TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/3 W177 2182409-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.09.2021
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Entscheidungsdatum

03.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W177 2182409-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 05.03.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 06.04.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 06.04.2017 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX in der Provinz Ghazni stamme. In seinem Heimatland wären keine Verwandten mehr aufhältig. Seine Mutter, sein Bruder und seine vier Schwestern wären wohl in Pakistan aufhältig. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe in seinem Heimatland eine vierjährige Schulbildung erhalten und Berufserfahrung als Bauarbeiter gesammelt. Er sei schiitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Nachdem er Afghanistan im Jahr 2015 verlassen habe, habe ein Jahr im Iran gelebt, ehe er nach Europa weitergereist sei, wo er in Norwegen einen Asylantrag gestellt, er eineinhalb Jahre gelebt und einen negativen Bescheid erhalten habe. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater mit Autos gehandelt hätte und ihn die Taliban aufgrund seiner Tätigkeit entführt und ihm die Autos weggenommen hätten. Sein Vater sei zur Polizei gegangen, wobei diese ihm nicht geholfen habe. Seine Kunden hätten danach das Geld zurückwollen und kurze Zeit später sei sein Vater verschollen. Sein Bruder sei von diesen Leuten ebenfalls verprügelt und verletzt worden. Wenig später sei auch er verschollen. Da seine Familie nicht in Ruhe gelassen worden wäre, habe sich diese entschieden nach Pakistan zu gehen. Er selbst sei in den Iran gegangen, um dort Geld zu verdienen.

Im Falle einer Rückkehr wisse er nicht, was diese Leute ihm antun würden und Anknüpfungspunkte habe er dort auch keine mehr. Ebenso sei der Kontakt zu seinen Angehörigen abgerissen.

3. Ein am 14.05.2017 erstelltes Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung ergab, nach am 12.05.2017 durchgeführter Untersuchung, dass das vom BF angegebene Geburtsdatum mit dem festgestellten höchstmöglichen Mindestalter vereinbar sei.

4. Am 05.07.2017 erging beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr: BFA) ein Verlegungsantrag in eine andere Unterkunft, weil sich der BF weigerte die Schule zu besuchen oder sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen. Pädagogische und motivierende Gespräche seien auf Widerstand gestoßen und er habe mehrmals den Ausruf „Allauh Akbar“ getätigt. Ebenso habe er sich geweigert als Mann Frauenarbeiten zu übernehmen.

5. Bei der Einvernahme durch das BFA am 28.11.2017 gab der BF an, dass es ihm gut gehe und er gesund sei. Er habe bislang die Wahrheit gesagt, lebe hier von der Grundversorgung und habe hier keine Verwandten oder Bezugspersonen. Er sei auch nicht in einem Verein aktiv. Der BF gab an, er sei afghanischer Staatsbürger und seine Muttersprache sei Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei im Jahr 1999 geboren worden. Das genaue Datum seiner Geburt, wisse er aber nicht. In seinem Heimatland habe er vier Jahre die Schule besucht und nicht gearbeitet. Er sei ledig und habe keine Kinder. In Afghanistan habe er, abgesehen von den verheirateten Schwestern und einigen weitschichtigen Verwandten, keine Angehörigen mehr. Seine Mutter sei mit zwei Schwestern in Pakistan, sein Vater und sein Bruder wären verschollen bzw. in Indonesien. Er selbst stamme aus der Provinz Ghazni und habe sein Heimatland 2014 nach Pakistan verlassen. Danach sei er in den Iran gegangen, wo er ein Jahr gelebt und auf einer Baustelle gearbeitet habe. Aus Angst vor einer Abschiebung sei er nach Europa weitergezogen.

