Entscheidungsdatum
23.08.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W207 2201538-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX (auch XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2018, Zl. 1105447702-160248843, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 01.07.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 15.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am 16.02.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er unter anderem an, afghanischer Staatsangehöriger, am XXXX in Afghanistan in der Provinz Kapisa geboren und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken zu sein sowie dem islamischen Glauben sunnitischer Ausrichtung anzugehören. Befragt dazu, warum er sein Land verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, von den Taliban mit dem Tode bedroht worden zu sein für den Fall, dass er sich ihnen nicht anschließen und mit ihnen nicht in den Kampf ziehen würde.
Am 12.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA; in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, am XXXX geboren worden zu sein und der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer vor dem BFA zusammengefasst aus, dass er in einer Polizeistation gearbeitet habe und aus diesem Grund von den Taliban bedroht worden sei. Er sei dazu aufgefordert worden, entweder das Essen in der Polizeistation mit Gift zu versetzen oder sich den Taliban anzuschließen und eine Schule für Selbstmordattentäter zu besuchen. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass er in Österreich Deutschkurse besuche, ehrenamtliche Tätigkeiten ausführe und auch einen österreichischen Freundeskreis habe. Im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an integrationsbezeugenden Unterlagen vor.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 15.02.2016 mit Bescheid vom 14.06.2018 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer weder eine Bedrohung durch die Taliban noch durch staatliche Organe oder Privatpersonen oder eine Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft darlegen habe können, da seine Ausführungen hinsichtlich seines Fluchtgrundes widersprüchlich und unschlüssig gewesen seien. Eine Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt Kabul sei dem Beschwerdeführer aufgrund seiner familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan und dem Umstand, dass er jung und arbeitsfähig sei sowie über eine überdurchschnittliche Schulbildung und eine mehrjährige Berufserfahren verfüge, möglich, ohne in eine die Existenz bedrohende Notlage zu geraten. Eine Rückkehrentscheidung greife auch nicht unverhältnismäßig in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- oder Familienlebens ein.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung am 11.07.2018 binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde ihre Ermittlungspflicht verletzt habe. Dem Beschwerdeführer drohe aufgrund seiner ihm (unterstellten) politischen Gesinnung eine Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention. Außerdem habe der Beschwerdeführer mittlerweile einen westlichen Lebensstil angenommen. Die Behörde habe auch die prekäre Sicherheitslage in Kabul verkannt. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer in eine die Existenz bedrohende Lage geraten. Aufgrund der sehr guten Integration des Beschwerdeführers in Österreich stelle eine Rückkehrentscheidung auch einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK dar.
Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 23.07.2018 vom BFA vorgelegt. Das Verfahren wurde der hg. Gerichtsabteilung W162 zugeteilt.
Mit Eingabe vom 27.03.2019 legte der Beschwerdeführer weitere integrationsbezeugende Unterlagen vor.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.04.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W162 abgenommen und der Gerichtsabteilung W207 neu zugwiesen.
Mit Eingabe vom 15.06.2021 wurde auf die aktuelle Lage in Afghanistan im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie und den militärischen und politischen Zugewinnen der Taliban hingewiesen und ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung in eine existentielle Notlage geraten würde. Der Beschwerdeführer habe bereits große Anstrengungen hinsichtlich seiner Integration in Österreich unternommen. Diesbezüglich wurde auch ein Konvolut an integrationsbezeugenden Unterlagen beigelegt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprachen Paschtu und Dari ausführlich zu seiner Identität, seiner Herkunft, zu seinen persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat, zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat und zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer ein Konvolut bestehend aus Fotos, Unterstützungserklärungen und Empfehlungsschreiben, die die Integration des Beschwerdeführers belegen sollen, sowie eine handschriftliche Auflistung seines Freundeskreises vor.
In einem Aktenvermerk vom 06.07.2021 wurde festgehalten, dass sich der Beschwerdeführer laut telefonischer Mitteilung für die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs angemeldet habe.
Mit Eingabe vom 12.07.2021 wurde dem erkennenden Gericht ein umfangreiches Konvolut an integrationsbezeugenden Unterlagen, einschließlich vier arbeitsrechtlichen Vorverträgen bzw. Einstellungszusagen, vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers
Der volljährige Beschwerdeführer gibt an, den im Spruch angeführten Namen und das im Spruch angeführte Geburtsdatum zu haben. Seine Identität steht nicht fest.
