TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/25 W207 2201264-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.08.2021
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Entscheidungsdatum

25.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W207 2201264-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.07.2018, Zl. 1119086400-160846279, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 12.03.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte – ebenso wie sein jüngerer, aber ebenfalls volljähriger Bruder - am 15.06.2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Anlässlich seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 16.06.2016 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, in Afghanistan sei sein Leben in Gefahr, er fürchte sich vor den Taliban.

Am 17.04.2018 wurde der Beschwerdeführer durch die nunmehr belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), einvernommen. Der Beschwerdeführer führte zu seinem Fluchtvorbringen im Wesentlichen aus, dass sein Vater in der Herkunftsprovinz und später in Kabul ein Bauunternehmen geführt habe, in das auch der Beschwerdeführer und sein Bruder involviert gewesen seien. Aufgrund von Bauaufträgen auch für den afghanischen Geheimdienst, die sie angenommen hätten, seien sie von den Taliban für Spione gehalten und mit Drohbriefen bedroht worden, woraufhin sie ca. im Jahr 2013 nach Kabul gezogen seien und dort ein Büro eröffnet hätten. Aber selbst nachdem sie die Firma nach Kabul verlegt und dort gelebt hätten, seien sie in Kabul von den Taliban gesucht worden.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 02.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers widersprüchlich und nicht plausibel sei. Eine Rückkehr nach Afghanistan und Ansiedlung etwa in Kabul oder Mazar-e Sharif sei möglich und zumutbar. Es bestehe in Österreich kein schützenswertes Privat- oder Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstünde.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer - ebenso wie sein Bruder, der ebenfalls eine dessen Antrag zur Gänze abweisende Entscheidung der belangten Behörde erhielt - am 13.07.2018 binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe seinem Vorbringen in Verkennung der Sachlage keinen Glauben geschenkt und vorgelegte Beweismittel nicht adäquat gewürdigt.

In einer (gemeinsam mit seinem Bruder eingebrachten) Beschwerdeergänzung vom 04.06.2019 brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er wegen der Tätigkeit des Vaters landesweit durch die Taliban gefährdet sei und insbesondere im Hinblick auf die Versorgungslage in Mazar-e Sharif und Herat sowie in Ermangelung eines sozialen Netzes vor Ort keine interne Schutzalternative gegeben sei.

In der Stellungnahme vom 11.03.2021 zum aktualisierten Länderinformationsblatt brachte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme insbesondere auf Länderberichte und Rechtsprechung zu pandemiebedingten Versorgungssituation im Wesentlichen vor, dass aufgrund der schlechten Versorgungslage landesweit keine zumutbare Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Kabul im Speziellen komme gemäß der UNHCR-Richtlinien nicht infrage. Der Beschwerdeführer sei aufgrund seines psychischen Gesundheitszustandes besonders vulnerabel und infolge seiner verinnerlichten westlichen Einstellung exponiert. Darüber hinaus verfüge er über ein schützenswertes Privat und Familienleben in Österreich.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.03.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers durch, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde.

In einer (gemeinsam mit seinem Bruder) eingebrachten Stellungnahme vom 22.04.2021 brachte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die aktualisierte Fassung des Länderinformationsblattes insbesondere vor, dass er im Falle einer Rückkehr aufgrund seiner persönlichen Situation sowie der prekären Sicherheits- und Versorgungslage in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde. Weiters sei von einer ernsthaften Gesundheitsgefährdung auszugehen, da das afghanische Gesundheitssystem infolge der Pandemie überfordert sei. Darüber hinaus suchte der Beschwerdeführer aufgetretene Widersprüche zwischen seinen Aussagen und jenen seines Bruders im Rahmen der jeweiligen mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht aufzuklären und bezog Stellung zu einem der vorgelegten Beweismittel zum Fluchtvorbringen.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.06.2021, GZ.: W204 2201261-1/22E, wurde die Beschwerde des jüngeren volljährigen Bruders gegen den diesen betreffenden Bescheid des BFA nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in allen Spruchpunkten abgewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Österreich

Der volljährige Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und das im Spruch genannte Geburtsdatum. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und muslimischen Glaubens sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Paschtu. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer reiste im Juni 2016 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 15.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält er sich in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer lebt seit etwa einem Jahr mit seiner Partnerin, welche er einige Monate vor Aufnahme der Beziehung in der Flüchtlingsunterkunft kennengelernt hat und die in Österreich Flüchtlingsstatus in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan besitzt, im gemeinsamen Haushalt. Das Paar ist derzeit unverheiratet und kinderlos. Gegen den mit dem Beschwerdeführer eingereisten Bruder wurde bereits eine Rückkehrentscheidung erlassen. Davon abgesehen verfügt der Beschwerdeführer über keine Familienangehörigen in Österreich, konnte jedoch bereits einige Freundschaften schließen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich Deutsch-und andere Kurse besucht, zuletzt am 16.08.2019 die Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 absolviert und verfügt über gute Deutschkenntnisse. Am 21.01.2021 hat er eine Ausbildung zum Brandschutzwart absolviert.

