur Frage einer Einstweiligen Verfügung (decision on interim measure); veröffentlicht am 03.08.2021 unter: https://deserteursberatung.at/ (abgerufen am 10.08.2021)

-        Hinweis auf den Inhalt: Artikel Zeitung „Standard“ vom 04.08.2021: Worum es beim Abschiebestopp durch den EGMR geht - Recht - derStandard.at › Recht (abgerufen am 10.08.2021)

-        Mehrere Auszüge aus: Voice of Jihad, http://alemarahenglish.net/, official website of Islamic Emirate of Afghanistan, Berichte vom 04.08.2021, 06.08.2021 und 08.08.2021

1.3.1 Sicherheitslage in Afghanistan

1.3.1.1 Kurzinformation der Staatendokumentation zur Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan vom 02.08.2021

„Kommentar: Die hier angeführten Informationen verstehen sich als Ergänzung zu den Länderinformationen aus dem Country of Origin - Content Management System (COICMS) - Afghanistan, Version 4 - und können nicht unabhängig von diesen verwendet werden. Diese Kurzinformation gilt bis zum Erscheinen der nächsten Version im COICMS.

Aufgrund der sich laufenden ändernden Situation ist es mit dem COI-CMS allein (rund 400 Distrikte auf über 200 Seiten) nicht mehr möglich eine adäquate und zeitnahe Aufbereitung der benötigten Informationen zu gewährleisten.

Quellenbeschreibung ACLED und LWJ

ACLED erfasst sicherheitsrelevante Vorfälle und Todesopfer mittels Medienbeobachtung, d.h. es werden online verfügbare Nachrichtenberichte über sicherheitsrelevante Vorfälle gesammelt und die relevanten Ereignisse anhand eines vorgegebenen Codierschemas in den Vorfallsdatensatz aufgenommen (ACLED 3.2020). ACLED empfiehlt mit Stand Februar 2021, die Daten zur Gewalt bzw. zu den Todesopfern in Afghanistan in den Jahren 2019 und 2020 nicht miteinander zu vergleichen, da ein Wandel in der Berichtspraxis der Taliban (bzw.von Voice of Jihad) und der afghanischen Regierung (bzw. dem afghanischen Verteidigungsministerium) zum Anschein einer Gewaltreduktion beigetragen haben könnte. ACLED überprüft derzeit Veränderungen in der Berichterstattung und ergänzt die Daten durch weitere Quellen (ACLED o.D.).

Longwarjournal (LWJ) erstellt anhand von frei zugänglichen Informationen, wie z. B. Presseberichten und Informationen von Regierungsbehörden und den Taliban Karten zur Gebietskontrolle in Afghanistan, welche laufend aktualisiert werden. LWJ definiert einen Distrikt als unter Talibankontrolle stehend, wenn: 1.) die Taliban einen Distrikt offen verwalten, Dienstleistungen und Sicherheit bereitstellen und auch die örtlichen Gerichte leiten, 2.) wenn das Distriktzentrum häufig den Besitzer wechselt und/oder die Regierung nur einige wenige Gebäude oder Dörfer im Distrikt kontrolliert. Als „umkämpft“ gilt ein Distrikt, wenn: 1.) die Regierung das Distriktzentrum, Gebäude innerhalb des Distriktzentrums oder einen Stützpunkt, aber wenig anderes kontrolliert, während die Taliban große Gebiete oder alle Gebiete außerhalb des Distriktzentrums kontrollieren, oder 2.) die Taliban mehrere Dörfer, Minen und andere Ressourcen kontrollieren, Gefängnisse im Distrikt betreiben oder Bereiche des Distrikts verwalten (LWJ 13.7.2021).

XXXX

Sicherheitslage und Gebietskontrolle

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021).

Zur „Abbildung der Gebietskontrolle Taliban: Entwicklung im Zeitraum 13.07.2021 - 26.07.2021 (Daten und Darstellung von Long War Journal)“:

Das Dokument ist unter www.ecoi.net einsehbar. Da es sich um ein Video handelt, kann hier nur der Link wiedergegeben werden:

Mapping Taliban Contested and Controlled Districts in Afghanistan | FDD's Long War Journal

Quelle: Long War Journal 2.8.2021

Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistans.

Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli/Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021).

Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).

Zivile Opfer und Fluchtbewegungen

Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021).

Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.7.2021).

UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021).

Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.7.2021).

Weitere Entwicklungen

Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.7.2021).

Die afghanische Regierung hat am 25.7.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern.

Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 (BBC 25.7.2021; vgl. TG 24.7.2021).

In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.7.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.7.2021; vgl. VOA 9.7.2021).

Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.7.2021 geschlossen (BAMF 19.7.2021; AAN 25.7.2021). Nach Angaben der für das Gesundheits- und Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.7.2021).

Mit 2.8.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 2.8.2021).“

1.3.1.2 Weiterer Auszug aus dem Long War Journal (LWJ: Half of Afghanistan’s provincial capitals under threat from Taliban, July, 15, 2021, abgerufen am 02.08.2021 unter: https://www.longwarjournal.org/archives/2021/07/nearly-half-of-afghanistans-provincial-capitals-under-threat-from-taliban.php)

1.3.1.3. Sicherheitslage und Gebietskontrolle durch die Taliban – Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021

„Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor (s. Abb., Anm.; ACLED o.D.) […]

Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte (LWJ 13.7.2021). Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden (AAN 16.7.2021; vgl. REU 8.7.2021) […]

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat (BBC 10.7.2021; vgl. DW 14.7.2021, TN 13.7.2021) sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh (AJ 15.7.2021; vgl. AP 15.7.2021), wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak (Dawn 18.7.2021; vgl. France 24 17.7.2021).

Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden (BBC 10.7.2021; vgl. RFE/RL 7.7.2021). Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (RFE/RL 11.7.2021).

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen (WH 19.7.2021).

Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben (RFE/RL 11.7.2021, BBC 10.7.2021, AJ 2.7.2021).

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (AI 16.6.2021). So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams ( APN 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 2.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021)

COVID-19

Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die Covid-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln (DW 17.6.2021; vgl. USAID 11.6.2021) Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff (USAID 11.6.2021). Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021) und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021).

Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4% der Bevölkerung sind geimpft (UNICEF 9.7.2021).“

1.3.1.4 Sicherheitslage in (Maidan) Wardak – LIB, letzte Änderung: 10.06.2021

„Die Provinz Wardak, auch bekannt als Maidan Wardak, grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni (UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Wardak 2019, UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinzhauptstadt Maidan Shahr befindet sich etwa 40-50 Kilometer südwestlich von Kabul (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. ARTE 3.4.2020).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Wardak im Zeitraum 2020/21 auf 637.634 Personen (NSIA 1.6.2020). Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. NPS Wardak o.D.).

Wardak ist aufgrund seiner strategischen Position, der Nähe zu Kabul und der Lage an wichtigen Fernstraßen eine bedeutsame Provinz (ARN 23.6.2019). Der Highway Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad (UNOCHA Wardak 4.2014). Die Taliban richten gelegentlich Kontrollpunkte an Abschnitt dieser Fernstraße in der Provinz Wardak ein (AVA 1.10.2019; vgl. UNSG 7.12.2018; vgl. PAJ 27.10.2018; AP 7.10.2018).

Eine weitere wichtige Straße führt von Maidan Shahr durch die Distrikte Jalrez, Hissa-e-Awali Behsud, Markaz-e Behsud zum Haji-gak-Pass und weiter nach Bamyan (UNOCHA Wardak 4.2014; vgl. AAN 16.12.2019). Der Abschnitt im Distrikt Jalrez befindet sich unter Kontrolle der Taliban (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019). Die Taliban betreiben entlang dieser Straße Kontrollpunkte und heben Steuern ein (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019, PAJ 5.11.2018) und es sind Fälle dokumentiert, dass Durchreisende entführt oder getötet wurden (KNow 25.8.2019; vgl. DA 11.6.2019, RY 2.6.2019); vorwiegend Hazara (KNow 25.8.2019).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Wardak ist eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert (WP 10.8.2020; vgl. PBS 31.12.2019). Das Machtgleichgewicht in der Provinz Wardak blieb über Jahre hinweg relativ stabil (WP 10.8.2020). Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert (KP 19.7.2019; vgl. KP 2.7.2019; DA 11.6.2019) und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Wardak zugenommen (WP 10.8.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Daimir Dad, Nerkh, Jalrez und Sayyid Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Chak-e-Wardak, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu und Maidan Shahr umkämpft sind (LWJ o.D.).