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger; seine Mutter gehört der Volksgruppe der Paschtunen, sein Vater der Volksgruppe der Tadschiken an. Der Beschwerdeführer ist Muslim sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Dari, diese beherrscht er in Wort und Schrift, darüber hinaus spricht der Beschwerdeführer auch Paschtu und bereits gut Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Kapisa geboren und lebte bis zu seiner Ausreise in einem Dorf in Central Kapisa. Er besuchte dort zwölf Jahre lang die örtliche Grundschule und absolvierte die Matura. Bereits ab seinem zwölften Lebensjahr arbeitete der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinem Bruder in dessen Laden, in welchem er Motorradteile verkaufte. Vor seiner Ausreise war der Beschwerdeführer für ca. 9-10 Monate als Koch in einer Militär- oder Polizeistation tätig.
Im Jahr 2016 reiste der Beschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 15.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält er sich durchgehend in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe können nicht festgestellt werden.
Nicht festgestellt werden kann in diesem Zusammenhang, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Gefahr durch die Taliban oder eine andere Gruppierung aufgrund einer Tätigkeit in einer Militär- oder Polizeistation droht, im Zuge derer er von den Taliban bedroht und dazu aufgefordert worden sei, das Essen in der Polizeistation mit Gift zu versetzen oder sich den Taliban anzuschließen und eine Schule für Selbstmordattentäter zu besuchen.
Zur Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat
Eine Aufenthaltnahme im Herkunftsstaat würde aktuell für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen.
Zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, in Bezug auf die aktuellen Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung der Kurzinformationen (KI) der Staatendokumentation vom 19.07.2021, 02.08.2021, insbesondere aber vom 17.08.2021 und vom 20.08.2021 (LIB), weiters auf den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR) und insbesondere auf der UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021, sowie auf folgenden Medienberichten und Zeitungsartikeln zu den aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan:
orf.at 17.06.2021: Mehr als 20 Spezialkräfte in Afghanistan getötet (im Folgenden: orf.at
17.06.2021); https://orf.at/stories/3217730/
orf.at 21.06.2021: Taliban setzen Eroberungszug fort (im Folgenden: orf.at 21.06.2021); https://orf.at/stories/3218260/
ARD tagesschau 09.07.2021: Taliban nehmen wichtige Handelsorte ein (im Folgenden: ARD
tagesschau 09.07.2021); https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-taliban-155.html
TheGuardian.com 31.07.2021: Herat residents fear Taliban in their homes and workplaces as it masses outside city (im Folgenden: TheGuardian.com 31.07.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/jul/31/herat-residents-fear-taliban-in-theirhomes- and-workplaces-as-it-masses-outside-city
DerStandard.at 31.07.2021: Taliban greifen afghanische Provinzhauptstädte an (im Folgenden: DerStandard.at 31.07.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128604362/taliban-greifenafghanischeprovinzhauptstaedte-an
CNN 02.08.2021: Taliban take over TV station in strategic city as US airstrikes pound key positions in Afghanistan (im Folgenden: CNN 02.08.2021); https://edition.cnn.com/2021/08/02/asia/afghanistan-us-airstrikes-taliban-intl/index.html
TheGuardian.com 03.08.2021: Taliban on brink of taking key Afghan city as residents told to flee (im Folgenden: TheGuardian.com 03.08.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/aug/03/fears-for-afghan-city-of-lashkar-gah-asfierce-clashes-continue
TheGuardian.com 01.08.2021: Resurgent Taliban escalates nationwide offensive in Afghanistan (im Folgenden: TheGuardian.com 01.08.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/aug/01/resurgent-taliban-escalates-nationwideoffensive-in-afghanistan
DerStandard.at 04.08.2021: Taliban reklamieren Autobombenanschlag mit 13 Toten in Afghanistan für sich (im Folgenden: DerStandard.at 04.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128677528/taliban-reklamierenautobombenanschlag- mit-13-toten-in-afghanistan-fuer-sich