Bisher ist er in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen und war nicht selbsterhaltungsfähig, sondern bestritt seinen Unterhalt mit Leistungen aus der Grundversorgung. Er hat sich während seines Aufenthalts in Traiskirchen im Zeitraum November 2016 bis Jänner 2017 freiwillig als Dolmetscher bei der medizinischen Betreuung engagiert. Ab etwa Frühling 2017 half der Beschwerdeführer zwei Jahre lang freiwillig bei einem wöchentlichen Freizeitgestaltungsprogramm für Bewohner eines Pflegeheims mit. Seither hat sich der Beschwerdeführer nicht mehr derartig engagiert, hilft jedoch immer wieder in seiner Unterkunft mit. Sein Umfeld beschreibt ihn unter anderem als hilfsbereit, kontaktfreudig und vorbildlich. Für den Fall eines Aufenthaltsrechts in Österreich verfügt der Beschwerdeführer über eine (unverbindliche) Einstellungszusage als Hilfsarbeiter in der Land-und Forstwirtschaft.

In seiner Freizeit beschäftigt Beschwerdeführer sich insbesondere mit Bildhauerei und Töpferei, was er in Österreich gelernt hat, und fertigt auch Werke nach christlichen Motiven an.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe können nicht festgestellt werden.

Nicht festgestellt werden kann in diesem Zusammenhang, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgung durch die Taliban aufgrund des Vorwurfs der Spionage für die Regierung wegen eines vom Vater und dem Beschwerdeführer selbst geführten Bauunternehmens, welches Aufträge für die Regierung übernommen habe, droht.

Zur Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer ist im Distrikt XXXX der afghanischen Provinz Farah geboren und im Kreis seiner paschtunischen Familie aufgewachsen, hat zwölf Jahre lang die Schule besucht und ein Studium absolviert. Im Jahr 2013 übersiedelte der Beschwerdeführer mit seiner Familie in die Provinzhauptstadt und zu Beginn des Jahres 2015 nach Kabul, wo der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise lebte. Er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten sowie dem Leben in einer afghanischen Großstadt folglich vertraut und beherrscht neben seiner Muttersprache Paschtu auch Dari und Englisch in Wort und Schrift.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan eine zwölfjährige Schulbildung sowie ein Studium zum Bauingenieur absolviert und in diesem Bereich gearbeitet.

Seit dem 22.02.2019 befindet der Beschwerdeführer sich in psychotherapeutischer Behandlung aufgrund der Diagnose PTBS und Suizidalität. Davon abgesehen ist der Beschwerdeführer jedoch gesund und arbeitsfähig. Er gehört keiner Risikogruppe an, für die im Fall der Erkrankung mit COVID-19 ein schwerer Verlauf zu befürchten ist.

Die Eltern des Beschwerdeführers sowie eine Schwester leben in Pakistan; der Beschwerdeführer hat etwa alle zwei Monate Kontakt zu diesen. Zwei Brüder und eine Schwester leben in Deutschland; eine weitere Schwester des Beschwerdeführers lebt in Russland. Im Herkunftsdistrikt verfügt der Beschwerdeführer zudem über zahlreiche Bekannte.

Eine Aufenthaltnahme im Herkunftsstaat würde jedoch aktuell für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, in Bezug auf die aktuellen Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung der Kurzinformationen (KI) der Staatendokumentation vom 19.07.2021, 02.08.2021, insbesondere aber vom 17.08.2021 und vom 20.08.2021 (LIB), weiters auf den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR) und insbesondere auf der UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021, sowie auf folgenden Medienberichten und Zeitungsartikeln zu den aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan:

orf.at 17.06.2021: Mehr als 20 Spezialkräfte in Afghanistan getötet (im Folgenden: orf.at

17.06.2021); https://orf.at/stories/3217730/

orf.at 21.06.2021: Taliban setzen Eroberungszug fort (im Folgenden: orf.at 21.06.2021); https://orf.at/stories/3218260/

ARD tagesschau 09.07.2021: Taliban nehmen wichtige Handelsorte ein (im Folgenden: ARD

tagesschau 09.07.2021); https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-taliban-155.html

TheGuardian.com 31.07.2021: Herat residents fear Taliban in their homes and workplaces as it masses outside city (im Folgenden: TheGuardian.com 31.07.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/jul/31/herat-residents-fear-taliban-in-theirhomes- and-workplaces-as-it-masses-outside-city