Dass er in der Unterkunft „Allauh Akbar“ gerufen habe und er keine Frauenarbeiten übernehmen wolle, sei nicht richtig. Es stimme aber, dass er nicht in die Schule habe gehen wollen, weil er ein Einzelgänger sei. Er halte sich zumeist in seinem Zimmer auf, weil seine Zukunft unsicher sei und er hier keine Bezugspersonen habe. Wenn es Veranstaltungen gegeben habe, habe er diese jedoch besucht. Er habe weder in seinem Heimatland oder in einem anderen Land strafbare Handlungen begangen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Vater Autoverkäufer gewesen sei und ihn die Taliban mitgenommen hätten. Nachdem er nach 15 Tage wieder freigekommen sei, wären seine Autos weggewesen. Diese habe er dann gesucht, aber nicht gefunden. Leute, die ihm bereits Geld für diese gegeben hätten, hätte dieses fällig gestellt oder hätten die Autos zurückhaben wollen. Er habe dafür eine Frist von zwei Monaten erhalten, sei aber schon davor verschwunden. Zwei Jahre später hätten die Gläubiger dann das Geld von seinem Bruder gefordert. Diese hätten ihn schwer geschlagen und ihm seinen Pickup weggenommen. Sein Bruder habe dann das Land verlassen und sich nie mehr gemeldet. Doch nach ca. zwei weiteren Jahren sei der BF von diesen Gläubigern angesprochen worden. Diese hätten gefragt, wo sein Vater und sein Bruder wären und das Geld verlangt. Da sie bereits das Vieh weggenommen und mit der Entführung der Schwestern gedroht hätten, habe die Familie den Entschluss gefasst, nach Pakistan zu gehen.

Sein Vater habe die Autos immer von der pakistanischen Grenze geholt. Manchmal sei er einen Monat lang weggewesen, manchmal eine Woche. Zuletzt habe er vier Autos per LKW abgeholt. Er habe eine Verkaufsfläche gemietet gehabt. Dies wisse er noch, weil sein Vater ihm das nach seiner Freilassung erzählt habe. Sein Vater sein nach der Entführung tagsüber nach Hause gekommen. Sein Bruder sei nach dem Zusammenschlagen des Nächtens heimgekommen. Er selbst sei am Bazar von zwei Personen angehalten worden. Er sei nach seinem Vater, seinem Bruder und dem Geld gefragt worden. Diese Personen wären eine Woche später auch zu ihnen nach Hause gekommen. Dort sei er bedroht worden. Man habe ihm auch gesagt, dass er das Geld auftreiben müsse, sonst würden seine Schwestern mitgenommen werden. Sie hätten bereits das Vieh der Familie mitgenommen gehabt. Ob diese Personen noch einmal gekommen wären, wisse er nicht. Er sei danach mit seiner Familie ausgereist und habe auch keinen Kontakt mehr zu seinem Onkel in Afghanistan gehabt.

Er selbst habe es nicht entschieden, dass er das Land verlasse. Er wolle jedoch nicht mehr zurück, weil er einerseits Angst, andererseits dort keine Anknüpfungspunkte habe. Hier sei dies genauso. Er sei nur lebendig und führe kein lebenswertes Leben.

Nach Vorhalt der Länderfeststellung wurde mit dem BF erörtert, dass weder aus diesen noch aus dem Vorbringen des BF eine asylrechtlich relevante Verfolgungsgefahr glaubhaft habe gemacht werden können. Ebenso wären keine Anhaltspunkte für die Gewährung von subsidiärem Schutz oder gegen den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung hervorgekommen.

6. Mit Bescheid vom XXXX wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass das BF nicht nur persönlich völlig unglaubwürdig gewesen sei, sondern auch seinem Fluchtvorbringen jedwede Glaubwürdigkeit abzusprechen gewesen sei, zumal dieses äußerst vage, widersprüchlich und unplausibel gewesen sei. So habe der BF in seiner freien Erzählung überhaupt keine genauen Zeitangeben gemacht, wann diese Probleme begonnen hätten. Er habe sich lediglich auch Zeitspannen zwischen den Bedrohungen berufen. Erst auf Nachfrage habe er einen ungefähren Zeitpunkt für das Verschwinden des Vaters angegeben. Auch wären die Angaben über die Tätigkeiten des Vaters und dessen Entführung nur sehr vage gewesen. Das einzige Detail hierbei sei die Entführungsdauer von 15 Tagen gewesen. Diese Detailarmut sei nicht plausibel, zumal sich darauf die vermeintliche Gefährdungslage des BF gründen würde. Auch über die Suche nach den Autos und die Fristsetzung durch die Gläubiger habe der BF keine näheren Angaben machen können. Wie er überhaupt zu diesen Informationen gekommen sei, sei ebenfalls nicht nachvollziehbar gewesen, insbesondere deshalb, weil der BF einerseits vermeint habe, dass ihm sein Vater diese Details erzählt habe, andererseits er sich immer wieder darauf berief, nur vage Angaben machen zu können, weil er damals sehr klein gewesen wäre. Auch das Zusammenschlagen des Bruders sei nur sehr vage und detailarm geschildert worden. Ebenso sei es nicht nachvollziehbar gewesen, dass dem Bruder nicht gesagt worden wäre, wieviel Geld er zu zahlen hätte, andererseits der BF aber seitens der Bruders erfahren hätte, dass dieser mehrmals angehalten worden wäre. Auch sei in weiterer Folge die eigene Anhaltung nur sehr vage geschildert worden. So habe der BF erneut keine Zeitspanne zwischen den beiden Vorfällen angeben können. Ebenso sei seinem Vorbringen keine gegen ihn gerichtete Bedrohung zu entnehmen gewesen. Widersprüchlich gab der BF auch an, wer die Personengruppe gewesen sei, die überhaupt das Geld gefordert hätte. Weitere Widersprüche wären es gewesen, dass der BF einerseits Details über die Autoabholung des Vaters gehabt habe, andererseits er vermeinte aufgrund seines Alters keine Erinnerungen daran zu haben sowie, dass er vermeinte, einerseits nicht gearbeitet zu haben, andererseits er auf den Feldern seines Onkels mitgeholfen hätte. Eine persönliche Bedrohung habe der BF trotz mehrmaliger Nachfrage nicht angeben können und eine einzige Bedrohung nur einmal beiläufig erwähnt.