DiePresse.com 06.08.2021: Taliban ermorden Sprecher der afghanischen Regierung (im Folgenden: DiePresse.com 06.08.2021); https://www.diepresse.com/6017901/taliban-ermorden-sprecher-der-afghanischenregierung
DerStandard.at 08.08.2021: Taliban erobern Kundus und zwei weitere afghanische Provinzhauptstädte (im Folgenden DerStandard.at 08.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128769336/schwere-kaempfe-im-zentrum-vonnordafghanischer-stadt-kunduz
FAZ.net 08.08.2021: Eine Provinzhauptstadt fällt nach der nächsten (im Folgenden FAZ.net
08.08.2021); https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/taliban-auf-vormarsch-in-afghanistan-kunduseingenommen-17476107.html#void
orf.at 07.08.2021: Taliban erobern zweite afghanische Provinzhauptstadt (im Folgenden: orf.at 07.08.2021); https://orf.at/stories/3223979/
orf.at 08.08.2021: Taliban erobern weitere Provinzhauptstädte (im Folgenden: orf.at 08.08.2021); https://orf.at/stories/3224061/
kurier.at 11.08.2021: Taliban haben Flughafen und große Militärbasis eingenommen (im
Folgenden: kurier.at 11.08.2021); https://kurier.at/politik/ausland/us-geheimdienste-rechnen-mit-baldigem-fall-vonkabul/401469196
DerStandard.at 11.08.2021: Niederlande und Deutschland stoppen Abschiebungen nach
Afghanistan wegen Taliban-Vormarschs (im Folgenden: DerStandard.at 11.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128854309/niederlande-und-deutschland-setzenabschiebungen-nach-afghanistan-aus
DieZeit.de 11.08.2021: Hunderte afghanische Sicherheitskräfte ergeben sich den Taliban (im
Folgenden: DieZeit.de 11.08.2021); https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/afghanistan-taliban-soldaten-ergeben-sichkundus
orf.at 12.08.2021: Taliban bringen Herat unter ihre Kontrolle (im Folgenden: orf.at 12.08.2021); https://orf.at/stories/3224653/
orf.at 10.08.2021: EU-Botschafter in Kabul: Afghanistan-Abschiebungen aussetzen (im
Folgenden: orf.at 10.08.2021 Abschiebungen); https://orf.at/stories/3224334/
DerStandard.at 10.08.2021: EU-Botschafter in Kabul fordern Stopp der Abschiebungen nach
Afghanistan (im Folgenden: DerStandard.at 10.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128824067/eu-botschafter-in-kabul-fordertabschiebe-stopp-nach-afghanistan
orf.at 11.08.2021: Kabul wird laut Geheimdiensten bald fallen (im Folgenden: orf.at 11.08.2021 Vormarsch); https://orf.at/stories/3224411/
BBC, 16.08.2021: Afghanistan: Life in Kabul after the Taliban victory (im Folgenden: BBC 16.08.2021); https://www.bbc.com/news/world-asia-58232815
AP News, 17.08.2021: EXPLAINER: The Taliban takeover, what's next for Afghanistan (im Folgenden AP News 17.08.2021); https://apnews.com/article/taliban-takeover-afghanistan-what-to-know-1a74c9cd866866f196c478aba21b60b6;
Afghanistan Analysts Network, 17.08.2021: Afghanistan Has a New Government: What Will the Country's New Normal Look Like? (im Folgenden: AAN 17.08.2021); https://www.afghan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/afghanistan-has-a-new-government-the-country-wonders-what-the-new-normal-will-look-like/
CNN, 16.08.2021: Calm and fear on the streets of Kabul as jubilant Taliban celebrate their victory (im Folgenden: CNN 16.08.2021) https://edition.cnn.com/2021/08/16/middleeast/kabul-streets-taliban-regime-intl/index.html
ORF.at, 16.08.2021: „Krieg in Afghanistan ist vorbei“, (im Folgenden orf.at 16.08.2021); https://orf.at/stories/3225020/
BBC, 17.08.2021: Afghanistan: Will it become haven for terror with the Taliban in power? (im Folgenden: BBC 17.08.2021); https://www.bbc.com/news/world-asia-58232041
Allgemeine Sicherheitslage
Militärischer Vormarsch der Taliban und Machtübernahme durch die Taliban
Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu einem Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden, sowie zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen (LIB, Kapitel Politische Lage).
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte und verstärkten den Druck in allen Regionen des Landes, darunter auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LIB, Kapitel Sicherheitslage).