DerStandard.at 31.07.2021: Taliban greifen afghanische Provinzhauptstädte an (im Folgenden: DerStandard.at 31.07.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128604362/taliban-greifenafghanischeprovinzhauptstaedte-an

CNN 02.08.2021: Taliban take over TV station in strategic city as US airstrikes pound key positions in Afghanistan (im Folgenden: CNN 02.08.2021); https://edition.cnn.com/2021/08/02/asia/afghanistan-us-airstrikes-taliban-intl/index.html

TheGuardian.com 03.08.2021: Taliban on brink of taking key Afghan city as residents told to flee (im Folgenden: TheGuardian.com 03.08.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/aug/03/fears-for-afghan-city-of-lashkar-gah-asfierce-clashes-continue

TheGuardian.com 01.08.2021: Resurgent Taliban escalates nationwide offensive in Afghanistan (im Folgenden: TheGuardian.com 01.08.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/aug/01/resurgent-taliban-escalates-nationwideoffensive-in-afghanistan

DerStandard.at 04.08.2021: Taliban reklamieren Autobombenanschlag mit 13 Toten in Afghanistan für sich (im Folgenden: DerStandard.at 04.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128677528/taliban-reklamierenautobombenanschlag- mit-13-toten-in-afghanistan-fuer-sich

DiePresse.com 06.08.2021: Taliban ermorden Sprecher der afghanischen Regierung (im Folgenden: DiePresse.com 06.08.2021); https://www.diepresse.com/6017901/taliban-ermorden-sprecher-der-afghanischenregierung

DerStandard.at 08.08.2021: Taliban erobern Kundus und zwei weitere afghanische Provinzhauptstädte (im Folgenden DerStandard.at 08.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128769336/schwere-kaempfe-im-zentrum-vonnordafghanischer-stadt-kunduz

FAZ.net 08.08.2021: Eine Provinzhauptstadt fällt nach der nächsten (im Folgenden FAZ.net

08.08.2021); https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/taliban-auf-vormarsch-in-afghanistan-kunduseingenommen-17476107.html#void

orf.at 07.08.2021: Taliban erobern zweite afghanische Provinzhauptstadt (im Folgenden: orf.at 07.08.2021); https://orf.at/stories/3223979/

orf.at 08.08.2021: Taliban erobern weitere Provinzhauptstädte (im Folgenden: orf.at 08.08.2021); https://orf.at/stories/3224061/

kurier.at 11.08.2021: Taliban haben Flughafen und große Militärbasis eingenommen (im

Folgenden: kurier.at 11.08.2021); https://kurier.at/politik/ausland/us-geheimdienste-rechnen-mit-baldigem-fall-vonkabul/401469196

DerStandard.at 11.08.2021: Niederlande und Deutschland stoppen Abschiebungen nach

Afghanistan wegen Taliban-Vormarschs (im Folgenden: DerStandard.at 11.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128854309/niederlande-und-deutschland-setzenabschiebungen-nach-afghanistan-aus

DieZeit.de 11.08.2021: Hunderte afghanische Sicherheitskräfte ergeben sich den Taliban (im

Folgenden: DieZeit.de 11.08.2021); https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/afghanistan-taliban-soldaten-ergeben-sichkundus

orf.at 12.08.2021: Taliban bringen Herat unter ihre Kontrolle (im Folgenden: orf.at 12.08.2021); https://orf.at/stories/3224653/

orf.at 10.08.2021: EU-Botschafter in Kabul: Afghanistan-Abschiebungen aussetzen (im

Folgenden: orf.at 10.08.2021 Abschiebungen); https://orf.at/stories/3224334/

DerStandard.at 10.08.2021: EU-Botschafter in Kabul fordern Stopp der Abschiebungen nach

Afghanistan (im Folgenden: DerStandard.at 10.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128824067/eu-botschafter-in-kabul-fordertabschiebe-stopp-nach-afghanistan

orf.at 11.08.2021: Kabul wird laut Geheimdiensten bald fallen (im Folgenden: orf.at 11.08.2021 Vormarsch); https://orf.at/stories/3224411/

BBC, 16.08.2021: Afghanistan: Life in Kabul after the Taliban victory (im Folgenden: BBC 16.08.2021); https://www.bbc.com/news/world-asia-58232815

AP News, 17.08.2021: EXPLAINER: The Taliban takeover, what's next for Afghanistan (im Folgenden AP News 17.08.2021); https://apnews.com/article/taliban-takeover-afghanistan-what-to-know-1a74c9cd866866f196c478aba21b60b6;