Migrationen von Kuchi-Nomaden führen regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgrund von Landstreitigkeiten in den überwiegend von Hazara bewohnten Distrikten Hesa-i Awal-e Behsud, Markaz-e Behsud und Daymirdad in Wardak (ACCORD 6.8.2019; vgl. Giustozzi 10.2019, TN 8.7.2020, EASO 9.2020). Als sich die Spannungen zwischen den Kuchi-Nomaden und den lokalen Hazara-Bewohnern im Jahr 2015 verschärften, wurde von dem Hazara-Kommandanten Abdul Ghani Alipur eine Volksaufstandstruppe, die sogenannte Widerstandsfront [Anm.: Behsud Resistance Front (Jabha-ye Moqawamat)], gegründet. Im November 2018 wurde Alipur vom afghanischen Geheimdienst unter dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen und Korruption verhaftet. Seiner Milizgruppe wurde vorgeworfen, Sicherheitskräfte angegriffen zu haben (TN 27.11.2018a, vgl. EASO 9.2020) sowie paschtunische Fahrgäste auf der Schnellstraße zwischen Maydan Shar und Jalrez erpresst, belästigt und entführt zu haben, angeblich als Vergeltung für Angriffe auf Hazara (TN 27.11.2018b; vgl. AAN 16.12.2019, EASO 9.2020). Seine Unterstützer behaupteten, Alipur hätte gegen die Taliban gekämpft (TN 26.11.2018). Nachdem in mehreren Teilen des Landes gewaltsame Hazara-Proteste ausgebrochen waren, wurde Alipur aus der NDS-Haft entlassen (RFE/RL 26.11.2018; vgl. EASO 9.2020). Im Juni 2020 wurden Berichten zufolge Dutzende von Straßenbauarbeitern von bewaffneten Männern der Hazara- Miliz von Alipur entführt und misshandelt (PAJ 23.6.2020; vgl. EASO 9.2020), und es wurde über die Tötung von mehr als einem Dutzend Menschen aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern und Kuchi-Nomaden berichtet (TN 25.6.2020; vgl. EASO 9.2020).

Polizisten, die an den Außenposten an der Grenze zwischen Regierungskontrolle und Taliban-Einfluss stationiert sind, berichtet über häufige Angriffe der Aufständischen. In Distrikten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, berichten Zivilisten von einem verstärkten Einsatz von Artillerie durch Regierungseinheiten (WP 10.8.2020). Auch im volatilen Distrikt Sayyid Abad gab es in den letzten Jahren fast täglich Kämpfe zwischen Regierungskräften und Taliban. Dort wurden, laut Angaben der Bewohner, durch Sicherheitskräfte im November 2019 rund 80 Wohnhäuser zerstört, da in der Vergangenheit gemäß Angaben der Behörden die Taliban immer wieder Wohnhäuser als Unterkünfte und Befestigungen nutzten (AN 3.11.2019).

Aus Sicherheitsgründen lebt die Bürgermeisterin von Maidan Shahr, Zarifa Ghafari, in Kabul und pendelt täglich 50 km zu ihrem Amtssitz (ARTE 3.4.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Wardak im Verantwortungsbereich des 203. ANA Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. KP 4.7.2019), das der Task Force Southeast unter der Leitung von US-Truppen untersteht (USDOD 1.7.2020).

