TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/24 W119 2156104-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.08.2021
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Entscheidungsdatum

24.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
IntG §10 Abs2 Z3

Spruch


W119 2156104-1/41E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA: Aserbaidschan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2017, Zl 1056670405/150324682, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des bekämpften Bescheides gemäß §§ 3, 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA VG auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 iVm § 10 Abs. 2 Z 3 IntG idgF wird gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 iVm § 10 Abs. 2 Z 3 IntG idgF XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III. In Erledigung der Beschwerde wird der Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Aserbaidschans, stellte am 31.03.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich der am 31.03.2015 durchgeführten Erstbefragung nach dem AsylG gab die Beschwerdeführerin zunächst an, in Aserbaidschan geboren und bis zu ihrer Ausreise am 25.03.2015, in XXXX gelebt zu haben. Zu ihrem Fluchtgrund führt die Beschwerdeführerin aus, dass sie in ihrem Heimatstaat von der Polizei sexuell belästigt und erniedrigt worden sei. Aufgrund der Tatsache, dass sie mit einem syrischen Staatsbürger verheiratet sei, habe es ebenfalls Belästigungen und Verachtung seitens ihrer Familie gegeben. Darüber hinaus sei sie von ihrem Vater im Alter von fünf Jahren einem anderen Mann zur Heirat versprochen worden. Bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat befürchte die Beschwerdeführerin Blutrache seitens ihrer Familie, da sie dem „Familienimage“ geschadet habe. In Österreich lebe außerdem ihr Ehemann, mit dem sie seit 2014 verheiratet sei.

Am 21.02.2017 wurde die Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) einvernommen und gab eingangs an, der Volksgruppe der Aserbaidschaner anzugehören und schiitische Muslimin zu sein. Sie glaube zwar an Gott, sei allerdings nicht sehr gläubig. Sie beherrsche die Sprachen Russisch, Türkisch, Aserbaidschanisch, Englisch und etwas Deutsch. Als Identitätsnachweis legte die Beschwerdeführerin einen Personalausweis vor. Einen Reisepass könne sie hingegen nicht vorlegen, da dieser bereits abgelaufen sei und sie keinen neuen habe erhalten können. Die Beschwerdeführerin legte ebenfalls Fotos ihrer standesamtlichen Hochzeit sowie Bestätigungen der Deutschkurse (Niveau A2 und B1) vor. Die bereits vorgelegte Heiratsurkunde wurde durch eine Übersetzung in die deutsche Sprache ergänzt. Weiters gab sie an, bis zu ihrer Ausreise in Aserbaidschan, XXXX , mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem Eigentumshaus gelebt zu haben. Ihre Mutter sei Ingenieurin und ihr Bruder Zahntechniker, allerdings sei dieser derzeit arbeitslos. Die Beschwerdeführerin halte weiterhin Kontakt zu ihrer Mutter. Ihr Vater sei nach ihrer Ausreise im Jahr 2015 an einem Herzinfarkt gestorben. Zu ihrer Schulbildung befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, elf Jahre lang eine Schule in XXXX besucht zu haben, welche sie mit Matura abgeschlossen habe. Von 1995 bis 1998 habe sie eine medizinische Fachhochschule besucht und eine Ausbildung als Hebamme absolviert. Von 2000 bis 2002 sei sie an der Fachhochschule, an der sie ihre Ausbildung abgeschlossen habe, als Assistentin tätig gewesen. Anschließend habe sie ab 2002 zusätzlich eine EDV-Ausbildung absolviert und sei bei verschiedenen Unternehmen tätig gewesen. Zuletzt, vor ihrer Ausreise, habe sie die Tätigkeit der Bürokauffrau in einem Unternehmen ausgeübt. Dies habe den Zeitraum von 2012 bis 2014 umfasst.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt, führte sie aus, aufgrund ihrer Heirat mit XXXX , einem syrischen Staatsangehörigen, bedroht worden zu sein. Ihren Ehemann habe die Beschwerdeführerin im Jahr 2008 kennen gelernt, als dieser als Tourist nach Aserbaidschan gekommen sei. Er sei anschließend nach Österreich gereist, allerdings hätten sie den Kontakt weiterhin über das Internet aufrechterhalten. Im Jahr 2014 sei es schließlich zur Heirat in Aserbaidschan gekommen, wobei sie acht Tage gemeinsam verbracht hätten, bevor der Ehemann der Beschwerdeführerin wieder nach Österreich ausgereist sei. Die Heirat sei geheim gehalten worden, die Mutter der Beschwerdeführerin sei als Einzige davon in Kenntnis gewesen. Aufgrund der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin einem anderen Mann im Alter von fünf Jahren versprochen worden sei, sei die Familie der Beschwerdeführerin mit dem von ihr selbst ausgewählten Ehemann nicht einverstanden gewesen. Ihr Vater sei ihretwegen gestorben, da sie ihn vor der Gesellschaft mit der eingegangenen Ehe erniedrigt habe. Aus diesem Grund habe ihr Bruder dem Vater vor seinem Tod versprochen die Familienehre zu retten, indem er sich an der Beschwerdeführerin rächen würde. Zum Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin aus ihrem Heimatstaat, habe sich der Bruder noch im Gefängnis befunden. Mittlerweile sei er allerdings aus dem Gefängnis entlassen worden. Da die Beschwerdeführerin weiterhin den Kontakt zu ihrer Mutter halte, wisse sie von ihr, dass ihr Bruder immer noch sehr verärgert sei. Er habe ebenfalls über die Mutter ausrichten lassen, die Beschwerdeführerin würde es bereuen, falls sie zurückkehre, sodass sie bei einer allfälligen Rückkehr um ihr Leben fürchten müsste. Darüber hinaus habe es für die Beschwerdeführerin vor ihrer Ausreise Probleme mit einem Offizier gegeben. Ihn habe sie in Rahmen ihrer Arbeit kennengelernt. Er habe immer wieder die Nähe der Beschwerdeführerin gesucht und sie nach Hause begleiten wollen. Die Beschwerdeführerin habe ihm mitgeteilt, dass sie verheiratet sei und kein Interesse an ihm habe. Aus diesem Grund habe der Offizier ihr die Ausstellung eines neuen Reisepasses verweigert. Im Übrigen sei sie von ihm ebenfalls bedroht worden: Sollte sie nicht mit ihm zusammen sein wollen, würde sie „in ihrem Leben genug Probleme bekommen“. Als Frau habe sie sich nicht gegen ihn wehren können. Den Nachnamen des Offiziers könne die Beschwerdeführerin allerdings nicht mehr nennen. Als Frau sei sie in Aserbaidschan schlecht behandelt worden. Frauen hätten im allgemeinen keine Rechte und würden wie Objekte behandelt werden. Bei der Jobsuche seien die äußeren Werte ausschlaggebend, sodass Frauen körperliche Nähe zu einem Mann zulassen müssten, um im Job ernst genommen zu werden. Weiters führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie einen Kinderwunsch habe und mit ihrem Ehemann zusammenleben wolle.