Afghanistan Analysts Network, 17.08.2021: Afghanistan Has a New Government: What Will the Country's New Normal Look Like? (im Folgenden: AAN 17.08.2021); https://www.afghan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/afghanistan-has-a-new-government-the-country-wonders-what-the-new-normal-will-look-like/

CNN, 16.08.2021: Calm and fear on the streets of Kabul as jubilant Taliban celebrate their victory (im Folgenden: CNN 16.08.2021) https://edition.cnn.com/2021/08/16/middleeast/kabul-streets-taliban-regime-intl/index.html

ORF.at, 16.08.2021: „Krieg in Afghanistan ist vorbei“, (im Folgenden orf.at 16.08.2021); https://orf.at/stories/3225020/

BBC, 17.08.2021: Afghanistan: Will it become haven for terror with the Taliban in power? (im Folgenden: BBC 17.08.2021); https://www.bbc.com/news/world-asia-58232041

Allgemeine Sicherheitslage

Militärischer Vormarsch der Taliban und Machtübernahme durch die Taliban

Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu einem Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden, sowie zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen (LIB, Kapitel Politische Lage).

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte und verstärkten den Druck in allen Regionen des Landes, darunter auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Im Zeitraum 01.05.2021 bis Anfang Juni 2021 eroberten die Taliban mindestens 12 Distrikte (LIB, Kapitel Politische Lage). Mitte Juni töteten die Taliban aus dem Hinterhalt mehr als 20 Spezialkräfte der afghanischen Regierung beim Versuch, den Distrikt Dawlat Abad in der Provinz Faryab zurückzuerobern (orf.at 17.06.2021). Am 21.06.2021 nahmen die Taliban innerhalb von 24 Stunden weitere acht Bezirke in den Provinzen Takhar, Baghlan und Balkh ein. Lokale Medien berichteten über Taliban-Kämpfer am Rande der Stadt Mazar-e Sharif. Örtliche Politiker riefen Zivilisten auf, sich zu bewaffnen und mit den Sicherheitskräften gegen die Islamisten zu kämpfen (orf.at 21.06.2021).

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat, sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert (KI 19.07.2021). Der für den Handel mit dem Iran bedeutende afghanisch-iranische Grenzübergang Islam Qala in der Provinz Herat fiel Berichten zufolge ohne Widerstand der dort stationierten Sicherheitskräfte an die Taliban. Zudem brachten die Taliban auch den afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi im Norden der Provinz Herat unter ihre Kontrolle (ARD tagesschau 09.07.2021). Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak. Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (KI 19.07.2021). Mitte Juli 2021 kontrollierten die Taliban nach Einschätzung des Long War Journals bereits 223 der 407 Distrikte in Afghanistan, während es zum Stichtag 3.6.2021 erst 90 Distrikte waren, welche unter der Kontrolle der Taliban standen (KI 19.07.2021).

Am 25.07.2021 verhängte die afghanische Regierung eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22.00 und 4.00 Uhr (KI 02.08.2021).

Die Taliban umzingelten fast alle größeren Städte Afghanistans. Die USA befürchteten, dass die Hauptstadt Kabul innerhalb von Monaten fallen könnte (orf.at 13.07.2021). Ende Juli / Anfang August 2021 kämpften die Regierungstruppen gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar (KI 02.08.2021). In Lashkar Gah in der Provinz Helmand wurde am 31.07.2021 in verschiedenen Stadtbezirken gekämpft, nachdem die Taliban die Stadt vier Tage zuvor angegriffen hatten. Regierungstruppen flogen unter anderem einen Luftangriff, bei dem ein Krankenhaus mit zehn Betten zerstört wurde (TheGuardian.com 31.07.2021; DerStandard.at 31.07.2021). Berichten zufolge übernahmen die Taliban in der Stadt Lashkar Gah einen Fernsehsender (CNN 02.08.2021). Am 03.08.2021 befanden sich mit Ausnahme eines Bezirkes alle Stadtteile der Stadt Lashkar Gah unter der Kontrolle der Taliban. Die Bewohner der Stadt wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen (TheGuardian.com 03.08.2021).

In der Stadt Herat tobten die Kämpfe nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt (Der Standard.at 31.07.2021). Die Taliban errichteten am Rande der Stadt Herat einen Checkpoint, wodurch sich Herat (Stadt) im Belagerungszustand befand (TheGuardian.com 31.07.2021). Am 12.08.2021 nahmen die Taliban schließlich Herat ein (orf.at 12.08.2021). In Kandahar drangen die Taliban bis ins Zentrum vor. Am 31.07.2021 schlugen mindestens drei Raketen am Flughafen von Kandahar ein (TheGuardian.com 31.07.2021). Ziel dieses von den Taliban verübten Anschlages war die Vereitelung von Luftangriffen der afghanischen Regierungstruppen (TheGuardian.com 01.08.2021). Seit 01.08.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (KI 02.08.2021). Zum Stichtag 2.8.2021 kontrollierten die Taliban einige der südlichen Außenbezirke von Kandahar (CNN 02.08.2021). Am 03.08.2021 wurde Kabul (Stadt) von einem Autobombenanschlag, einer Reihe kleinerer Explosionen und Schusswechseln zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften erschüttert. Die Autobombe zielte auf die Residenz des Verteidigungsministers (TheGuardian.com 03.08.2021). Am 04.08.2021 wurden bei einem Bombenangriff in Kabul drei Menschen verletzt (DerStandard.at 04.08.2021).