Im Zeitraum 01.05.2021 bis Anfang Juni 2021 eroberten die Taliban mindestens 12 Distrikte (LIB, Kapitel Politische Lage). Mitte Juni töteten die Taliban aus dem Hinterhalt mehr als 20 Spezialkräfte der afghanischen Regierung beim Versuch, den Distrikt Dawlat Abad in der Provinz Faryab zurückzuerobern (orf.at 17.06.2021). Am 21.06.2021 nahmen die Taliban innerhalb von 24 Stunden weitere acht Bezirke in den Provinzen Takhar, Baghlan und Balkh ein. Lokale Medien berichteten über Taliban-Kämpfer am Rande der Stadt Mazar-e Sharif. Örtliche Politiker riefen Zivilisten auf, sich zu bewaffnen und mit den Sicherheitskräften gegen die Islamisten zu kämpfen (orf.at 21.06.2021).
Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat, sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert (KI 19.07.2021). Der für den Handel mit dem Iran bedeutende afghanisch-iranische Grenzübergang Islam Qala in der Provinz Herat fiel Berichten zufolge ohne Widerstand der dort stationierten Sicherheitskräfte an die Taliban. Zudem brachten die Taliban auch den afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi im Norden der Provinz Herat unter ihre Kontrolle (ARD tagesschau 09.07.2021). Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak. Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (KI 19.07.2021). Mitte Juli 2021 kontrollierten die Taliban nach Einschätzung des Long War Journals bereits 223 der 407 Distrikte in Afghanistan, während es zum Stichtag 3.6.2021 erst 90 Distrikte waren, welche unter der Kontrolle der Taliban standen (KI 19.07.2021).
Am 25.07.2021 verhängte die afghanische Regierung eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22.00 und 4.00 Uhr (KI 02.08.2021).
Die Taliban umzingelten fast alle größeren Städte Afghanistans. Die USA befürchteten, dass die Hauptstadt Kabul innerhalb von Monaten fallen könnte (orf.at 13.07.2021). Ende Juli / Anfang August 2021 kämpften die Regierungstruppen gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar (KI 02.08.2021). In Lashkar Gah in der Provinz Helmand wurde am 31.07.2021 in verschiedenen Stadtbezirken gekämpft, nachdem die Taliban die Stadt vier Tage zuvor angegriffen hatten. Regierungstruppen flogen unter anderem einen Luftangriff, bei dem ein Krankenhaus mit zehn Betten zerstört wurde (TheGuardian.com 31.07.2021; DerStandard.at 31.07.2021). Berichten zufolge übernahmen die Taliban in der Stadt Lashkar Gah einen Fernsehsender (CNN 02.08.2021). Am 03.08.2021 befanden sich mit Ausnahme eines Bezirkes alle Stadtteile der Stadt Lashkar Gah unter der Kontrolle der Taliban. Die Bewohner der Stadt wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen (TheGuardian.com 03.08.2021).
In der Stadt Herat tobten die Kämpfe nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt (Der Standard.at 31.07.2021). Die Taliban errichteten am Rande der Stadt Herat einen Checkpoint, wodurch sich Herat (Stadt) im Belagerungszustand befand (TheGuardian.com 31.07.2021). Am 12.08.2021 nahmen die Taliban schließlich Herat ein (orf.at 12.08.2021). In Kandahar drangen die Taliban bis ins Zentrum vor. Am 31.07.2021 schlugen mindestens drei Raketen am Flughafen von Kandahar ein (TheGuardian.com 31.07.2021). Ziel dieses von den Taliban verübten Anschlages war die Vereitelung von Luftangriffen der afghanischen Regierungstruppen (TheGuardian.com 01.08.2021). Seit 01.08.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (KI 02.08.2021). Zum Stichtag 2.8.2021 kontrollierten die Taliban einige der südlichen Außenbezirke von Kandahar (CNN 02.08.2021). Am 03.08.2021 wurde Kabul (Stadt) von einem Autobombenanschlag, einer Reihe kleinerer Explosionen und Schusswechseln zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften erschüttert. Die Autobombe zielte auf die Residenz des Verteidigungsministers (TheGuardian.com 03.08.2021). Am 04.08.2021 wurden bei einem Bombenangriff in Kabul drei Menschen verletzt (DerStandard.at 04.08.2021).
Zwei Tage später nahmen die Taliban am 06.08.2021 im Kampf gegen die afghanische Regierung mit Zaranj (Provinz Nimroz) erstmals eine Provinzhauptstadt ein. Die Taliban besetzten den Gouverneurspalast, das Polizeipräsidium und einen Posten nahe der iranischen Grenze (DiePresse.com 06.08.2021). Die Stadt fiel praktisch kampflos an die Taliban (DerStandard.at 08.08.2021). Schon vor den Angriffen der Taliban legten die meisten afghanischen Sicherheitskräfte ihre Waffen nieder und flohen (FAZ.net 08.08.2021). Am selben Tag ermordeten die Taliban den Regierungssprecher beim Freitagsgebet (DiePresse.com 06.08.2021).