Einheiten des Nationalen Sicherheitsdirektorates (NDS), der vom US-Geheimdienst CIA unterstützt wird, führen in der Provinz Wardak nächtliche Operationen durch, wobei es Berichten zufolge zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, Hinrichtungen und anderen Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Täter werden nicht zur Rechenschaft gezogen (FP 6.2.2020, HRW 30.10.2019, BAMF 15.7.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

[…] Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 145 zivile Opfer (55 Tote und 90 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einem Rückgang von 21% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2021a).

Bei einem Angriff der Taliban auf eine Basis des NDS in der Nähe der Provinzhauptstadt Maidan Shahr wurden im Jänner 2019 über 100 Sicherheitskräfte getötet (NYT 21.1.2019; vgl. Guardian 21.1.2019, ORF 21.1.2019). Am 18.3.2021 starben bei dem Absturz eines Helikopters der afghanischen Armee im Distrikt Behsud neun Menschen. Hazara-Kommandeur Abdul Ghani Alipur der genannten Behsud Resistance Front (Jabha-ye Moqawamat) wurde vom Verteidigungsministerium vorgeworfen, für den Abschuss verantwortlich zu sein (BAMF 29.3.2021; vgl. AnA 20.3.2021). Am 30.1.2021 war es in Behsud nach einem Protestmarsch gegen die Einsetzung neuer Polizeikommandeure zu Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Männern der Behsud Resistance Front gekommen. Dabei hätten staatliche Sicherheitskräfte das Feuer eröffnet, wobei mindestens neun Menschen gestorben und weitere verletzt worden seien (BAMF 29.3.2021; vgl. TN 30.1.2021, AVA 30.1.2021).

Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Nerkh, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Ein Taliban-Sprecher sagte, die Gruppe habe das Gebiet erobert, und die Aufständischen hätten das Polizeipräsidium und einen Armeestützpunkt eingenommen (RFE/RL 12.5.2021; vgl. TN 12.5.2021). Mehrere wichtige Fernstraßen in die zentralen und südlichen Provinzen des Landes führen durch den Distrikt Nerkh (RFE/RL 12.5.2021).

In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen (KP 26.4.2021; TN 18.2.2020; PAJ 24.10.2019) und Luftschlägen (TN 25.4.2021; PAJ 18.2.2020; PAJ 24.10.2019; NG 17.10.2019; AT 8.12.2019). Die Taliban greifen regelmäßig Kontrollpunkte, Einrichtungen oder Konvois der Sicherheitskräfte an und es kommt zu Gefechten mit den Regierungstruppen, was zu Verlusten unter den Sicherheitskräften und den Aufständischen führt (ATV 23.9.2020; WP 10.8.2020; AN 3.11.2019; GW 21.7.2020; AN 6.9.2020; IAR 21.9.2020; FRP 29.7.2019; TN 18.2.2020; PAJ 24.10.2019; NG 17.10.2019) aber auch zivile Opfer nach sich zieht (BAMF 26.4.2021; KP 26.4.2020; TN 25.4.2021). […]“

1.3.2 Medizinische Versorgung – LIB, letzte Änderungen: 11.06.2021

„Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück (AA 16.7.2020). In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020).

Im Jahr 2003 richtete das Gesundheitsministerium ein standardisiertes Basispaket an Gesundheitsdiensten (Basic Package of Healthcare Services, BPHS) ein, um die medizinische Grundversorgung und den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten für die gesamte Bevölkerung Afghanistans sicherzustellen. Die Umsetzung des BPHS wurde an Nichtregierungsorganisationen (NGO) vergeben, die in allen Provinzen Afghanistans - mit Ausnahme von drei Provinzen, in denen das MoPH das BPHS direkt umsetzte - medizinisches Personal ausbildeten und grundlegende Gesundheitsdienste anboten. Im Jahr 2005 erweiterte das MoPH das Programm durch die Einführung des Essential Package of Hospital Services (EPHS). Das EPHS ist ein standardisiertes Paket von Krankenhausleistungen für jede Ebene von Krankenhäusern im öffentlichen Sektor (MedCOI 5.2019).