Zwei Tage später nahmen die Taliban am 06.08.2021 im Kampf gegen die afghanische Regierung mit Zaranj (Provinz Nimroz) erstmals eine Provinzhauptstadt ein. Die Taliban besetzten den Gouverneurspalast, das Polizeipräsidium und einen Posten nahe der iranischen Grenze (DiePresse.com 06.08.2021). Die Stadt fiel praktisch kampflos an die Taliban (DerStandard.at 08.08.2021). Schon vor den Angriffen der Taliban legten die meisten afghanischen Sicherheitskräfte ihre Waffen nieder und flohen (FAZ.net 08.08.2021). Am selben Tag ermordeten die Taliban den Regierungssprecher beim Freitagsgebet (DiePresse.com 06.08.2021).

Am 07.08.2021 eroberten die Taliban mit Sheberghan in der Provinz Jawzjan eine weitere Provinzhauptstadt innerhalb von 24 Stunden (orf.at 07.08.2021). Nur einen Tag später nahmen die Taliban am 08.08.2021 drei weitere Provinzhauptstädte ein: Sar-e Pul (Provinz Sar-e Pul), Kunduz (Provinz Kunduz) und Taloqan (Provinz Takhar). Damit brachten die Taliban innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle (orf.at 08.08.2021). Nach Angaben des Verteidigungsministeriums starteten die afghanischen Truppen am 08.08.2021 eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kunduz (DerStandard.at 08.08.2021). Am 11.08.2021 erlangten die Taliban auch die Kontrolle über den Flughafen in Kunduz und die Militärbasis bei Kunduz (kurier.at 11.08.2021; DerStandard.at 11.08.2021), nachdem hunderte afghanische Sicherheitskräfte vor den Taliban kapitulierten (DieZeit.de 11.08.2021). Am 09.08.2021 eroberten die Taliban mit Aybak (Provinz Samangan) die sechste Provinzhauptstadt (DerStandard.at 09.08.2021).

Berichten zufolge fiel am 10.08.2021 die Provinzhauptstadt Farah (Provinz Farah) an die Taliban. Nach Angaben lokaler Behördenvertreter nahmen die Islamisten die wichtigsten Einrichtungen der Regierung in der Stadt ein, darunter den Gouverneurssitz und das Gefängnis der Stadt (DerStandard.at 10.08.2021; orf.at 10.08.2021 Farah). Auch von einer Eroberung der Provinzhauptstädte Faizabad (Provinz Badakhshan) und Pul-i-Khumri (Provinz Baghlan) durch die Taliban wurde berichtet (orf.at 11.08.2021 Vormarsch).

Auch in den großen Städten Herat, Lashkar Gah und Kandahar wurden die Regierungstruppen von den Taliban weiter bedrängt. Der amerikanische Präsident Joe Biden ordnete Medienberichten zufolge Luftangriffe an, um den weiteren Vormarsch der Aufständischen aufzuhalten (FAZ.net 08.08.2021). Nachdem sich zunächst auch Mazar-e Sharif im Belagerungszustand befand (orf.at 11.08.2021 Vormarsch) und mehrere Tage lang Kämpfe ausgetragen wurden (DieZeit.de 11.08.2021), wurde die Stadt am 14.08.2021 offenbar kampflos von den Taliban eingenommen (orf.at 14.08.2021).

Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen. (KI 02.08.2021)

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (KI 17.08.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden. (KI 17.08.2021)

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen. (KI 17.08.2021)

Es ist noch schwer abzuschätzen, wie die Taliban sich an der Macht verhalten werden (BBC 16.08.2021). Entsprechend herrscht auch in der Bevölkerung Besorgnis. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul versuchten mehr als 10.000 Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, über den Flughafen Kabul das Land zu verlassen (AP News, BBC 16.08.2021/B). Die Mehrheit ist jedoch nicht auf der Flucht, sondern befindet sich abwartend zuhause (AAN 17.08.2021). Befürchtet werden chaotische Zustände oder die Rückkehr zu unterdrückenden und gewaltvollen Verhältnissen wie unter der ersten Talibanherrschaft vom 1996 bis 2001. Der moderate Anstrich, den sich die Taliban zuletzt zu geben versuchten, wird mit Skepsis betrachtet (AP News 17.08.2021, CNN 16.08.2021, ORF 16.08.2021). Die moderaten Aussagen der Führungsspitze und die Gewaltakte, die sich vor Ort ereignen, liegen weit auseinander (BBC 17.08.2021).