Am 07.08.2021 eroberten die Taliban mit Sheberghan in der Provinz Jawzjan eine weitere Provinzhauptstadt innerhalb von 24 Stunden (orf.at 07.08.2021). Nur einen Tag später nahmen die Taliban am 08.08.2021 drei weitere Provinzhauptstädte ein: Sar-e Pul (Provinz Sar-e Pul), Kunduz (Provinz Kunduz) und Taloqan (Provinz Takhar). Damit brachten die Taliban innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle (orf.at 08.08.2021). Nach Angaben des Verteidigungsministeriums starteten die afghanischen Truppen am 08.08.2021 eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kunduz (DerStandard.at 08.08.2021). Am 11.08.2021 erlangten die Taliban auch die Kontrolle über den Flughafen in Kunduz und die Militärbasis bei Kunduz (kurier.at 11.08.2021; DerStandard.at 11.08.2021), nachdem hunderte afghanische Sicherheitskräfte vor den Taliban kapitulierten (DieZeit.de 11.08.2021). Am 09.08.2021 eroberten die Taliban mit Aybak (Provinz Samangan) die sechste Provinzhauptstadt (DerStandard.at 09.08.2021). Berichten zufolge fiel am 10.08.2021 die Provinzhauptstadt Farah (Provinz Farah) an die Taliban. Nach Angaben lokaler Behördenvertreter nahmen die Islamisten die wichtigsten Einrichtungen der Regierung in der Stadt ein, darunter den Gouverneurssitz und das Gefängnis der Stadt (DerStandard.at 10.08.2021; orf.at 10.08.2021 Farah). Auch von einer Eroberung der Provinzhauptstädte Faizabad (Provinz Badakhshan) und Pul-i-Khumri (Provinz Baghlan) durch die Taliban wurde berichtet (orf.at 11.08.2021 Vormarsch).
Auch in den großen Städten Herat, Lashkar Gah und Kandahar wurden die Regierungstruppen von den Taliban weiter bedrängt. Der amerikanische Präsident Joe Biden ordnete Medienberichten zufolge Luftangriffe an, um den weiteren Vormarsch der Aufständischen aufzuhalten (FAZ.net 08.08.2021). Nachdem sich zunächst auch Mazar-e Sharif im Belagerungszustand befand (orf.at 11.08.2021 Vormarsch) und mehrere Tage lang Kämpfe ausgetragen wurden (DieZeit.de 11.08.2021), wurde die Stadt am 14.08.2021 offenbar kampflos von den Taliban eingenommen (orf.at 14.08.2021).
Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen. (KI 02.08.2021)
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (KI 17.08.2021).
Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden. (KI 17.08.2021)
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen. (KI 17.08.2021)
Es ist noch schwer abzuschätzen, wie die Taliban sich an der Macht verhalten werden (BBC 16.08.2021). Entsprechend herrscht auch in der Bevölkerung Besorgnis. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul versuchten mehr als 10.000 Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, über den Flughafen Kabul das Land zu verlassen (AP News, BBC 16.08.2021/B). Die Mehrheit ist jedoch nicht auf der Flucht, sondern befindet sich abwartend zuhause (AAN 17.08.2021). Befürchtet werden chaotische Zustände oder die Rückkehr zu unterdrückenden und gewaltvollen Verhältnissen wie unter der ersten Talibanherrschaft vom 1996 bis 2001. Der moderate Anstrich, den sich die Taliban zuletzt zu geben versuchten, wird mit Skepsis betrachtet (AP News 17.08.2021, CNN 16.08.2021, ORF 16.08.2021). Die moderaten Aussagen der Führungsspitze und die Gewaltakte, die sich vor Ort ereignen, liegen weit auseinander (BBC 17.08.2021).