Bislang werden BPHS und EPHS vom MoPH reguliert und an 40 nationale und internationale NGOs in 31 Provinzen ausgelagert. In den verbleibenden drei Provinzen Afghanistans stellt das MoPH das BPHS über eine Contracting-In-Initiative mit dem Titel „Strengthening Mechanism“ direkt bereit (MedCOI 5.2019; vgl. GaH 2016).

Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen (AA 16.7.2020). Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20 (USIP 4.2020).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vgl. EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020).

Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vgl. WHO 4.2018). Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen (AA 16.7.2020). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2020). Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt. Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene (MedCOI 5.2019). Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (AA 16.7.2020). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2020; vgl. WHO 8.2020).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019). Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden (AA 16.7.2020), was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (MedCOI 5.2019).

In einem MoU (Memorandum of Understanding) zwischen dem Gesundheitsministerium und drei indischen Privatunternehmen wurde am 16.6.2020 der Bau von zwei Gesundheitszentren und einer Pharmafabrik in Afghanistan im Wert von 12,5 Mio. $ vereinbart. Außerdem wurden im vergangenen Jahr Vereinbarungen über den Bau eines Gesundheitszentrums in Kabul und 53 Gesundheitszentren in den Provinzen Kandahar und Helmand unterzeichnet. Darüber hinaus hat Aga Khan Health Services (AKHS) als Teilprojekt im Rahmen des nationalen Projekts (SEHATMANDI) im Februar 2019 bis Juni 2021 das Management von Gesundheitseinrichtungen in den Provinzen Bamyan und Badakhshan auf Basis einer leistungsbezogenen Bezahlung übernommen. Im Januar 2019 erhielt das Schwedische Komitee für Afghanistan (SCA) den neuen SEHATMANDI-Vertrag zur Umsetzung der Interventionen Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Health Services (EPHS) in der Provinz Wardak, Afghanistan bis zum 30.6.2021 (RA KBL 20.10.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste (UNAMA 2.2021; vgl. AA 16.7.2020, UNOCHA 7.3.2021, UNOCHA 19.12.2020, IKRK 17.6.2020). Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt (UNAMA 2.2021a; vgl. UNOCHA 19.12.2020; vgl. IKRK 17.6.2020). Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (MSF 3.2020; vgl. UNOCHA 7.3.2021).

Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Beschränkungen des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen setzen sich im Jahr 2021 fort (UNOCHA 7.3.2021). UNAMA verifizierte zwischen 1.1.2020 und 31.12.2020 90 Angriffe, welche die Gesundheitsversorgung beeinträchtigten. Ein Anstieg um 20% im Vergleich zu 2019. Diese Vorfälle umfassen sowohl direkte Angriffe oder Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen und Personal, als auch wahllose Angriffe, die zu zufälligen Schäden an Gesundheitseinrichtungen und geschütztem Personal führen. Ein Trend aus dem Jahr 2019 setzte sich 2020 fort, indem die Taliban eine Reihe von Gesundheitszentren bedrohten und medizinisches Personal entführten, um sie zu verschiedenen Handlungen zu zwingen, wie z. B. sich mit ihnen zu koordinieren, ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen, Medikamente und Einrichtungen zu übergeben, Sondersteuern zu zahlen oder ihre Dienste an einen anderen Ort zu verlagern. Die Taliban bedrohten das Jahr 2020 hindurch Gesundheitszentren. So erzwangen die Taliban beispielsweise am 11.11.2020 in der Provinz Badakhshan die Schließung von 17 Gesundheitszentren in sechs Distrikten (UNAMA 2.2021a). In der Provinz Samangan sind seit dem 4.11.2020 22 Gesundheitseinrichtungen geschlossen geblieben, was die Bereitstellung von Gesundheits- und Ernährungsdiensten in der Provinz behindert. (UNOCHA 7.3.2021).

Anmerk. BvwG: Unter Hinweis auf den oben Als aktuelles Beispiel der Gefährdung von Gesundheitseinrichtungen sei die Bombardierung eines Spitals in Herat angeführt, - Nachrichtenagentur pajhwok 03.08.2021, Helmand: ‘Ariana Hospital bombed based on wrong coordinates’.