Ebenso wäre es nicht plausibel gewesen, dass der BF keine Summe habe nennen können, die zu zahlen gewesen sei. Auch sei es nicht plausibel, dass zwischen den Bedrohungen so lange Zeitspannen gewesen wären und er nichts über das Schicksal des ausgeborgten LKW habe zu Protokoll geben können. Es sei auch unplausibel, dass der BF keine detaillierten Angaben zu diesen Vorfällen machen könnte, weil er zu klein gewesen sei, zumal er sich schon in einem jugendlichen Alter befunden hätte.

Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Dem BF stünde mit der Stadt Kabul eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternativen zur Verfügung, zumal er gesund und arbeitsfähig sei und er mit den Bräuchen und Sitten Afghanistans sozialisiert worden wäre. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

7. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom XXXX ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

8. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 29.12.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass der Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgrund unzureichender Ermittlungen und mangelhafter Beweiswürdigung angefochten werde.

Dass der BF wegen eines Schreibens der Unterkunftgeberin als persönlich unglaubwürdig anzusehen sei, könne nicht gefolgt werden. Dies habe die belangte Behörde jedenfalls keineswegs ausreichend begründet. Der vom BF geschilderte Fluchtgrund sei ausreichend konkretisiert dargelegt worden, weshalb ihm nicht vorgeworfen werden könne, dass er vage Angaben getätigt hätte. So habe er detailliert vorbringen können, wie sein Vater die Autos besorgt und wieder zurückhaben hätte wollen. Diese Angaben müssten schon dahingehend berücksichtigt werden, dass der BF damals wohl nicht älter als zwölf Jahre alt gewesen sei.

Ebenso spreche das Nichtnennens einer Summe der Gläubiger für eine Glaubwürdigkeit, zumal bei einer konstruierten Geschichte der BF doch einfach eine beliebige Summe hätte nennen können. Es sei auch kein Widerspruch darin erkennen zu gewesen, wer das Geld gefordert hätte. Es würde hier lediglich eine ungenaue Protokollierung vorliegen, die jedoch im Zuge der weiteren Aussagen des BF richtig gedeutet werden können.

Es würde auch den Gegebenheiten Afghanistans entsprechen, dass zuerst gedroht werden, Mädchen und Frauen zur Begleichung von Schulden zu entführen. Auch sei es kein Widerspruch, wenn der BF vermeinte, dass er nicht gearbeitet habe. Das Helfen in der Landwirtschaft des Onkels könne nicht mit einer Erwerbstätigkeit gleichgesetzt werden. Weiters hätte berücksichtigt werden müssen, dass der BF seine Fluchtgründe im Verfahren immer konsistent geschildert habe.

Der BF gehöre als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Minderheit jedenfalls zu einer der seitens UNHCR angeführten Risikogruppe. Ebenso sei er wegen seines Alters der Gefährdung einer Zwangsrekrutierung ausgesetzt und laufe Gefahr einer Schuldknechtschaft der Gläubiger und sohin einer Zwangsarbeit ausgesetzt zu sein

Angesichts der in Afghanistan vorherrschenden Sicherheitslage, sei dem BF auch eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar. Daher hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Ebenso sei die ausgesprochene Rückkehrentscheidung zu beheben und es wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

9. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 08.01.2018 vom BFA vorgelegt. Die belangte Behörde verzichtet in dieser auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

10. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 15.12.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W179) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

11. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 05.03.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung, nunmehr die BBU GmbH, persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, wie bereits in der Beschwerdevorlage angekündigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19.