Momentan beraten die Taliban in Doha über die zukünftige Ausgestaltung der Regierung. Der Übergang von einer kriegstreibenden, auch zu terroristischen Maßnahmen greifenden, zu einer regierenden Gruppierung wird nach Einschätzung des Afghanistan Analysts Network schwierig (AAN 17.08.2021). Die Taliban gaben an, mit anderen Fraktionen, darunter auch Vertreter der vorhergehenden Regierung, eine „inklusive islamische Regierung“ bilden zu wollen. Islamisches Recht solle durchgesetzt werden, jedoch nach Jahrzehnten des Krieges wieder normales Leben in Sicherheit zurückkehren. Ein beunruhigendes Zeichen für jene, die eine Rückkehr zu Gewalt und Unterdrückung befürchte, ist die geplante Rückbenennung Afghanistan in „Islamisches Emirat Afghanistan“ (AP News 17.08.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. (KI 17.08.2021)
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban. (KI 17.08.2021)
Zivile Opfer
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. (KI 02.08.2021)
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. (LIB, Sicherheitslage)
Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (KI 02.08.2021).
Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams und zehn Minenräumer getötet. Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. (KI 19.07.2021)
Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandahar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (KI 2.8.2021; HRW 30.7.2021). Einem aktuellen Bericht der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) zufolge haben die Taliban seit dem 16. Juli mindestens 40 Menschen im Bezirk Spin Boldak in der Provinz Kandahar getötet (CNN 2.8.2021).
Die Taliban gingen zuletzt brutal gegen Zivilisten vor. Die EU-Kommission wirft den Taliban Kriegsverbrechen vor. Zivilisten würden willkürlich getötet, ohne jedes Gerichtsverfahren, Frauen würden wieder ausgepeitscht vor den Augen der Öffentlichkeit (ARD tagesschau 5.8.2021). Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen haben, werden Massenhinrichtungen gemeldet. Eine Frauenrechtlerin wurde erschossen (DerStandard.at 10.8.2021). Im vergangenen Monat wurden mehr als tausend Zivilisten während der Offensive der Taliban getötet. Zu den Opfern zählten insbesondere Aktivisten, Journalisten, Beamte, Richter und Personen, die sich für einen liberalen islamischen Staat einsetzten (DiePresse.com 6.8.2021). Einem Statement von UNICEF vom 9.8.2021 zufolge wurden in den letzten 72 Stunden mindestens 27 Kinder getötet und 136 Kinder verletzt (UNICEF 9.8.2021).
Es kommt in ganz Afghanistan zu willkürlicher Gewalt. Für Zivilisten besteht die Gefahr, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.
Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen. (LIB, Ethnische Gruppen)
Paschtunen
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. (LIB, Paschtunen)
Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben. (LIB, Paschtunen)
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. (LIB, Paschtunen)
Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet. (LIB, Paschtunen)
Tadschiken
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. (LIB, Tadschiken)
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst. (LIB, Tadschiken)
Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. (LIB, Tadschiken)
Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. (LIB, Religionsfreiheit)
Situation für Rückkehrer
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf. (KI 17.08.2021)
Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021:
Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird
Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen: Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021 (auszugsweise):
Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert.
1. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten.
2 .Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern.
3. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.
[….]
Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. [….]
[….]
Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
Laut Stellungnahme der afghanischen Behörde für Flugsicherheit, den afghanischen Luftraum in der Zivilluftfahrt zu meiden, da dieser nur für militärische Flüge freigegeben ist, ist keine Stadt in Afghanistan derzeit erreichbar.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung am 01.07.2021.
Zur Person des Beschwerdeführers
Mangels vorgelegter unbedenklicher Urkunden konnte die Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die vom Beschwerdeführer im Rahmen des Verfahrens vorgelegte Tazkira entspricht nicht den Standards, um die Identität des Beschwerdeführers eindeutig nachweisen zu können. Die Feststellungen zur Identität beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers im Rahmen des Verfahrens und dienen ausschließlich seiner Identifizierung im Asylverfahren, was auch für das Geburtsdatum des Beschwerdeführers gilt. Im Zuge seiner Einvernahme vor dem BFA sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer an, dass er im Rahmen der Erstbefragung unabsichtlich das Geburtsjahr XXXX genannt habe und dass einfach „ XXXX “ protokolliert worden sei, dass er aber tatsächlich im Jahr XXXX geboren sei, Tag und Monat der Geburt seien ihm aber nicht bekannt. Das Geburtsjahr XXXX stimmt auch mit den Daten in der vorgelegten Tazkira des Beschwerdeführers überein; da dem Beschwerdeführer sein genaues Geburtsdatum nicht bekannt ist, kann ein solches auch nicht mit der nötigen Gewissheit festgestellt werden.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Religionszugehörigkeit, zu den Sprachkenntnissen, zum Familienstand, zur Schuldbildung, zur Berufserfahrung sowie zum Herkunftsort des Beschwerdeführers basieren auf den in diesem Zusammenhang nachvollziehbaren und damit glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren.