Auf Vorhalt, dass die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen vage und unkonkret wirken, war die Beschwerdeführerin nicht in der Lage ihre Ausführungen vor dem Bundesamt zu präzisieren. Insbesondere auf die Frage, weshalb die Beschwerdeführerin, obwohl sie bereits mit fünf Jahren jemanden versprochen worden sei, bis zu ihrem XXXX Lebensjahr nicht zwangsverheiratet worden sei, erklärte die Beschwerdeführerin, es habe sich bislang nicht um jemanden gehandelt, den sie geliebt habe. Seitens ihres Vaters habe es immer wieder physischen und psychischen Druck gegeben, jemanden zu heiraten, aber die Beschwerdeführerin habe Widerstand geleistet. Sie habe niemanden heiraten können, den sie nicht liebte. Auf die Frage, ob sie seitens ihres Vaters geschlagen worden sei, bejahte die Beschwerdeführerin dies. Der Beschwerdeführerin wurde ebenfalls vorgehalten, dass es widersprüchlich sei, dass sie angegeben habe in einer strengen Familie aufgewachsen zu sein, aber gleichzeitig einen Fachhochschulabschluss und weitere Ausbildungen absolviert zu haben sowie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen zu sein. Die Beschwerdeführerin gab dazu an, sie habe Widerstand geleistet und arbeiten müssen. Auf Vorhalt, dass Zwangsehen vorwiegen in ländlichen Gegenden vorzufinden seien, die Beschwerdeführerin hingegen in einer Stadt gewohnt habe, führte diese aus, dass ihr Vater ursprünglich aus einem ländlichen Gebiet käme und konservativ gewesen sei. Auf Vorhalt des Bundesamtes, dass die angegebenen Fluchtgründe der Beschwerdeführerin eine reine gedankliche Konstruktion seien, um mit ihrem Ehemann zusammen sein zu können, gab diese an, dass sie selbstverständlich nach Österreich gekommen sei, um mit ihrem Ehemann zusammen zu sein. Allerdings habe sie auch Angst vor ihrem Bruder. Sie habe auch nicht versucht in einer anderen Ortschaft in Aserbaidschan zu leben, da sie bei ihrem Ehemann in Österreich sein wolle.

Zu ihrem Leben in Österreich befragt, brachte die Beschwerdeführerin zusammenfassend vor, seit der Einreise nach Österreich bei ihrem Ehemann zu leben. Dieser sei bereits in Österreich asylberechtigt. Er beziehe aktuell die Mindestsicherung und sie sei in der Grundversorgung. Allerdings sei sie arbeitswillig und würde gerne arbeiten. Sie habe bereits einige Freunde im Rahmen des Deutschkurses gewonnen. Ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bestehe zu niemanden, ein emotionales allerdings zu ihrem Ehemann. Darüber hinaus sei sie weder Vereinsmitglied noch ehrenamtlich tätig. Im Übrigen lebe ebenfalls der Bruder ihres Ehemannes in Österreich.

Ergänzend legte die Beschwerdeführerin eine Kopie der Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs (Niveau B1) vom 27.01.2017 vor.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 13.04.2017, Zl 1056670405/150324682, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Aserbaidschan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG nach Aserbaidschan zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV).

Mit Verfahrensanordnung vom 19.04.2017 wurde der Beschwerdeführerin der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater zur Seite gestellt.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Rechtsberaterin mit Schriftsatz vom 03.05.2017 vollinhaltlich Beschwerde, in der ausgeführt wurde, dass das Verfahren beim Bundesamt nicht den Anforderungen des amtswegigen Ermittlungsverfahrens gemäß § 18 Abs 1 AsylG genügt habe. Die Beschwerdeführerin fürchte bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan Rache seitens ihres Bruders. Darüber hinaus müsse sie ihre wohlbegründete Furcht nur glaubhaft machen. Im Übrigen sei insbesondere die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin ein schützenswertes Familienleben iSd Art 8 EMRK in Österreich führe bei der Entscheidungsfindung ohne Berücksichtigung geblieben bzw. nicht ausreichend gewürdigt worden. Bei der Rückkehr in ihren Heimatstaat wäre sie in ihrem Recht auf Familienleben gem. Art 8 EMRK – durch die Trennung von ihrem Ehemann – verletzt.

Mit Schreiben vom 28.12.2017 übermittelte die Beschwerdeführerin ein Konvolut an Integrationsunterlagen:

-        ÖSD Zertifikat B2 vom 20.12.2017

-        Kursbesuchsbestätigung der VHS Wiener Urania (Deutsch B2) für den Zeitraum von XXXX

-        Kursbesuchsbestätigung des Ute Bock Bildungszentrums (Deutsch B1+) vom XXXX

Am 12.06.2018 übermittelte die Beschwerdeführerin weitere Integrationsunterlagen:

-        Kursbesuchsbestätigung der VHS Brigittenau (Deutsch C1 Schreiben und Grammatik) für den Zeitraum von XXXX

-        Kursbesuchsbestätigung der VHS Donaustadt (Deutsch C1, Teil 1) für den Zeitraum von XXXX

-        Bestätigung der VHS Brigittenau über die ehrenamtliche Tätigkeit als Kinderbetreuerin vom XXXX

-        Bestätigung des Samariterbundes Wien über die ehrenamtliche Tätigkeit (Internetcafé ZwischenSchritt) vom XXXX sowie die dazugehörige Vereinbarung vom XXXX

Mit Schreiben vom 26.07.2018 legte die Beschwerdeführerin folgende Dokumente vor:

-        Teilnahmebestätigung des ÖIF (Werte- und Orientierungskurs) vom 13.07.2018

-        Kursbestätigung von Samariterbund Wien (Notfälle im Kindesalter Modul 1-4) vom XXXX

-        Kursbestätigung der VHS Donaustadt (Deutsch C1, Teil 2) vom 02.07.2018

-        Kursinformation der VHS Meidling (Deutsch C1 mit Prüfungsvorbereitung) vom 28.06.2018

-        Anmeldebestätigung des ÖIF (Vertiefungskurs)

-        Terminvereinbarung des ÖIF vom 12.06.2018

Am 14.01.2020 legte die Beschwerdeführerin weitere Integrationsdokumente vor:

-        Heiratsurkunde vom 02.04.2014

-        Empfehlungsschreiben der WU Wien vom 03.10.2018

-        Teilnahmebestätigung des ÖIF am Werte- und Orientierungskurs vom 13.07.2018

-        Anmeldebestätigung des ÖIF für den Vertiefungskurs

-        Terminkarte des ÖIF

-        Teilnahmebestätigung des ÖIF am Modul „Sicherheit & Polizei“ vom 17.09.2018

-        Kursbestätigung des Samariterbundes Wien am „16 Stunden für das Leben“-Kurs vom XXXX

-        Kursbestätigung des Samariterbundes Wien am “Notfälle im Kindesalter Modul 1-4“-Kurs vom XXXX

-        Bestätigung der VHS Brigittenau über die Tätigkeit als Kinderbetreuerin vom XXXX

-        Bestätigung der VHS Brigittenau über die Tätigkeit als Kinderbetreuerin vom 21.12.2018

-        Bestätigung des Samariterbundes Wien über die ehrenamtliche Tätigkeit vom XXXX - Zertifikat ÖSD C1 (mündliche Prüfung) vom 08.08.2019

-        Zertifikat ÖSD B2 vom 20.12.2017

-        Zertifikat ÖSD B1 vom 16.03.2017

-        Zertifikat ÖSD A2 vom 27.07.2016

Mit Schriftsatz vom 30.11.2020 wurde eine Stellungnahme zu den Länderberichten eingebracht, in der diese zur Kenntnis genommen wurden und insbesondere auf das patriarchale sowie von islamischen Vorgaben geprägte Familiensystem in Aserbaidschan verwiesen wurde. Vor dem Hintergrund der Länderberichte zu Aserbaidschan stünden diese nicht im Widerspruch zu den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Fluchtgründen. Darüber hinaus wurde auf die herausragende Integration der Beschwerdeführerin hingewiesen: Sie habe bereits zahlreiche Deutschkurse absolviert und zuletzt die B2-Prüfung positiv abgeschlossen. Die Beschwerdeführerin bereite sich bereits für die Absolvierung der C1-Prüfung vor. Sie sei seit 2014 mit einem syrischen Staatsangehörigen verheiratet, der anerkannter Flüchtling in Österreich sei, sodass ein schützenswertes Familienleben bestehe. Die Voraussetzung, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären, sei zweifelsfrei gegeben. Ergänzend legte die Beschwerdeführerin folgende Integrationsunterlagen vor:

-        Empfehlungsschreiben von XXXX vom 27.11.2020

-        Empfehlungsschreiben des FH Campus Wien vom 25.11.2020

-        Empfehlungsschreiben der WU Wien vom 03.10.2018

-        Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit im Internetcafé ZwischenSchritt vom XXXX

-        Bestätigung über die Beschäftigung als Kinderbetreuerin von VHS Brigittenau vom XXXX sowie die dazugehörigen Vereinbarungen

-        Empfehlungsschreiben der VHS Brigittenau vom 03.10.2018

-        diverse Kursbesuchsbestätigungen und Zertifikate über die abgelegten Deutschprüfungen für A2, B1 und B2

-        Teilnahmebestätigung am C1-Prüfungsvorbereitungskurs an der WU Wien vom 02.10.2018

-        Teilnahmebestätigung am Modul „Sicherheit & Polizei“ vom 17.09.2018

-        Kursbestätigung vom Samariterbund Wien „16 Stunden für das Leben“ vom XXXX

-        Kursbestätigung vom Samariterbund Wien „Notfälle im Kindesalter Modul 1-4“ vom XXXX

-        Heiratsurkunde vom 02.04.2014

Am 09.12.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der ein Vertreter des Bundesamtes nicht teilnahm. Die Beschwerdeführerin legte zunächst folgende Unterlagen vor:

-        Ausweis des Samariter Bundes mit Gültigkeit ab 2018

-        Empfehlungsschreiben vom 07.12.2020

-        Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit seit Februar 2018 im Internetcafé ZwischenSchritt vom 01.12.2020,

-        Lohnzetteln für September und Oktober 2020 für den Ehemann der Beschwerdeführerin.

Weiters führte die Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen aus, dass sie aufgrund der Tatsache, dass die Entlassung ihres Bruders aus dem Gefängnis bevorgestanden sei, ihren Heimatstaat habe verlassen müssen. Außerdem habe sich ihr Ehemann zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich befunden, sodass sie zu ihm gewollt habe. Ihr Reisepass sei ihr bei der Einreise vom Schlepper abgenommen worden. Auf Vorhalt, die Beschwerdeführerin habe beim Bundesamt ausgesagt, ihr Reisepass sei abgelaufen und sie hätte keinen neuen erhalten, führt die Beschwerdeführerin aus, ihr sei tatsächlich der Reisepass vom Schlepper abgenommen worden. Sie habe allerdings Angst gehabt abgeschoben zu werden, weshalb sie vor dem Bundesamt falsche Angaben gemacht habe. Darüber hinaus änderte die Beschwerdeführerin ihre bisherige Aussage dahingehend, dass sie bereits am 02. Jänner 2015 und nicht wie ursprünglich angegeben am 25.03.2015, aus Aserbaidschan ausgereist sei. Sie sei somit seit Jänner 2015 in Europa gewesen. Sie habe in Budapest auf den Kontaktmann gewartet und sei anschließend im März 2015 nach Österreich gekommen.

Von der im April 2014 stattfindenden Heirat sei nur ihre Mutter in Kenntnis gewesen, diese sei sonst geheim gehalten worden. Die Geheimhaltung vor dem Vater sei erfolgt, da die Beschwerdeführerin Angst gehabt habe, dass der Vater gegen diese Heirat sei. Ihr Vater habe erst später davon erfahren. Als er schließlich davon erfahren habe, sei er böse gewesen. Für ihn sei die Hochzeit eine Erniedrigung und Ehrenbeleidigung gewesen. Er sei nicht böse gewesen, dass die Beschwerdeführerin einen Flüchtling geheiratet habe, sondern, dass er nichts davon gewusst habe. Der Vater sei bereits herzkrank gewesen, sodass sein Herz sehr schwach gewesen sei. Er sei nach der Ausreise der Beschwerdeführerin, im November 2015, gestorben. Der Bruder habe die Beschwerdeführerin für den Tod des Vaters verantwortlich gemacht, da sie den Vater erniedrigt und gekränkt habe und er aus diesem Grund einen Herzinfarkt erlitten habe. Der Bruder habe von der Hochzeit auch zu einem späteren Zeitpunkt erfahren, wobei die Beschwerdeführerin keinen konkreten Zeitpunkt nennen könne. Sie glaube, es sei nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gewesen. Über die Drohungen ihres Bruders habe die Beschwerdeführerin erst in Österreich erfahren. Die Drohungen seien ihr über die Mutter, mit der sie in Kontakt stehe, ausgerichtet worden. Der Bruder habe gedroht die Beschwerdeführerin umzubringen, falls sie zurückkehre. Für ihn sei die Heirat eine Ehrenbeleidigung gewesen, da die Beschwerdeführerin im Alter von fünf Jahren einem anderen Mann versprochen worden sei. Weshalb der Bruder im Gefängnis gewesen sei, wisse sie allerdings nicht. Die Beschwerdeführerin habe bei der Polizei keine Anzeige gegen ihren Bruder erstattet, da sich die Polizei bei Familienangelegenheiten nicht einmische. Sie habe keinen Sinn gesehen zur Polizei zu gehen, diese leiste bei derartigen Angelegenheiten keine Hilfe.

Auf Vorhalt der Richterin, dass eine in Aussicht gestellte Zwangsheirat keine ernstzunehmende Gefahr gewesen sein kann, wenn die Beschwerdeführerin bis zu ihrem XXXX Lebensjahr noch nicht zwangsweise verehelicht wurde, gab die Beschwerdeführerin an, sie habe lange auf ihren Traummann gewartet und habe nur aus Liebe heiraten wollen. Sie habe bereits unterschiedliche Angebote erhalten, habe aber auf ihren Mann bis zum XXXX Lebensjahr gewartet. Die Beschwerdeführerin könne den Namen des Mannes – dem sie mit fünf Jahren versprochen gewesen sei – nicht nennen, sie habe diesen Mann noch nie gesehen. Auf Vorhalt der Anfragenbeantwortung der Staatendokumentation vom 25.01.2012 (richtig 25.04.2012), dass vor dem Hintergrund der Berichte und den Angaben über den Lebenslauf der Beschwerdeführerin das Vorbringen über die Zwangsverehelichung nicht glaubhaft erscheine, führte die Beschwerdeführerin aus, zwar in einer modernen Familie aufgewachsen zu sein, allerdings sei ihr Vater sehr streng gewesen. Er habe die Beschwerdeführerin stets unterdrückt und darauf geachtet, mit wem sie Umgang habe. Es sei in ihrer Gesellschaft üblich, dass eine Frau – auch wenn sie über XXXX Jahre alt sei – ihren Vater um Erlaubnis für die Heirat fragen müsse, da die Gesellschaft sehr streng sei und vor allem ihr Vater sei besonders streng gewesen.

Darüber hinaus sei die Beschwerdeführerin von einem Polizisten bedroht worden. Er habe sie immer in der Arbeit besucht und habe etwas mit ihr unternehmen wollen. Allerdings habe jeder gewusst, dass die Beschwerdeführerin verheiratet sei. Auf Vorhalt der Richterin, die Beschwerdeführerin habe erklärt, dass die Hochzeit geheim gehalten worden sei und sie diese verschwiegen habe, erklärte die Beschwerdeführerin, sie habe dem Polizisten mitgeteilt, dass sie verheiratet sei. Es würde das Sprichwort gelten „Die Frau ist verheiratet, sie ist keine Jungfrau mehr. Sie kann jetzt ausgehen und muss nicht mehr auf ihre Jungfräulichkeit aufpassen, vor allem wenn der Mann weit weg ist.“ Auf die Frage, wie die Drohung seitens des Polizisten genau ausgesehen hätten, gab die Beschwerdeführerin an, dieser habe mit ihr Essen gehen und sich mit ihr unterhalten wollen. Auf nochmalige Nachfrage, gab sie an, dass Frauen ohne ihren Mann nicht geschützt seien und ihr Mann sei weit weg gewesen. Eine Anzeige gegen den Polizisten habe die Beschwerdeführerin allerdings nicht erstattet.