Der BF vermeinte, dass sein Vor dem BFA getätigtes Vorbringen nicht der Wahrheit entspreche. Er gab auf Nachfrage an, dass er im bisherigen Verfahren nicht die Wahrheit gesagt habe und wolle sich heute dazu äußern, wieso er nicht die Wahrheit gesagt habe. Danach wurde festgehalten, dass der BF im bisherigen Verfahren die Behörden und das Gericht angelogen hätte. Der Dolmetscher äußerte sich dahingehend, dass es schwierig sei, den BF auf den Sachverhalt zu fokussieren und dieser Dinge erzähle, die in einer gewissen Weise absurd klingen würden.

Es sei unklar, ob der BF sozial und psychologisch betreut werde. Es gäbe jedoch deutliche Anzeichen, dass der BF an einer psychischen Störung leide. Diese sei aber offenbar noch nicht diagnostiziert worden.

Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage wurde festgehalten, dass eine Fortführung der Verhandlung nicht zielführend sei. Es sei beabsichtigt ein Gutachten zur Frage der Verhandlungsfähigkeit, der psychischen und psychiatrischen Situation des BF, insbesondere über sein Fluchtvorbringen, einzuholen. Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.

12. Mit Beschluss des BVwG vom 16.03.2021 erfolgte gem. § 52 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG die Bestellung einer Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie. Es wurde dieser aufgetragen, ein schriftliches Gutachten zu erstatten. Dieses habe die Beantwortung der Fragen, ob der BF verhandlungsfähig, traumatisiert oder überhaupt in der Lage sei, das Geschehene, mit dem er seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet habe, in einer mündlichen Verhandlung alleine vortragen könne. Des Weiteren solle beantwortet werden, ob der BF für eine mündliche Verhandlung eine fachärztliche Unterstützung benötige und ob eine psychische/psychiatrische Erkrankung überhaupt vorliege bzw. wie schwer eine solche Erkrankung wäre.

13. Das am 15.06.2021 erstellte psychiatrische Gutachten stellte zur Befindlichkeit des BF fest, dass sich dieser isoliere und niemanden habe, dem er sein Herz ausschütten könne. Seine Probleme hätten in Österreich begonnen und sich im Zuge seines Aufenthaltes nicht verbessert. In der letzten Zeit leide er an Appetit- und Schaflosigkeit und fühle sich an den Rand gedrängt.

Aufgrund des Verhaltens des BF ist davon auszugehen, dass dieser an einer schizophrenen Erkrankung leiden würde. Seine Verhandlungsfähigkeit sei dadurch erheblich beeinträchtigt, weshalb er sich auch nicht verständlich ausdrücken könne. Dies würde ihn beeinträchtigen, seine Rechte sinnvoll wahrnehmen zu können. Das Krankheitsbild könne aber nicht als Traumastörung per se klassifiziert werden. Er sei aber nicht ausreichend in der Lage, das von ihm Erlebte oder ihm widerfahrene Geschehen alleine vorzutragen.

Eine fachärztliche Behandlung sei dringend empfehlenswert, zumal sich eindeutige Hinweise auf eine psychische Erkrankung beim BF ergeben würden. Aus fachärztlicher Sicht sei beim BF von einem schweren und behandlungsbedürftigen Krankheitsbild auszugehen.

14. Mit Aufforderung vom 29.06.2021 erging seitens des BVwG ein Parteiengehör. In diesem wurde eine vorläufig aktualisierte Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des BF im Verfahrensakt zur allfälligen Einsicht aufgelegt. Ebenso erging die Mitteilung, dass das erkennende Gericht beabsichtige, dem beiliegenden Sachverständigengutachten zu folgen und darauf aufbauend dem BF subsidiären Schutz zu gewähren, sofern nicht allfällige schriftliche Stellungnahmen gegenteiliges nicht anderes erfordern würden. Eine weitere mündliche Verhandlung finde nur mehr über begründeten Antrag seitens der Beteiligten statt. Für eine Stellungnahme und weitere Anträge wurde eine Frist von zwei Wochen gewährt. Die Verfahrensparteien ließen diese eingeräumte Frist jedoch ungenützt verstreichen.