Momentan beraten die Taliban in Doha über die zukünftige Ausgestaltung der Regierung. Der Übergang von einer kriegstreibenden, auch zu terroristischen Maßnahmen greifenden, zu einer regierenden Gruppierung wird nach Einschätzung des Afghanistan Analysts Network schwierig (AAN 17.08.2021). Die Taliban gaben an, mit anderen Fraktionen, darunter auch Vertreter der vorhergehenden Regierung, eine „inklusive islamische Regierung“ bilden zu wollen. Islamisches Recht solle durchgesetzt werden, jedoch nach Jahrzehnten des Krieges wieder normales Leben in Sicherheit zurückkehren. Ein beunruhigendes Zeichen für jene, die eine Rückkehr zu Gewalt und Unterdrückung befürchte, ist die geplante Rückbenennung Afghanistan in „Islamisches Emirat Afghanistan“ (AP News 17.08.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. (KI 17.08.2021)

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban. (KI 17.08.2021)

Zivile Opfer

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. (KI 02.08.2021)

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. (LIB, Sicherheitslage)

Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (KI 02.08.2021).

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams und zehn Minenräumer getötet. Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. (KI 19.07.2021)

Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandahar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (KI 2.8.2021; HRW 30.7.2021). Einem aktuellen Bericht der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) zufolge haben die Taliban seit dem 16. Juli mindestens 40 Menschen im Bezirk Spin Boldak in der Provinz Kandahar getötet (CNN 2.8.2021).

Die Taliban gingen zuletzt brutal gegen Zivilisten vor. Die EU-Kommission wirft den Taliban Kriegsverbrechen vor. Zivilisten würden willkürlich getötet, ohne jedes Gerichtsverfahren, Frauen würden wieder ausgepeitscht vor den Augen der Öffentlichkeit (ARD tagesschau 5.8.2021). Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen haben, werden Massenhinrichtungen gemeldet. Eine Frauenrechtlerin wurde erschossen (DerStandard.at 10.8.2021). Im vergangenen Monat wurden mehr als tausend Zivilisten während der Offensive der Taliban getötet. Zu den Opfern zählten insbesondere Aktivisten, Journalisten, Beamte, Richter und Personen, die sich für einen liberalen islamischen Staat einsetzten (DiePresse.com 6.8.2021). Einem Statement von UNICEF vom 9.8.2021 zufolge wurden in den letzten 72 Stunden mindestens 27 Kinder getötet und 136 Kinder verletzt (UNICEF 9.8.2021).

Es kommt in ganz Afghanistan zu willkürlicher Gewalt. Für Zivilisten besteht die Gefahr, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.

Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen. (LIB, Ethnische Gruppen)

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. (LIB, Paschtunen)

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben. (LIB, Paschtunen)

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. (LIB, Paschtunen)

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet. (LIB, Paschtunen)

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. (LIB, Religionsfreiheit)

Situation für Rückkehrer

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf. (KI 17.08.2021)

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021:

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen: Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021 (auszugsweise):

Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert.

1. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten.

2 .Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern.

3. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.

[….]

Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. [….]

[….]

Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.

Laut Stellungnahme der afghanischen Behörde für Flugsicherheit, den afghanischen Luftraum in der Zivilluftfahrt zu meiden, da dieser nur für militärische Flüge freigegeben ist, ist keine Stadt in Afghanistan derzeit erreichbar.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt zum Verfahren des Beschwerdeführers sowie zu jenem seines volljährigen Bruders (GZ: W204 2201261-1 des Bundesverwaltungsgerichtes), in die oben genannten Quellen zur Lage im Herkunftsstaat und durch Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 12.03.2021.

Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Österreich

Die Identität des Beschwerdeführers und seine Staatsangehörigkeit stehen aufgrund des vorgelegten unbedenklichen afghanischen Reisepasses fest.

Die Feststellungen zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zur Muttersprache und zum Familienstand des Beschwerdeführers basieren auf den in diesem Zusammenhang im gesamten Verfahren konsistenten, nachvollziehbaren und damit glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers.

Einreise, Antragstellung und Aufenthalt im Bundesgebiet sowie der Unterhalt des Beschwerdeführers ergeben sich aus der Aktenlage und sind unbestritten.