Zu ihrem Leben in Österreich führte die Beschwerdeführerin aus, in der Grundversorgung zu sein. Ihr Mann sei seit bereits zwei Jahren bei einem Lebensmittelmarkt tätig. Die Beschwerdeführerin betätige sich ehrenamtlich seit 2018 für den Samariter Bund. In der Zeit XXXX sei die Beschwerdeführerin zusätzlich als Kinderbetreuerin in der VHS Brigittenau tätig gewesen und habe dafür je € 90,- monatlich erhalten. In Österreich lebe nur ihr Ehemann. Sie habe allerdings viele Freunde und Bekannte, die sie im Rahmen der diversen Kursbesuche kennengelernt habe. Die Beschwerdeführerin sei willig zu arbeiten, habe allerdings keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und keine Arbeitsgenehmigung. Auf Vorhalt der Richterin, ob sie in Betracht gezogen hätte, eine für Asylwerber zugängliche Tätigkeit (z.B. als Erntehelfer) auszuüben, führte die Beschwerdeführerin aus, von dieser Möglichkeit bislang keine Kenntnis gehabt zu haben. Sie sei beim AMS gewesen, wobei ihr erklärt worden sei, ohne den Bescheid nicht erwerbstätig sein zu können. Einen diesbezüglichen Nachweis vom AMS könne sie allerdings nicht vorlegen.

Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann hätten einen Kinderwunsch, wobei ebenfalls die Durchführung einer künstlichen Befruchtung in Betracht gezogen werde. Auf die Frage der Richterin, wie die Ehegatten für den Unterhalt eines Kindes aufkommen wollten, gab die Beschwerdeführerin an, dass ihr Ehemann ohnehin berufstätig sei und sie ebenfalls bei einem Lebensmittelmarkt arbeiten wolle. Eine schriftliche Zusage liege allerdings nicht vor. Darüber hinaus könne man auch einen Kredit aufnehmen.

Der Ehemann der Beschwerdeführerin brachte in der mündlichen Verhandlung als Zeuge vor, dass er beabsichtige seine wöchentlichen Arbeitsstunden aufzustocken. Derzeit arbeite er 30 Stunden in der Woche. Er habe bei seinem Vorgesetzten bereits um eine Stundenaufstockung angefragt, sei allerdings aufgrund der noch fehlenden Erfahrung vertröstet worden. Im Übrigen sei es für den Ehemann nicht zumutbar seine Ehefrau in den Aserbaidschan zu begleiten, da er seinen gesicherten Status als Asylberechtigter in Österreich aufgeben und verlieren müsste. Im Gegenzug würde er möglicherweise eine vorübergehende Aufenthaltsberechtigung in Aserbaidschan unter ungesicherten Bedingungen erhalten. Er bestätigte die von der Beschwerdeführerin angegebenen Bedrohungen bei einer Rückkehr in den Heimatstaat, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sie einem anderen Mann versprochen worden sei.

Der Beschwerdeführerin wurden zusammen mit der Ladung folgende Erkenntnisquellen (Länderfeststellungen) übermittelt:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.04.2020

-        BTI 2020 Country Report Azerbaijan

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.03.2019

Im Zuge der mündlichen Verhandlung gab die Beschwerdeführerin dazu folgende Stellungnahme ab: Die Länderberichte würden grundsätzlich zur Kenntnis genommen werden. Aus der Anfragebeantwortung vom 13.03.2019 ginge eine theoretische Möglichkeit für den Ehegatten der Beschwerdeführerin eine temporäre Aufenthaltsberechtigung in Aserbaidschan zu erlangen, allerdings sei fraglich, ob dies auch praktisch durchführbar wäre. Der Ehegatte sei der Landessprache Aserbaidschans nicht mächtig und verfüge über keine realistische Möglichkeit einer Tätigkeit nachzugehen und somit die finanzielle Grundlage für die Erlangung eines Aufenthaltstitels der Aufenthaltsbehörde nachzuweisen. Darüber hinaus gehe aus der Anfragebeantwortung nicht hervor, ob der Aufenthaltstitel ebenfalls an Personen erteilt werden könnte, denen in Europa internationaler Schutz gewährt worden sei. In Aserbaidschan könne die Beschwerdeführerin auch nicht auf die Unterstützung ihrer Kernfamilie zurückgreifen – der Vater sei bereits verstorben, mit dem Bruder sei die Beschwerdeführerin verfeindet bzw. von diesem sogar bedroht worden und die Mutter wäre zu einer Unterstützung nicht in der Lage. Vor diesem Hintergrund seien die Beschwerdeführerin und ihr Ehegatte nicht in der Lage ihr schützenswertes Eheleben, welches sie seit 2014 in Österreich führten, in Aserbaidschan auch tatsächlich fortsetzen zu können. Eine allfällige Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführerin stelle daher einen unzulässigen Eingriff in ihr Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienleben gem. Art 8 EMRK.

Am 16.12.2020, 21.12.2020 und 31.12.2020 legte die Beschwerdeführerin, die im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 09.12.2020 aufgetragenen Unterlagen vor:

-        Lohnzettel für den Zeitraum 01.01.2019 bis 04.06.2019 für den Ehegatten

-        Lohnzettel für den Zeitraum 05.06.2019 bis 31.12.2019 für den Ehegatten

-        Jahreslohnzettel für den Zeitraum 01/2020 bis 10/2020 für den Ehegatten

-        Bestätigung der Caritas über GVS-Leistungsbezug vom 07.12.2020

-        Bestätigung der Caritas über GVS-Leistungsbezug vom 18.12.2020

Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungssauschusses vom 14. 1. 2021 wurde gegenständlicher Verwaltungsakt der Richterin Mag. SCHREY LL.M. abgenommen und der erkennenden Richterin zugewiesen.

Am 13.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der ein Vertreter des Bundesamtes nicht teilnahm. Die Beschwerdeführerin legte zunächst ein Zertifikat über die erfolgreich abgelegte Deutschprüfung auf dem Niveau C1 vom 08.06.2021, eine Deutschkursbestätigung des Ute Bock Bildungszentrums vom XXXX sowie ein Empfehlungsschreiben der Kursleiterin des Ute Bock Bildungszentrum vom XXXX , vor.