COVID-19

Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Bereitstellung und Nutzung grundlegender Gesundheitsdienste in Afghanistan ausgewirkt, und zwar aufgrund von COVID-19-bedingten Bewegungseinschränkungen, dem Mangel an medizinischem Material und persönlicher Schutzausrüstung sowie der Abneigung der Gemeinschaft, Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Überweisungen ging von April bis Juni 2020 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um fast 25 Prozent zurück, während die Zahl der chirurgischen Eingriffe laut WHO um etwa 33 Prozent sank. Darüber hinaus ging die Rate der Routineimpfungen für Frauen und Kinder unter zwei Jahren im Laufe des Jahres zurück. Infolgedessen geht die WHO davon aus, dass die Sterblichkeit durch behandelbare und durch Impfung vermeidbare Gesundheitszustände im Jahr 2021 ansteigen könnte (USAID 12.1.2021).

Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 (IOM 23.9.2020). Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021).

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (RA KBL 20.10.2020). […]“

1.3.2.1 Zugang zu medizinischen Versorgung

„Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2020 bis zu drei Millionen Menschen durch die Schließung von Gesundheitseinrichtungen durch Konfliktparteien, vom Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen abgeschnitten, oft in den am stärksten gefährdeten, konfliktbetroffenen Gebieten. Dies auch im Zusammenhang mit der COVID-19- Pandemie in Afghanistan, wo die in konfliktbetroffenen Gebieten lebende Bevölkerung eine geringere Wahrscheinlichkeit hatte, Tests und kritische, lebensrettende medizinische Behandlungen zu erhalten. Es ist damit zu rechnen, dass der Verlust von medizinischem Personal und die beschädigte medizinische Infrastruktur lang anhaltende Folgen für das Gesundheitssystem haben werden (UNAMA 2.2021a).

Zugang zur Behandlungsmöglichkeiten

Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten (STDOK 4.2018). Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen (IOM 2018), oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (STDOK 4.2018; vgl. AA 16.7.2020) und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Es wird von schlechten hygienischen Bedingungen in öffentlichen Krankenhäusern berichtet (MedoCOI 5.2019) und von Ärzten, die nur wenige Stunden im Krankenhaus anwesend sind, weil sie ihre eigenen privaten Praxen haben (MedCOI 5.2019). Nach Daten aus dem Jahr 2017 waren 76 % der in Afghanistan getätigten Gesundheitsausgaben sogenannte „out-of-pocket“-Zahlungen der Patienten (WB n.d.b). Die Qualität und Kosten der Kliniken variiert stark, es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (AA 16.7.2020).

In den großen Städten und auf Provinzebene ist die medizinische Versorgung gewährleistet, aber auf Distrikt- und Dorfebene sind die Einrichtungen oft weniger gut ausgestattet und es kann schwierig sein, Spezialisten zu finden. In vielen Fällen arbeiten Krankenschwestern anstelle von Ärzten, um die Grundversorgung zu gewährleisten und komplizierte Fälle an Krankenhäuser in der Provinz zu überweisen. Operationen können in der Regel nur auf Provinzebene oder höher durchgeführt werden; auf Distriktebene sind nur Erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Dies gilt nicht für das ganze Land, allerdings können Distrikte mit guter Sicherheitslage meist mehr und bessere Leistungen anbieten als in unsicheren Gebieten (IOM 2018; vgl. BDA 18.12.2018).

Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind demnach die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals, sowie Sicherheitsgründe (MedCOI 5.2019; vgl. EASO).

In privaten Krankenhäusern ist die Ausstattung besser, es gibt mehr medizinisches Personal und die Ärzte sind erfahrener als in öffentlichen Einrichtungen, wobei das Hauptproblem die mangelnde Zugänglichkeit für den armen Teil der Bevölkerung ist (MedCOI 5.2019).

Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe (AJ 25.5.2019; vgl. Geo TV o.J., MedCOI 5.2019, BDA 18.12.2018). In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich (BDA 18.12.2018).