Die Feststellungen zur Lebensführung des Beschwerdeführers in Österreich – insbesondere zu den Kursbesuchen, der freiwilligen Tätigkeit und (fehlenden) Erwerbstätigkeit, der angebotenen Arbeitsstelle, seiner in Österreich geführten Beziehung und seinen sonstigen sozialen Beziehungen – beruhen auf den diesbezüglich nachvollziehbaren, konsistenten und somit glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers sowie auf den von ihm vorgelegten Unterlagen. Der Beschwerdeführer gab in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an, seine Partnerin und er hätten vor einigen Monaten beschlossen zu heiraten und seien dabei, diesbezüglich Informationen einzuholen. Da an der Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers zum Führen einer Beziehung in Österreich in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht keine maßgeblichen Zweifel bestehen und das Bundesverwaltungsgericht von diesen Angaben des Beschwerdeführers ausgeht und diese der Entscheidung zu Grunde legt, konnte in der Verhandlung von der Einvernahme der als Zeugin beantragten Partnerin des Beschwerdeführers abgesehen werden. Deren Status in Österreich ergibt sich zweifelsfrei aus dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.01.2021, GZ: W209 2176835-1/20E. Dass gegen den volljährigen Bruder des Beschwerdeführers, welcher ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt hat, eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, ergibt sich aus dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.06.2021, GZ: W204 2201261-1/22E.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers in Österreich ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

Zu den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründen

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 12.03.2021 brachte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen vor, er habe mit seinem Vater ein Bauunternehmen namens XXXX Construction Company bzw. XXXX Road Building and Construction Company geführt. Er könne sich nicht genau an das Gründungsjahr erinnern, nehme aber das Jahr 2007 oder 2008 an. Zuvor habe der Vater sich mit dem Schuhhandel beschäftigt. Der Sitz habe sich zunächst in der Provinz Farah befunden und sei später nach Kabul verlagert worden. Das Unternehmen sei aus Gründen der Sympathie nach dem jüngeren Bruder des Beschwerdeführers benannt worden, dieses sei aufgrund seiner Jugend nur zum Schein als Sekretär angeführt worden, weil dies unerlässlich gewesen sei. Der Name habe keine große Rolle gespielt. Der Beschwerdeführer selbst sei als Stellvertreter seines Vaters zeichnungsberechtigter Generalmanager sowie Dolmetscher um mit EDV-Arbeiten betraut gewesen. Weiters habe es zwei fixe Angestellte und nach Aufträgen wechselndes Personal gegeben. Hauptsächlich habe das Unternehmen Transport-und Bauaufträge für den afghanischen Sicherheitsdienst an verschiedenen Orten in Afghanistan ausgeführt. Zu den Aufträgen für die Regierung und den Geheimdienst sei man über öffentliche Ausschreibungen und Wettbewerbe gekommen. Der Vater sei zuerst immer wieder mit Briefen zur finanziellen Unterstützung der Taliban aufgefordert worden. Nachdem er staatliche Projekte erhalten habe, hätten Freunde ihn vor dem Betreten des Dorfes gewarnt. Am 17.05.2013 habe die Mutter des Beschwerdeführers im Hof einen Drohbrief gefunden, in welchem dem Vater, dem Beschwerdeführer und den vier Brüdern vorgeworfen worden sei, Spione zu sein. Den ersten dieser Drohbriefe habe die Familie zerrissen und nicht ernst genommen. Die folgenden beiden Briefe seien vom Vater der Polizei vorgelegt worden. Für den Herkunftsdistrikt des Beschwerdeführers sei zunächst der Taliban-Kommandant XXXX zuständig gewesen. Nach dessen Tod sei ihm der Cousin des Vaters des Beschwerdeführers, ein Mitglied von Al-Qaida, nachgefolgt. Beide seien im Rahmen von Bombardements der US-Armee getötet worden. Die Taliban hätten vermutet, dass die Familie des Beschwerdeführers aufgrund der Aufträge seitens der Regierung als Spione mit dem Tod der Kommandanten zu tun haben könnten. Die Familie des Beschwerdeführers habe sich Freunden gegenüber mehrfach negativ über die Person des Cousins des Vaters geäußert und habe möglicherweise auch dadurch Zorn auf sich gezogen.

Dieses Vorbringen war jedoch in wesentlichen Teilen unplausibel und im Widerspruch zu vorhergehenden Angaben des Beschwerdeführers bzw. von seinem Bruder im Rahmen von dessen eigenen Asylverfahren. Es ist dem Beschwerdeführer infolgedessen nicht gelungen, die behauptete Bedrohung in Afghanistan glaubhaft zu machen.