Die Feststellungen zur Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers – diesbezüglich gab er im Rahmen der Erstbefragung an, der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören, und im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören, – ergibt sich schließlich aus dessen glaubhaften Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, in der er ausführte, dass seine Mutter Paschtunin und sein Vater Tadschike sei.
Einreise und Antragstellung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ergeben sich aus der Aktenlage und sind unbestritten.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem vom Bundesverwaltungsgericht aktuell eingeholten Auszug aus dem Strafregister.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund war insgesamt vage und unkonkret gehalten, zum Teil inkonsistent und insbesondere in wesentlichen Details widersprüchlich. Es ist dem Beschwerdeführer infolgedessen nicht gelungen, die behauptete Bedrohung in Afghanistan glaubhaft zu machen.
Im Rahmen seiner Erstbefragung am 16.02.2016 führte der Beschwerdeführer aus, dass er von den Taliban mit dem Tode bedroht worden sei. Sie hätten ihn dazu aufgefordert, sich ihnen anzuschließen und mit ihnen in den Kampf zu ziehen.
Bei der Einvernahme vor dem BFA am 12.03.2018 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er etwa 9 bis 10 Monate lang in einer Polizeistation gearbeitet habe und immer wieder von den Taliban, insbesondere von einem Mann namens „ XXXX “, bedroht worden sei. Die Taliban seien immer wieder zu ihm nach Hause gekommen und hätten ihm zwei Wege geboten, nämlich entweder das Essen in der Polizeistation mit Gift zu versetzen, oder in eine Schule für Selbstmordattentäter zu gehen. Bei der Schilderung der konkreten Bedrohungen machte der Beschwerdeführer jedoch widersprüchliche Angaben.
Eingangs dieser Einvernahme am 12.03.2018 führte der Beschwerdeführer – befragt nach seinen Fluchtgründen – aus, dass die Taliban mehrmals zu ihm nach Hause gekommen seien, er sei aber auch persönlich mehrmals von einer Person namens „ XXXX “ dazu aufgefordert worden, Gift unter das Essen in der Polizeistation zu mischen bzw. sich den Taliban anzuschließen. Nachdem der Beschwerdeführer zur konkreten Schilderung der Bedrohungen aufgefordert wurde, gab er zunächst an, dass die erste Bedrohung ca. 20 Tage vor seiner Ausreise hinter dem Haus seiner Familie stattgefunden habe. „ XXXX “ sei mit 3 bis 4 Personen gekommen, diese hätten nur mit dem Vater des Beschwerdeführers gesprochen. Auf wiederholte Nachfrage gab der Beschwerdeführer daraufhin an, dass bei der ersten Bedrohung – neben seinem Vater – auch seine Mutter, sein Bruder und seine Schwägerin sowie er selbst anwesend gewesen seien.
In Bezug auf die zweite Bedrohung führte der Beschwerdeführer aus, dass diese 8 bis 9 Tage nach der ersten Bedrohung ebenfalls hinter dem Haus seiner Familie stattgefunden habe. „ XXXX “ habe vier Personen geschickt, um den Beschwerdeführer mitzunehmen. Wiederum seien sein Vater, seine Mutter, sein Bruder, seine Schwägerin und er selbst anwesend gewesen. Auf weitere Nachfrage der Behörde gab der Beschwerdeführer aber schließlich – abweichend von seinen bisherigen Schilderungen – an, dass er sich versteckt gehalten habe und nur sein Vater mit diesen Personen gesprochen habe. Auf die Frage, ob diese Personen vermummt gewesen sind, gab der Beschwerdeführer ebenfalls an, dass er es nicht wisse, weil er sie nicht gesehen habe. Gegen Ende der Einvernahme führte der Beschwerdeführer hingegen wieder aus, dass er sehr wohl auch persönlich von „ XXXX “ bedroht worden sei. Auch in Bezug auf die Frage, wie oft die Taliban bei ihm zu Hause gewesen sind, antwortete der Beschwerdeführer – im Widerspruch zu seiner eingangs behaupteten Fluchtgeschichte –, dass sie lediglich einmal bei ihm zu Hause gewesen seien.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 01.07.2021 schilderte der Beschwerdeführer zwar ebenfalls konkret zwei Bedrohungen, gab aber in Bezug auf die erste Bedrohung einen neuen und zum bisherigen Vorbringen widersprüchlichen Vorfall an. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung behauptete er nunmehr auf (mehrmalige) konkrete Nachfrage, dass die erste Bedrohung etwa zwanzig Tage vor seiner Ausreise vor der örtlichen Moschee, welche etwa zehn Gehminuten von dem Haus seiner Familie entfernt sei, stattgefunden habe. Dieses Gespräch habe lediglich zwischen ihm und „ XXXX “ (bzw. „ XXXX “) stattgefunden, weitere Personen seien nicht anwesend gewesen.
Auf Vorhalt, dass er die erste Bedrohung im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA am 12.03.2018 anders geschildert habe, gab der Beschwerdeführer nur an, dass es sich bei den dortigen Schilderungen um die zweite Bedrohung handle. In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer diese erste Bedrohungssituation, bei welcher er den Angaben in der mündlichen Verhandlung zu Folge selbst persönlich anwesend gewesen sei und die sich konkret gegen seine Person gerichtet habe (welche somit für ihn aufgrund des persönlichen Erlebens auch einschneidender gewesen wäre), im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA nicht einmal in groben Grundzügen erwähnt hat. Eine konkrete Erklärung, warum er diese nunmehr erwähnte Bedrohungssituation im bisherigen Verfahren nicht geschildert hat, gab der Beschwerdeführer nicht ab.
Auch in Bezug auf die zweite Bedrohung vermochte der Beschwerdeführer die konkrete Bedrohungssituation nicht einheitlich und nachvollziehbar darzulegen, wobei er sich im Zuge der Schilderungen in der mündlichen Verhandlung auch immer wieder in Widersprüche verstrickte. Zunächst führte er aus, dass „ XXXX “ einige Tage nach der ersten Bedrohung Personen zum Haus des Beschwerdeführers geschickt habe, um ihn mitzunehmen. Obwohl der Beschwerdeführer dabei eingangs vorbrachte, dass die Gesichter dieser Personen verschleiert gewesen seien, konnte er dennoch anschließend ihre Namen aufzählen. Befragt dazu, wer bei diesem Gespräch anwesend gewesen ist, führte der Beschwerdeführer zunächst aus, dass bei diesem zweiten Vorfall niemand anwesend gewesen sei, er selbst habe sich versteckt. Anschließend gab er – wenig nachvollziehbar – an, dass sein Vater mit den vier Personen gesprochen habe. Auf weitere Nachfrage, wer denn nun konkret bei diesem Gespräch anwesend gewesen sei, antwortete der Beschwerdeführer zunächst, dass er es nicht wisse, fügte jedoch anschließend – wiederum abweichend davon – hinzu, dass auch seine Mutter und sein Bruder dort gewesen seien.
Auf die konkrete Frage des erkennenden Gerichtes, wie oft er mit „ XXXX “ gesprochen habe, gab der Beschwerdeführer schließlich an, dass nur ein Gespräch stattgefunden habe. Aufmerksam gemacht auf den Widerspruch zu seiner Aussage in der Einvernahme vor dem BFA am 12.03.2018, wonach ihm „ XXXX “ persönlich mehrmals gesagt habe, dass er Gift in das Essen mischen solle bzw. sich ihnen anschließen solle, rechtfertige sich der Beschwerdeführer bloß mit der Behauptung, dass er „einmal“ gesagt habe.
Auch in Bezug auf seine konkrete Beschäftigung führte der Beschwerdeführer – im Widerspruch zu seinen bisherigen Angaben – im Rahmen der mündlichen Verhandlung aus, dass er in der Küche des Militärs gearbeitet habe. Auf Vorhalt, dass er im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA am 12.03.2018 angegeben hat, dass er in einer Polizeistation gearbeitet habe, legte der Beschwerdeführer nur dar, dass er zuvor mit dem Wort „Militär“ den „Staat“ gemeint habe. Darauf hingewiesen, dass die Institutionen „Polizei“ und „Militär“ aber dennoch etwas Unterschiedliches seien, antwortete der Beschwerdeführer schließlich nicht mehr.
Die aufgetretenen Widersprüche zu seinen Angaben, die er im Rahmen Einvernahme vor