15. Der BF legte im Laufe des Verfahrens keine Dokumente vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und gehört der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter. Der BF befindet sich zumindest seit 06.04.2017 Im Bundesgebiet. Er hat sein Heimatland bereits im Jahr 2014 verlassen und sich danach für ein Jahr im Iran und eineinhalb Jahre in Norwegen aufgehalten.

Aufgrund des Verhaltens des BF ist davon auszugehen, dass dieser an einer schizophrenen Erkrankung leiden würde. Seine Verhandlungsfähigkeit sei dadurch erheblich beeinträchtigt, weshalb er sich auch nicht verständlich ausdrücken könne. Dies würde ihn beeinträchtigen, seine Rechte sinnvoll wahrnehmen zu können. Das Krankheitsbild könne aber nicht als Traumastörung per se klassifiziert werden. Er sei aber nicht ausreichend in der Lage, das von ihm Erlebte oder ihm widerfahrene Geschehen alleine vorzutragen.

Eine fachärztliche Behandlung sei dringend empfehlenswert, zumal sich eindeutige Hinweise auf eine psychische Erkrankung beim BF ergeben würden. Aus fachärztlicher Sicht sei beim BF von einem schweren und behandlungsbedürftigen Krankheitsbild auszugehen.

Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Ghazni geboren. Bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan hielt sich der BF immer am Geburtsort in seiner Heimatprovinz auf. Er besuchte vier Jahre eine Schule und half dem Onkel in der Landwirtschaft. Nachdem er sein Heimatland verlassen hat, ist er über Pakistan, dem Iran, wo er sich ein Jahr lang aufgehalten und als Bauarbeiter gearbeitet hat, und die Türkei nach Europa gezogen, wo er schließlich in Norwegen einen Asylantrag stellte, der negativ entschieden wurde. Er ist danach über mehrere Länder auf dem Landweg nach Österreich weitergezogen, wo er gegenständlichen Asylantrag stellte und seither durchgehend aufhältig ist. Am 06.04.2017 stellte er in Österreich diesen Antrag auf internationalen Schutz.

In seinem Heimatland leben zwar noch Familienangehörige, jedoch hat der BF weder Kontakt zu seinen Schwestern noch zu sonstigen weitschichtigen Verwandten. Er hat auch keinen Kontakt zu seinen in Pakistan aufhältigen Verwandten (Mutter und zwei weitere Schwestern). Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF ist in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte dort keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 06.04.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater mit Autos gehandelt hätte und ihn die Taliban aufgrund seiner Tätigkeit entführt und ihm die Autos weggenommen hätten. Sein Vater sei zur Polizei gegangen, wobei diese ihm nicht geholfen habe. Seine Kunden hätten danach das Geld zurückwollen und kurze Zeit später sei sein Vater verschollen. Sein Bruder sei von diesen Leuten ebenfalls verprügelt und verletzt worden. Wenig später sei auch er verschollen. Da seine Familie nicht in Ruhe gelassen worden wäre, habe sich diese entschieden nach Pakistan zu gehen. Er selbst sei in den Iran gegangen, um dort Geld zu verdienen. Im Laufe des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens brachte der BF zwar konsistent dieses Vorbringen zu Protokoll, wobei er diesbezüglich jedoch unplausible, vage sowie widersprüchliche Angaben tätigte. Im gerichtlichen Verfahren vermeinte der BF, dass er in seinem Vorbringen bis dato nicht die Wahrheit gesagt habe.

Es wird festgestellt, dass der BF nicht seitens einer regierungsfeindlichen Gruppierung/Miliz bedroht bzw. gesucht wird.

Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.

Abgesehen von der derzeitig vorherrschenden Sicherheitslage, die sowohl eine Rückkehr in die Heimatprovinz Ghazni als auch in eine afghanische Großstadt als innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar macht, ist dem BF auch mangels Vorliegens eines sozialen Netzwerks in seiner Heimatprovinz und in anderen Landesteilen Afghanistans sowie seinen individuellen Verhältnissen, insbesondere aufgrund seiner psychischen Erkrankung, auch bei stabiler Sicherheitslage einer Niederlassung in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat nicht möglich, um dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 11.06.2021:

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a)

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).

Struktur und Führung

Die Taliban positionieren sich selbst als SchattenregierungAfghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Rekrutierungsstrategien

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).

Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Talibanzufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021).

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a).

Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).

Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021).Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021).

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Gren

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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