Es ist zunächst zweifelhaft, dass das vom Beschwerdeführer geschilderte Unternehmen der Familie in der von ihm dargestellten Form bestanden hat. Zum einen ist die Begründung der Benennung des Unternehmens nach dem jüngeren Bruder nicht plausibel nachvollziehbar, zumal dieser im Unternehmen keine maßgebliche Rolle einnehmen konnte. Einerseits gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich an, der Name habe ohnedies keine Rolle gespielt, andererseits sei es aber unerlässlich gewesen, dass diesem Bruder zumindest „nur zum Anschein“ eine Rolle im Unternehmen zugekommen sei. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass in den vorgelegten mutmaßlichen Verträgen des Unternehmens aus dem Jahr 2012 der Name nicht einheitlich geführt wird ( XXXX Construction Company bzw. XXXX Road Building and Construction Company), was sowohl aufgrund des (offiziellen) Charakters solcher Urkunden als auch angesichts der – nach deren Datierung – kurzen Zeitspanne zwischen diesen nicht plausibel nachvollziehbar ist bzw. vom Beschwerdeführer und seinem Bruder nicht plausibel erklärt wurde.

Zum anderen weichen die Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders, was das Gründungsjahr des Unternehmens betrifft, erheblich ab. Während der Beschwerdeführer dieses etwa im Jahr 2007 oder 2008 datierte, gab sein Bruder das Jahr 2013 an. Die in der gemeinsamen Stellungnahme vom 22.04.2021 dargebotene Erklärung, dass dieses Ereignis bereits lang her sei, der Bruder nicht aktiv mitgearbeitet habe sowie der Beschwerdeführer selbst an einer psychischen Erkrankung leide, mit welcher Gedächtnisprobleme einhergehen würden, vermag angesichts der erheblichen Differenz von fünf bis sechs Jahren nicht zu überzeugen.

Zweifelhaft ist im Hinblick auf die Schilderungen des Beschwerdeführers weiters, dass ein Unternehmen sich für ausgeschriebene Projekte, etwa den Bau von Schulen, beworben habe, das eine tatsächliche – den zum Schein angestellten Bruder nicht mitgerechnet – Stammbelegschaft von nur vier Personen aufgewiesen und den Rest des Personals auf Projektbasis beschäftigt haben soll, zumal nach den Angaben des Beschwerdeführers der Vater ursprünglich Schuhhändler gewesen sei. Zwar gab der Beschwerdeführer an, er habe studiert und sei Bauingenieur, doch hat er dem vorgelegten Abschlusszeugnis zufolge im Jahr 2008 – dem von ihm selbst behaupteten Gründungsjahr des Unternehmens – erst die Schule abgeschlossen und somit auch über keine einschlägige Qualifikation verfügt.

Sowohl in dem als „Service Contract“ der GIZ betitelten, mit 18.10.2012 datierten Schriftstück als auch in dem als Unternehmenslizenz für das Jahr 2012 betitelten Dokument wird zudem als Sitz des Unternehmens Kabul angegeben, was im Widerspruch zu den Angaben des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde sowie dem Bundesverwaltungsgericht steht, dass seine Familie nach den Drohungen im Jahr 2013 nach Kabul gezogen sei und dort sowohl gewohnt als auch ein Büro eröffnet habe.

Entgegen dem diesbezüglichen Vorbringen in der Stellungnahme vom 22.04.2021 geht aus der im Akt des Bruders aufliegenden Anfragebeantwortung des GIZ vom 31.03.2021 auch nicht eindeutig die Richtigkeit der Angaben des Beschwerdeführers hervor, sondern grundsätzlich nur die formale Erscheinung eines derartigen Vertrags. Gemäß dem Vertreter der GIZ würden Verträge unter einem Vertragswert von EUR 2 500 – wie es im vorliegenden Fall zutreffen würde – nämlich nicht systematisch erfasst.

Auch wenn es sich im Einzelnen um kleinere Ungereimtheiten handeln sollte, ergibt sich in der Zusammenschau doch ausreichender Grund für Zweifel bereits an dem Bestehen des behaupteten Familienunternehmens in der dargestellten Form.

Selbst im Falle einer hypothetischen Wahrunterstellung des Bestehens eines Bau- und Transportunternehmens, das (unter anderem) Aufträge der Regierung oder als regierungsnah erachteter Institutionen durchgeführt habe, ist aber das darauf aufbauende Vorbringen der Bedrohung seitens der Taliban derart widersprüchlich und nicht plausibel, dass es nicht als glaubhaft angesehen werden kann.

Auffällig sind zunächst die widersprüchlichen Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders, was die Namen der in die vorgebrachte Fluchtgeschichte involvierten Taliban-Kommandanten, von denen die behauptete Verfolgung letztlich ausgehe, betrifft. Während der Beschwerdeführer von einem „ XXXX “ und seinem Nachfolger „ XXXX “ sprach, bezeichnete sein B

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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