Zu ihren Fluchtgründen führte die Beschwerdeführerin nochmals aus, jenen Mann nicht zu kennen, dem sie im Alter von fünf Jahren versprochen worden sei, da sie diesen nie kennengelernt habe. Ihr Vater hätte mit irgendwem eine Vereinbarung diesbezüglich getroffen. Als sie XXXX Jahre alt gewesen sei, habe sie schließlich ihren Ehemann kennen gelernt. Seitens ihrer Familie habe es immer wieder Versuche gegeben, die Beschwerdeführerin mit jemandem zu verheiraten. Die Beschwerdeführerin habe die Männer kennengelernt, allerdings habe es keine diesbezügliche Fortsetzung gegeben. Die meisten seien zu ihr in die Arbeit gekommen und hätten sich bei ihr vorgestellt. Die Beschwerdeführerin habe mehrere Möglichkeiten gehabt, zu heiraten, allerdings habe sie dies nicht gewollt. Ihr Vater sei deswegen „sauer“ gewesen. Auch der Bruder sei aus diesem Grund böse gewesen, da beide besonders streng gewesen seien. Auf Nachfrage der Richterin, dass der Vater und der Bruder nicht derart streng gewesen seien, dass sie die Beschwerdeführerin gezwungen hätten jemanden zu heiraten, führte diese aus, es sei ihr Charakter gewesen – wenn sie etwas nicht wolle, dann mache sie es auch nicht. Aus diesem Grund habe es immer wieder Konflikte, in Form von Streitigkeiten, mit dem Vater und dem Bruder gegeben. Bei ihrer Rückkehr fürchte die Beschwerdeführerin ihren Bruder, der sie „nicht in Ruhe lassen wird“. Dieser befinde sich nicht mehr im Gefängnis und sei auf freiem Fuß. Er sei aus dem Gefängnis entlassen, nachdem die Beschwerdeführerin nach Europa gekommen sei. Außerdem müsste sie sich von ihrem Ehemann trennen. Sie wünsche sich hingegen ein gemeinsames Leben mit ihrem Ehemann und wolle mit ihm eine große Familie gründen.

Zu ihrem Leben in Österreich führte die Beschwerdeführerin aus, künftig den Beruf der Pflegeassistentin ausüben zu wollen. Sie habe schließlich eine Ausbildung als Hebamme abgeschlossen. Sie wolle älteren und kranken Menschen zur Seite stehen und ihnen helfen. Derzeit arbeite sie ehrenamtlich im Internetcafé ZwischenSchritt, wobei sie bereits seit Februar 2018 dort tätig sei. Ihr Mann arbeite beim einem Lebensmittelmarkt in der Getränkeabteilung. Darüber hinaus habe die Beschwerdeführerin bereits viele Freunde in Österreich gewonnen. Zum Auszug aus dem Länderinformationsblatt betreffend Rechtschutz führt die Beschwerdeführerin aus, dass in Aserbaidschan keine Zentren existieren würden, die Frauen Zuflucht gewährten. Es herrsche ebenfalls keine Gleichberechtigung für Frauen. Oft müssten sich Frauen Annäherungsversuche gefallen lassen, um ihren Job behalten zu können. Ebenfalls seien Frauen bei der Entlohnung schlechter gestellt. Während der Pandemie sei die Wirtschaft wesentlich schlechter geworden. In Österreich hingegen gäbe es Freiheit für Frauen.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurden der bevollmächtigten Vertreterin der Beschwerdeführerin die Länderfeststellungen zur Situation in Aserbaidschan (Gesamtaktualisierung am 16.04.2020) und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.03.2019 „Aserbaidschan: Aufenthaltsberechtigung für ausländische Ehepaare“ übergeben, wozu dieser eine zweiwöchige Frist zur Abgabe einer Stellungnahme gewährt wurde.

Mit Schriftsatz vom 13.07.2021 wurde eine Stellungnahme zu den Länderberichten und zu der Anfrage der Staatendokumentation eingebracht, in der die Beschwerdeführerin erklärt, dass es ihrem Ehemann nicht zugemutet werde könne, die Beschwerdeführerin nach Aserbaidschan zu begleiten. Er habe schließlich in Österreich Arbeit gefunden und sich die deutsche Sprache angeeignet. Die Beschwerdeführerin hätte daher in Aserbaidschan – bis auf ihre Mutter, die bereits eine ältere Dame mit gesundheitlichen Problemen sei – keinerlei Unterstützung. Ansonsten befinde sich in Aserbaidschan der Bruder der Beschwerdeführerin, vor dem sich die Beschwerdeführerin fürchte. Als Frau könne die Beschwerdeführerin etwaige Übergriffe durch ihren Bruder nicht effektiv zur Anzeige bringen. Insbesondere gehe aus dem aktuellen Länderinformationsblätter, Kapitel „Rechtschutz und Justizwesen“ hervor, dass keine unabhängige Justiz vorhanden sei. Die Regierung mische sich massiv ein und die RichterInnen seien korrupt. Darüber hinaus sei dem Kapitel „Frauen“ zu entnehmen, dass häusliche Gewalt weiterhin als Familienproblem angesehen werden würde, sodass die Beschwerdeführerin bei allfälligen Übergriffen seitens ihres Bruders nicht auf einen schutzwilligen und –fähigen Staat vertrauen könne. Die Regierung sei nur begrenzt in der Lage Frauen, die Opfer von Körperverletzungen würden, Schutz zu bieten. All diese Informationen fänden im Vorbringen der Beschwerdeführerin Deckung. Im Übrigen habe Aserbaidschan die Istanbul-Konvention nicht unterzeichnet. Ein Bericht von Amnesty International von März 2021, habe angegeben, dass es zuletzt einen Anstieg von Suiziden von Gewaltopfern gab und die Täter unbestraft blieben. Die Situation von Frauen sei in Aserbaidschan besonders schwierig. Die Beschwerdeführerin sei bereits seit über sechs Jahren in Österreich und habe bewiesen, dass sie eine eigenständige Frau sei, die sich aus den Zwängen der aserbaidschanischen Gesellschaft befreit habe. So habe sie zahlreiche Kurse besucht, arbeite ehrenamtlich und spreche Deutsch auf C1-Niveau. Gemeinsam mit ihrem Ehemann wolle die Beschwerdeführerin ihren Kinderwunsch verwirklichen. Jedenfalls sei die außergewöhnliche Integration sowie das Familienleben der Beschwerdeführerin bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin ist aserbaidschanische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Aserbaidschaner an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Ihre Muttersprache ist aserbaidschanisch. Zusätzlich spricht die Beschwerdeführerin Russisch, Türkisch, Englisch und Deutsch. Sie stellte am 31.03.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest.

Die Beschwerdeführerin wurde in Aserbaidschan geboren und lebte bis zu ihrer Ausreise in XXXX . Sie besuchte elf Jahre lang eine Schule in XXXX , welche sie mit Matura abschloss. Von 1995 bis 1998 besuchte sie eine medizinische Fachhochschule und absolvierte eine Ausbildung als Hebamme. In der Zeit von 2000 bis 2002 war sie an derselben Fachhochschule als Assistentin tätig. Ab 2002 absolvierte die Beschwerdeführerin eine EDV-Ausbildung und war anschließend bei verschiedenen Unternehmen tätig. Zuletzt, vor ihrer Ausreise, übte sie die Tätigkeit der Bürokauffrau in einem Unternehmen aus. Dies umfasste den Zeitraum 2012 bis 2014.

Im Herkunftsland leben die Mutter sowie der Bruder der Beschwerdeführerin. Ihr Vater ist im Jahr 2015, nach der Ausreise der Beschwerdeführerin, gestorben. Zu ihrer Mutter hält die Beschwerdeführerin weiterhin den Kontakt aufrecht.

Seit April 2014 ist die Beschwerdeführerin mit XXXX verheiratet. Gemeinsame Kinder sind derzeit nicht vorhanden. Die Beschwerdeführerin ist seit der Stellung des Antrages auf internationalen Schutz durchgehend an der identen Adresse wie ihr Ehemann im Bundesgebiet gemeldet.

Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach sie von ihrem Bruder sowie vom Polizisten bedroht wird und um ihr Leben fürchten müsste, falls sie nach Aserbaidschan zurückkehre, hat sich als nicht glaubhaft erwiesen. Auch das Vorbringen, die Beschwerdeführerin sei im Alter von fünf Jahren jemandem versprochen worden, hat sich als nicht glaubhaft erwiesen.

Die Beschwerdeführerin ist im Fall ihrer Rückkehr in den Aserbaidschan keiner Verfolgung ausgesetzt.

In Österreich lebt die Beschwerdeführerin im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehemann, welcher in Österreich asylberechtigt ist. Sie befindet sich in der Grundversorgung, ihr Ehemann ist als 30-Stunden Kraft bei einem Lebensmittelmarkt tätig. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich unbescholten sowie gesund und erwerbsfähig. Sie absolvierte diverse Deutschkurse und verfügt nun über Deutschkenntnisse auf dem Niveau C1. Darüber hinaus bestritt die Beschwerdeführerin diverse Kurse beim Samariter Bund, dessen Mitglied sie seit 2018 ist. Im Rahmen des Projektes „Integration ab Tag 1“ war die Beschwerdeführerin in der Zeit vom XXXX ehrenamtlich als Kinderbetreuerin tätig. Daneben betätigt sie sich seit Februar 2018 in Rahmen eines Projektes des Samariter Bundes im Internetcafé ZwischenSchritt ebenfalls ehrenamtlich.

Langfristig strebt die Beschwerdeführerin eine Ausbildung als Pflegeassistentin sowie die anschließende Erwerbstätigkeit an. Um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit unterbeweis stellen zu können, beabsichtigt sie vorerst die Aufnahme einer Tätigkeit in einem Lebensmittelmarkt. Die Bemühungen der Beschwerdeführerin äußern sich insbesondere in den vorgelegten Zeugnissen sowie allerlei Empfehlungsschreiben. Diese spiegeln das Bemühen und Engagement der Beschwerdeführerin sowohl die deutsche Sprache zu erlernen als auch ihre Integration voran zu treiben. Die Beschwerdeführerin konnte schon zahlreiche sozialen Kontakte im Rahmen der diversen Kursbesuche knüpfen.

Allgemeine Länderinformation der Staatendokumentation, Stand 16. 4. 2020

Lage aufgrund der Corona-Pandemie

In Aserbaidschan wurden bis 28.09.2020 40023 Corona-Infektionen nachgewiesen, 586 Menschen sind verstorben. 37655 Menschen sind wieder genesen.

Die Regierung ordnete eine Ausgangssperre im ganzen Land per 31.3. an; diese wurde per 4.5. für die Großstädte , Ganja, Sumgait, Lankaran und Absheron rayon bis 5.8.2020 verlängert. Im Zeitraum 5.7.-5.8. durften alle Menschen in diesen Städten (Ausnahme Lankaran) und in den Regionen Masalli, Jalilabad, Yevlakh, Goranboy, Mingachevir, Goygol, Barda, Khachmaz, Siyazan und Sheki nur mit schriftlicher Genehmigung, die per SMS beantragt wird, ihre Wohnungen verlassen.

Nach Analyse der aktuellen Situation wurde die Sonderquarantäne zunächst bis zum 30. September 2020 und nunmehr bis 2. November 2020 verlängert.

Die Einreise nach Aserbaidschan ist für alle ausländischen Staaten beschränkt. Nur aserbaidschanische Staatsbürger, ihre Familienangehörigen und bestimmte Personengruppen dürfen nach Aserbaidschan einreisen;

Bei einer eventuellen Einreise nach Aserbaidschan müssten ausländische Staatsangehörige damit rechnen, in Quarantäne-Einrichtungen (zwei oder drei Wochen) verbracht zu werden.

Die Land- und Seegrenzen zum Iran, Armenien, Georgien, Russland, Kasachstan und Turkmenistan und der Türkei sind für den Reiseverkehr geschlossen.

Der öffentliche und private Verkehr von und nach , Sumgait, Ganja, Lankaran und Absheron rayon, Masalli, Jalilabad, Yevlakh, Goranboy, Mingachevir, Goygol, Barda, Khachmaz, Samukh, Siyazan und Sheki wird mit Ausnahmen zB für Fracht verboten. Der private Reiseverkehr zwischen anderen Regionen von Aserbaidschan ist seit 4.5. frei.

Der staatliche Migrationsdienst hilft bei der Verlängerung eines Aufenthaltstitels und kein Ausländer wird in der Coronaviruskrisezeit in diesem Zusammenhang bestraft.

Quellen: https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-aserbaidschan.html

https://www.aserbaidschan.ahk.de/news-covid-19/live-ticker-neueste-updates-zu-coronavirus

https://news.google.com/covid19/map?hl=de&mid=%2Fm%2F0jhd&gl=AT&ceid=AT%3Ade

Lage aufgrund des Konfliktes in Berg-Karabach

Am 27. September 2020 sind erneut Kampfhandlungen an der Line of Contact zwischen der Region Bergkarabach und den besetzten Gebieten südlich und östlich von Bergkarabach und Armenien ausgebrochen. Die Regierung von Aserbaidschan hat das Kriegsrecht und eine Teilmobilmachung, die „Regierung“ von Bergkarabach und der anderen besetzten Gebiete eine Generalmobilmachung ausgerufen. In Aserbaidschan gilt eine nächtliche Ausgangssperre von 21 bis 6 Uhr, von der Fahrten von und zum Flughafen ausgenommen sind. Der Flugverkehr ist bis auf Verbindungen in die Türkei vorübergehend ausgesetzt. Internetdienste können nur eingeschränkt verfügbar sein. Die weitere Entwicklung ist derzeit nicht absehbar.

Quelle: https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/aserbaidschansicherheit/201888

Sonstige Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
1.         Politische Lage

Letzte Änderung: 16.4.2020

Aserbaidschan ist ein säkularer Staat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Es herrscht ein im regionalen Vergleich bemerkenswertes Maß an Religionsfreiheit und religiöser Toleranz (AA 22.2.2019). Aserbaidschan ist eine Präsidialrepublik (AA 22.2.2019). Die Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Vollmachten ein. Der Präsident ernennt und entlässt den Ministerpräsidenten und die Minister, die allein ihm verantwortlich sind. Er ist dem Parlament (Milli Mejlis) gegenüber nicht verantwortlich (AA 26.2.2020a). Die Nationalversammlung (Milli Mejlis) wirkt an der Gesetzgebung mit, spielt aber eine deutlich nachgeordnete Rolle. Staatspräsident Ilham Aliyev, der 2003 seinem Vater Heydar Aliyev nachgefolgt ist, dominiert das politische Leben (AA 22.2.2019). Obwohl Präsident Ilham Aliyev, immer noch der mächtigste Mann im Land ist, hat er im Gegensatz zu seinem verstorbenen Vater nur eine begrenzte Autorität, da er die Macht mit einigen sehr mächtigen Staatsbeamten und Oligarchen teilen muss. Das Parlament und die kommunalen Vertreter, obgleich vom Volk nominell gewählt, bleiben passive Teilnehmer im politischen Entscheidungsprozess. Parlamentarier sind oft Schützlinge und Verwandte von Oligarchen und einflussreichen Exekutivfunktionären. Sie führen lediglich Aufträge aus, die sie direkt vom Präsidentenbüro erhalten, das de facto der alleinige bestimmende Akteur der Legislative ist (BTI 2018).

Die Präsidentschaftswahlen am 11.04.2018 entsprachen nach Ansicht der internationalen Wahlbeobachter und des Auswärtigen Amts nicht den international anerkannten Standards. Das Wahlbeobachtungsamt der OSZE/ODIHR hatte zuvor am Monitoring der Parlamentswahlen am 01.11.2015 nicht teilgenommen. Während die Regierung regelmäßig auf administrative Ressourcen und die staatlich kontrollierten elektronischen Medien zurückgreift, werden die Versuche der Opposition sich öffentlich zu versammeln oder sonst öffentlich wahrnehmbar zu äußern, deutlich erschwert. Die Verfassung enthält den Grundsatz der Gewaltenteilung. Parteien sind in Aserbaidschan nur rudimentär ausgeprägt. Die Rechtsprechung wird durch den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, Berufungsgerichte, erstinstanzliche Bezirksgerichte und Gerichte mit Sonderzuständigkeiten ausgeübt (AA 22.2.2019).

Die Nationalversammlung ist seit 2005 ein Einkammerparlament mit 125 Mitgliedern. Alle Sitze werden in Einpersonenwahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben, ein Platz bleibt für Bergkarabach vakant. Die Legislaturperiode beträgt fünf Jahre (aktives Wahlrecht ab 18, passives ab 25 Jahre) (LIPortal 4.2018).

Bei der Parlamentswahl [Februar 2020] hat die bisherige Regierungspartei nach offiziellen Angaben die absolute Mehrheit geholt. Die Partei des seit 2003 mit harter Hand regierenden Präsidenten Ilham Alijew hat sich bei der vorgezogenen Wahl 65 der 125 Sitze im Parlament gesichert (DW 10.2.2020).

Internationale Wahlbeobachtungsmissionen stellten ernsthafte Unregelmäßigkeiten in allen Phasen des Wahlprozesses fest (vgl. DW 10.2.2020) und kritisierten den Mangel an echtem demokratischen Wettbewerb. Aserbaidschan ist Mitglied des Europarats und Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention. Jedoch unterliegen Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit erheblichen Einschränkungen. Die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen ist deutlich erschwert (AA 26.2.2020a).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458485/4598_1551701778_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-aserbaidschan-stand-februar-2019-22-02-2019.pdf, Zugriff 25.7.2019

-        AA – Auswärtiges Amt (26.2.2020a): Aserbaidschan: Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aserbaidschan-node/aserbaidschan-portrait/202964, Zugriff 14.4.2020

-        BTI - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 Country Report Azerbaijan, https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Azerbaijan.pdf, Zugriff 23.7.2019

-        DW – Deutsche Welle (10.2.2020): Absolute Mehrheit für Alijews „Neues Aserbaidschan“, https://www.dw.com/de/absolute-mehrheit-f%C3%Bcr-alijews-neues-aserbaidschan/a-52320887, Zugriff 16.4.2020

-        LIPortal – Länderinformationsportal (4.2018): Aserbaidschan, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/aserbaidschan/geschichte-staat/#c6951, Zugriff 21.1.2020

2.       Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.4.2020

Die Kriminalitätsrate in Aserbaidschan ist niedrig. Von Reisen in die Region Bergkarabach sowie in die im Südwesten Aserbaidschans gelegenen, von armenischen Streitkräften besetzten und nur über die Republik Armenien zu erreichenden Bezirke Agdam, Füsuli, Dschabrayil, Sangilan, Kubadli, Ladschin und Kalbadschar wird dringend abgeraten. Dies gilt auch für die unmittelbar auf aserbaidschanischer Seite der Waffenstillstandslinie (Kontaktlinie) angrenzenden Gebiete. Es muss dort, sowie an der aserbaidschanisch-armenischen Landesgrenze, einschließlich der Grenze zwischen der aserbaidschanischen Autonomen Republik Nachitschewan und Armenien, mit Schusswechseln gerechnet werden. An der Waffenstillstandslinie kommt es immer wieder zu Schusswechseln, außerdem besteht Minengefahr (AA 14.4.2020).

Trotz des Waffenstillstandes kommt es entlang der Waffenstillstandslinie immer wieder zu gewaltsamen Zwischenfällen mit Todesopfern. Ein Sicherheitsrisiko besteht für die Region Bergkarabach und die angrenzenden Bezirke (Agdam, Füsuli, Dschabrayil, Sangilan, Kubadli, Ladschin und Kalbadschar) (BMEIA 14.4.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (14.4.2020): Aserbaidschan: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aserbaidschan-node/aserbaidschansicherheit/201888, Zugriff 14.4.2020

-        BMEIA – BM Europa, Integration und Äußeres (14.4.2020): Aserbaidschan, Reise und Aufenthalt, Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/aserbaidschan/, Zugriff 14.4.2020

2.1.    Regionale Problemzone Bergkarabach

Letzte Änderung: 14.4.2020

Am 26. Nov. 1991 hob Aserbaidschans Parlament den seit 1923 geltenden Status von Bergkarabach als Autonomes Gebiet auf; am 6. Jan. 1992 erklärte sich Bergkarabach unter Einbeziehung der Provinz Schaumjan unter dem bereits am 2. Sept. 1991 angenommenen Namen Republik Bergkarabach einseitig für unabhängig. Im Kampf um das 1991 zu 75,2% von Armeniern und zu 21,0% von Aserbaidschanern bewohnte Gebiet wurden bis Mitte 1993 insgesamt 16,4% des aserbaidschanischen Staatsgebiets von Armeniern besetzt. Es steht nicht nur das Gebiet von Bergkarabach außerhalb der Kontrolle der Regierung Aserbaidschans, sondern auch die benachbarten Provinzen Kelbadschar (Kälbäcär) Fizuli (Füzuli), Kubatli (Qubadli), Dschebrail (Cäbrayil), Zangelan (Zängilan), Agdam, Latschin (Laçin) und Schuscha (Susa) sind von armenischen Truppen besetzt. Seit dem 16. Mai 1994 gilt ein Waffenstillstandsabkommen. Die Kämpfe kosteten insgesamt 43.000 Menschenleben und machten 1,2 Mio. Menschen zu Flüchtlingen bzw. Vertriebenen. Die Zahl der in anderen Landesteilen lebenden aserbaidschanischen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Kampfgebiet wurde 2006 (je nach Quelle) noch mit 528.000 bzw. 580.000 bis 690.000 angegeben. Eine Friedenslösung, um die sich die OSZE seit vielen Jahren bemüht, konnte bislang nicht erzielt werden. Seit 1998 finden Friedensverhandlungen auf der Ebene der in unregelmäßigem Turnus stattfindenden Treffen der Staatspräsidenten Aserbaidschans und Armeniens statt (LIPortal 4.2018).

Die Region Bergkarabach und die sieben angrenzenden Bezirke sind von Armenien militärisch besetzt. Sie sind für Aserbaidschaner nicht zugänglich. Seit 1994 herrscht ein Waffenstillstand, der regelmäßig von beiden Seiten, entlang der sog. „Kontaktlinie“ verletzt wird (AA 22.2.2019). Entlang der Kontaktlinie und entlang der armenisch-aserbaidschanischen Staatsgrenze kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen mit Toten und Verletzten. Die Konfliktgebiete sind teilweise stark vermint (EDA 14.4.2020; vgl. AA 14.4.2020b).

Die de facto „Republik Bergkarabach“ wird von keinem Staat anerkannt und ist in jeder Hinsicht von der Republik Armenien abhängig. Aserbaidschan strebt eine Friedensvereinbarung und die Rückgabe der besetzten Gebiete an, mit dem Ziel, die Binnenflüchtlinge in ihre Heimatregionen rückzusiedeln (AA 22.2.2019).

Separatisten kontrollierten, mit armenischer Unterstützung, weiterhin den größten Teil von Bergkarabach und sieben umliegende aserbaidschanische Gebiete. Der endgültige Status von Bergkarabach blieb Gegenstand einer internationalen Vermittlung durch die Minsk-Gruppe der OSZE. Die Gewalt entlang der Kontaktlinie blieb das ganze Jahr über gering (USDOS 11.3.2020).

Detaillierte Informationen zu Bergkarabach finden sich im Länderinformationsblatt ARMENIEN

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458485/4598_1551701778_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-aserbaidschan-stand-februar-2019-22-02-2019.pdf, Zugriff 25.7.2019

-        AA - Auswärtiges Amt (14.4.2020b): Aserbaidschan, Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aserbaidschan-node/aserbaidschansicherheit/201888, Zugriff 14.4.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (21.1.2020): Reisehinweise für Aserbaidschan, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/aserbaidschan/reisehinweise-fueraserbaidschan.html, Zugriff 14.4.2020

-        LIPortal – Länderinformationsportal (4.2018): Aserbaidschan, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/aserbaidschan/geschichte-staat/#c6951, Zugriff 21.1.2020

-        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Azerbaijan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026380.html, Zugriff 7.4.2020


3.         Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 10.4.2020

Ungeachtet zahlreicher Gesetze, die sich an westlichen Standards orientieren, bleibt die Rechtsanwendung hinter den Standards des Europarats zurück. Die Rechtsprechung ist zwar formell unabhängig, steht aber faktisch unter dem Einfluss der Regierungsgewalt. Insbesondere in den Verfahren, die von politischer Bedeutung sind (wie z.B. Strafverfahren gegen kritische Journalisten und oppositionelle Menschenrechtsaktivisten), scheinen die Urteile politischen Vorgaben zu folgen. Bei Urteilen zulasten der Regierung sind Umsetzung bzw. Vollstreckung problematisch. In politisch relevanten Fällen wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung, den die Verfassung in Art. 63 garantiert, regelmäßig nicht beachtet; Erklärungen der Staatsanwaltschaft und des Innenministeriums enthalten oft Vorverurteilungen. Eine Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die nach Merkmalen wie Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe diskriminiert, lässt sich grundsätzlich nicht feststellen. Personen, die des Umsturzversuches oder des Terrorismus bezichtigt werden, müssen aber in besonderem Maße mit langjährigen Haftstrafen rechnen. Auf Jugendliche über 16 Jahre wird Erwachsenenstrafrecht angewendet. Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren sind nur bei bestimmten Verbrechen, wie z.B. Mord, Vergewaltigung und schwerer Sachbeschädigung, strafmündig. Kinder unter 14 sind strafunmündig. Für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren bestehen im Falle der Verhängung einer Freiheitsstrafe Erziehungsanstalten, in die sie eingewiesen werden können. Jeder Bürger des Landes, der sich durch einen Akt staatlicher Gewalt in diesen Grundrechten verletzt sieht, kann im Wege einer Individualbeschwerde den Rechtsweg zum Verfassungsgericht beschreiten (AA 22.2.2019).

Es gibt keine unabhängige Justiz. Die Gerichte sind korrupt und funktionieren als Strafmechanismus in den Händen der Exekutive. Die Situation hat sich durch eine Welle von Berufsverboten unabhängiger Verteidiger weiter verschlechtert. Die Regierung mischt sich massiv ein und hat das letzte Wort bei Gerichtsentscheidungen in politischen, wirtschaftlichen und anderen öffentlich sensiblen Fällen. Verteidiger spielen in hohem Maße nur eine formale Rolle und haben nur geringen Einfluss auf Gerichtsentscheidungen. Die Anwaltskammer wird ebenfalls von der Exekutive kontrolliert und häufig als Instrument zur Bestrafung unabhängiger Verteidiger eingesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) bleibt weitgehend die letzte vertrauenswürdige Chance für Rechtssuchende in Aserbaidschan. In den letzten Jahren hat die Regierung jedoch die Entscheidungen der EMRK verzögert und sogar ignoriert (BTI 2018).

Obwohl die Verfassung eine unabhängige Justiz vorsieht, agierten die Richter nicht unabhängig von der Exekutive. Die Justiz blieb weitgehend korrupt und ineffizient. Viele Urteile waren rechtlich nicht haltbar und standen weitgehend in keinem Zusammenhang mit den während des Prozesses vorgelegten Beweisen. Die Ergebnisse erschienen häufig vorgegeben. Die Gerichte haben es oft versäumt, Vorwürfe der Folter und der unmenschlichen Behandlung von Häftlingen in Polizeigewahrsam zu untersuchen. Das Justizministerium kontrollierte den Justizverwaltungsrat. Der Rat ernennt einen Auswahlausschuss (sechs Richter, einen Staatsanwalt, einen Rechtsanwalt, einen Ratsvertreter, einen Vertreter des Justizministeriums und einen Rechtswissenschaftler), der das gerichtliche Auswahlverfahren und die Prüfung administriert und die langfristige juristischen Ausbildung überwacht. Glaubwürdige Berichte zeigten, dass Richter und Staatsanwälte Anweisungen von der Präsidialverwaltung und dem Justizministerium erhielten, insbesondere in politisch sensiblen Fällen. Es gab glaubwürdige Anschuldigungen, dass Richter routinemäßig Bestechungsgelder annahmen. Am 3. April [2019] unterzeichnete der Präsident ein Dekret über begrenzte Reformen im Justizsektor. Das Dekret forderte eine Erhöhung der Richtergehälter, eine Erhöhung der Zahl der Richterposten (von 600 auf 800), Tonaufnahmen aller Gerichtsverfahren und die Einrichtung spezialisierter Handelsgerichte für Streitigkeiten im Zusammenhang mit Unternehmertum. Das Dekret ordnete auch eine Erhöhung der Mittel für die kostenlose Prozesskostenhilfe an.

Das Gesetz schreibt die Unschuldsvermutung in Strafsachen vor. Es schreibt auch das Recht der Angeklagten vor, unverzüglich über die Anklagepunkte informiert zu werden, ein faires, zeitgerechtes und öffentliches Verfahren zu erhalten, bei der Verhandlung anwesend zu sein, mit einem Anwalt ihrer Wahl zu kommunizieren (oder einen Anwalt auf öffentliche Kosten stellen zu lassen, wenn sie nicht in der Lage sind, die Kosten zu tragen), angemessene Zeit und Einrichtungen zur Vorbereitung der Verteidigung bereitzustellen, vom Zeitpunkt der Anklageerhebung an in allen Berufungsverfahren unentgeltlich Dolmetscher zu stellen, Zeugen bei der Verhandlung entgegenzutreten und Zeugenaussagen in der Verhandlung zu präsentieren und nicht gezwungen zu werden, auszusagen oder sich schuldig zu bekennen. Sowohl Angeklagte als auch Staatsanwälte haben das Recht, Berufung einzulegen. Die Behörden haben diese Bestimmungen in vielen Fällen, die weithin als politisch motiviert galten, nicht eingehalten. Obwohl die Verfassung die Gleichberechtigung von Staatsanwälten und Verteidigern vorschreibt, bevorzugen die Richter bei der Beurteilung von Anträgen, mündlichen Erklärungen und Beweisen, die von Verteidigern vorgelegt werden, oft Staatsanwälte, ohne Rücksicht auf die Begründetheit ihrer jeweiligen Argumente. Die Verfassung verbietet die Verwendung von illegal erlangten Beweisen. Trotz der Behauptungen einiger Angeklagter, dass die Polizei und andere Behörden durch Folter oder Missbrauch eine Zeugenaussage erhielten, berichteten Menschenrechtsbeobachter, dass die Gerichte den Missbrauchsvorwürfen nicht nachgingen, und es gab keinen unabhängigen forensischen Ermittler, der die Behauptungen des Missbrauchs untermauern konnte. Es gab keine wörtlichen Abschriften von Gerichtsverfahren.

Das Gesetz sieht vor, dass Personen, die inhaftiert, verhaftet oder einer Straftat beschuldigt werden, ein ordnungsgemäßes Verfahren erhalten, einschließlich der sofortigen Unterrichtung über ihre Rechte und den Grund ihrer Verhaftung. In Fällen, die als politisch motiviert galten, wurde das ordentliche Verfahren nicht eingehalten, und die Angeklagten wurden unter einer Vielzahl von falschen Anklagen verurteilt. Dem Gesetz nac

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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