Zugang zu Medikamenten

Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essentiellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht. Die Funktion der Regulierungsbehörde ist auf verschiedene Regierungsstellen aufgeteilt, darunter die Generaldirektion für pharmazeutische Angelegenheiten, das Labor für Qualitätskontrolle und die Abteilung für Gesundheitsgesetzgebung. Traditionelle Medizin ist weit verbreitet, da sie weniger teuer und leichter zugänglich ist (WHO 2016).

Im Jahr 2017 startete das MoPH eine 12-wöchige Kampagne gegen gefälschte und minderwertige Medizin. Die Lizenzen von mehr als 900 lokalen und ausländischen pharmazeutischen Importunternehmen wurden ausgesetzt, während 100 Tonnen abgelaufene, gefälschte und minderwertige Medikamente in Apotheken beschlagnahmt wurden. Die Sicherheitslage beeinträchtigt die Lieferung und Verfügbarkeit von lebensrettenden Medikamenten zusätzlich durch die Unzugänglichkeit der Straßen (MedCOI 5.2019).

Die Essential Medicines List of Afghanistan (EML) (MoPH 2014) enthält Medikamente, die für den Einsatz im BPHS und EPHS empfohlen werden. Laut einem UN-Bericht aus dem Jahr 2017 kann es jedoch aufgrund der unsicheren und unzugänglichen öffentlichen Straßen zu Engpässen bei Medikamenten und medizinischen Geräten kommen. Auf allen Ebenen des Gesundheitssystems kann es zu Engpässen bei lebensrettenden Medikamenten kommen, selbst in Überweisungskrankenhäusern (MedCOI 5.2019).

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall (MedCOI 5.2019). Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert (BAMF 2016). […]“

1.3.2.2 Psychische Erkrankungen

„Viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie (UNOCHA 19.12.2020). Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig (STDOK 4.2018). Gemäß der „Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023“ erhalten weniger als 10% der Bevölkerung die für die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen erforderlichen medizinischen Leistungen (MoPH o.D.; vgl. AOAV 1.10.2020, HRW 7.10.2019) und nur ein psychosozialer Berater steht für je 46.000 Menschen zur Verfügung (MoPH o. D.; vgl. HRW 7.10.2019). Da es kaum Anzeichen für eine Einstellung der Feindseligkeiten oder einen dauerhaften humanitären Waffenstillstand im Jahr 2021 gibt, wird geschätzt, dass bis zu 310.500 Traumafälle aufgrund des anhaltenden und eskalierenden Konflikts eine medizinische Notfallbehandlung benötigen (UNOCHA 19.12.2020).

Das Ziel der „Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023“, die vom Ministerium für öffentliche Gesundheit (MoPH) entwickelt wurde, ist es, sich der psychischen Erkrankungen in der afghanischen Gesellschaft anzunehmen und durch diese Strategie qualitativ hochwertige psychische und psychosoziale Versorgung und Dienste für alle Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen, wobei der Schwerpunkt auf den psychischen Gesundheitsbedürfnissen der armen, unterversorgten, benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen liegt. Diese Dienste sollen evidenzbasiert und gemeinwesenorientiert sein und auf allen Versorgungsebenen von qualifiziertem und motiviertem Personal erbracht sowie, dem Zeitplan nach, in allen Provinzen umgesetzt werden (MoPH o. D.; vgl. RA KBL 20.10.2020).

Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung oder psychosozialer Unterstützung bleibt für viele unerreichbar, insbesondere in ländlichen Gebieten. Obwohl psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützungsdienste (Mental Health and Psychosocial Support Services, MHPSS) in das nationale Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Hospital Services (EPHS) integriert wurden, stehen landesweit nur 320 Krankenhausbetten im öffentlichen und privaten Sektor für Menschen mit psychischen Problemen zur Verfügung (UNOCHA 19.12.2020; vgl. WHO o.D.).

In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden – genauso wie Kranke und Alte - gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen (STDOK 4.2018; vgl. BAMF 2016). Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen (AA 16.7.2020). Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem (BDA 18.12.2018). Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert (AA 16.7.2020, vgl. BDA 18.12.2018). Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik (STDOK 4.2018).

Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten