TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/8 W253 2151528-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.09.2021
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Entscheidungsdatum

08.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W253 2151528-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU-GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2017, Zl. XXXX , nach öffentlicher, mündlicher Verhandlung am XXXX 2020, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 02.09.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am XXXX 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er ledig und in Parwan geboren worden sei. Er sei sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er wegen der unsicheren Lage und den Taliban aus Afghanistan geflohen sei.

2. Mit Schreiben vom 10.06.2016 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einen Antrag auf Rückkehrhilfe bei der freiwilligen Rückkehr.

3. Nachdem das BFA am 23.06.2016 mitteilte, die Heim- bzw. Ausreisekosten des Beschwerdeführers zu übernehmen, widerrief dieser mit Schreiben vom 25.07.2016 den betreffenden Antrag aufgrund einer Meinungsänderung.

4. Die Einvernahme vor dem BFA fand am XXXX 2017 statt. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer an, dass er neben seiner Muttersprache nicht so gut Dari, eher noch Farsi spreche. Schon als Kind habe der Beschwerdeführer begonnen als Landwirt zu arbeiten, seine Familie habe Ländereien, welche nunmehr – aufgrund des fortgeschrittenen Alters seines Vaters - von zwei bis drei Bediensteten für bis zu zwei Monate im Jahr bearbeitet würden. Zudem habe er drei Jahre lang die Grundschule besucht. Sein Vater würde im Heimatort des Beschwerdeführers leben, sein Bruder würde sich im Iran befinden und seinem Vater Geld schicken, seine beiden Schwestern seien bereits verheiratet und seine Mutter sei bereits verstorben. Der Beschwerdeführer habe ca. alle zwei Monate telefonischen Kontakt mit seinem Vater. Darüber hinaus habe er zwei Onkel mütterlicherseits im Iran, eine Tante (ms) in Afghanistan sowie einen Onkel väterlicherseits im Iran und einen Onkel (vs) in Parwan. Es sei dem Beschwerdeführer überdies viermal Geld überwiesen worden, zweimal von seinem Bruder im Iran und zweimal von seinem Freund namens XXXX . Alle Transaktion seien zuerst nach Afghanistan gegangen und von dort nach Österreich. Der Beschwerdeführer legte eine Farbkopie einer Tazkira und eine Besuchsbestätigung für einen Deutschkurs vor.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban junge Männer in seinem Alter zwangsrekrutiert hätten, mit 15 oder 16 habe er nicht mehr in die Schule gehen können, da es zu gefährlich gewesen sei und die Sicherheitslage habe sich zusehends verschlimmert. Der Sohn vom Onkel (ms) des Beschwerdeführers sei von den Taliban enthauptet worden, dieser habe sich zuvor geweigert sich ihnen anzuschließen, nachdem sie ihn zweimal dazu aufgefordert hätten. Zudem hätten sie auch vier weitere Personen aus seinem Dorf enthauptet. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer nie persönlich bedroht und daher auch nicht mitgenommen, er habe jedoch Angst gehabt, man habe auch immer Gefechte in der Umgebung gehört. Er habe mit ihnen keinen Kontakt gehabt, sondern sie nur gesehen. Sein Vater habe ihn dann – aus Angst, dass der Beschwerdeführer getötet würde – weggeschickt.

5. Mit Bescheid vom 16.03.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers bezüglich des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gegen diesen eine Rückkehrentscheidung erlassen. Weiters wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer persönlich nicht glaubwürdig sei. Die von ihm vorgebrachte Furcht vor Verfolgung sei nicht festzustellen, seine vorgebrachten Gründe für das Verlassen Afghanistan seien nicht glaubhaft. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könne er an seinem angestammten Wohnort bzw. in seiner Heimatprovinz seinen Lebensunterhalt bestreiten, zudem bestehe eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative.

6. Am 23.03.2017 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Begründet wurde diese damit, dass der Vorhalt der belangten Behörde, demgemäß der Beschwerdeführer in der Erstbefragung keine Angaben zur Ermordung seines Cousins getätigt habe, unter Berücksichtigung des Zwecks der Erstbefragung nicht die Unglaubwürdigkeit seiner Angaben bedeuten würde. Der Vorhalt, dass für den Beschwerdeführer eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative bestehe, würde nicht den Gegebenheiten entsprechen. Für den Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan sei zu befürchten, dass er von den Taliban umgebracht würde.

7. Am 29.03.2017 wurde die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

8. In einer Beschwerdeergänzung vom 26.04.2017 wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass in den Angaben zur Organisierung der Reise des Beschwerdeführers, entgegen der Annahme des BFA, keine Widersprüche zu erblicken seien. Der Vorhalt des BFA, wonach der Beschwerdeführer keine Angaben zur Ermordung seines Cousins in der Erstbefragung getätigt habe, sei nicht relevant für die Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit. Der Beschwerdeführer sei im wehrfähigen Alter und würde akute Angst vor einer Zwangsrekrutierung haben. Sein Cousin sei durch die Taliban enthauptet und Männer aus seinem Dorf zwangsrekrutiert worden. Diese Umstände würden indizieren, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt sei. Zumindest sei ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, da er weder über eine Fachausbildung, noch über eine gesicherte Geldquelle verfügen würde. Sohin sei er dem Risiko ausgesetzt, dass er seine täglichen Lebensbedürfnisse nicht befriedigen könnte und somit einer existenziellen Notlage ausgesetzt wäre.

9. Mit Schreiben vom 26.04.2017 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Mittelung gemäß § 13 Abs. 2b SMG ein, wonach ein Anfangsverdacht nach § 27 Abs. 2 SMG gegen den Beschwerdeführer bestehe.

10. Mit Schreiben vom 23.07.2019 wurden Unterlagen zu einem gegen den Beschwerdeführer geführten Ermittlungsverfahren übermittelt.

11. Am XXXX 2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters, zweier Vertrauenspersonen und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Dabei wurde seitens des Beschwerdeführers ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt. Darüber hinaus brachte der erkennende Richter das Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 16.12.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und die EASO Country Guidance vom Juni 2019 in das gegenständliche Verfahren ein.

12. Mit Parteiengehör vom 26.07.2021 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer die EASO-Guidance Note von Dezember 2020 zu Afghanistan. Hierzu langte seitens des Beschwerdeführers keine Stellungnahme ein.

13. Am 06.09.2021 langte eine weitere Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, in welcher dieser auf die aktuelle Situation im Herkunftsstaat einging.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht auf Grundlage der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch ein Organ des BFA, dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem fest. Aus den diesbezügliche Angaben und Informationen werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1.1.    Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX 2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab und es wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen festgesetzt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, woraufhin vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den im Spruch angeführten Namen und ist an dem dort angegebenen Datum geboren worden. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch ein wenig Dari und Farsi. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Parwan und wuchs dort im Verband seiner afghanischen Familie auf.

Der Beschwerdeführer besuchte drei Jahre lang die Grundschule und kann etwas Paschtu lesen, aber nicht mehr schreiben und verfügt über keine Berufsausbildung. Er hat schon als Kind begonnen, als Landwirt auf der Landwirtschaft seiner Familie zu arbeiten und übte diese Tätigkeit bis zu seiner Ausreise aus. Im Anschluss daran lebte er ein Jahr lang im Iran und war dort als Schuhmacher tätig.

Die Mutter des Beschwerdeführers ist bereits gestorben. Sein Bruder lebt im Iran. Seine beiden Schwestern sind verheiratet, eine der Schwestern lebt in der Nähe des Zentrums des Distriktes XXXX , die andere Schwester sowie der Vater leben mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Heimatdorf des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist nach der afghanischen Kultur sozialisiert und ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache auf A1 Niveau und hat mehrere Deutschkurse besucht. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt aus staatlicher Unterstützung.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere freundschaftliche Kontakte, mit diesen geht er öfters Fußball oder Volleyball spielen. Darüber hinaus ist er einem älteren Ehepaar bei verschiedenen alltäglichen Angelegenheiten behilflich, im Gegenzug lernen sie mit ihm Deutsch. Gelegentlich hilft er auch seinem Unterkunftgeber sowie in der Gemeinde aus.

Am 05.03.2019 wurden beim Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sieben Gramm Cannabiskraut sichergestellt. Der Beschwerdeführer zeigte sich geständig. Die Staatsanwaltschaft XXXX trat hierzu – zu XXXX – von der Strafverfolgung gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG vorläufig nach § 35 Abs. 9 SMG, unter der Bestimmung einer Probezeit von einem Jahr, zurück.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.3.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war keiner Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt. Er wurde von den Taliban weder angesprochen noch angeworben. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Dem Beschwerdeführer droht auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Parwan droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat, Mazar-e Sharif und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5.    Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Aus dem Länderinformationsblatt für Afghanistan (Stand 16.12.2020) wird auszugsweise, soweit gegenständlich maßgeblich, wie folgt angeführt:

1.5.1 Regierungsfeindliche Gruppierungen

UNAMA dokumentierte glaubwürdige Vorwürfe über die Rekrutierung von 26 Buben im Alter zwischen 12 und 17 Jahren durch regierungsfeindliche Gruppen (darunter pakistanische Taliban, afghanische Taliban und IS) im ersten Halbjahr 2019. Drei Buben wurden von regierungsnahen bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften als Leibwächter, als Waffenträger, für Patrouillen, für sexuelle Zwecke oder für alle vier Zwecke eingesetzt. In einzelnen Fällen wurden Kinder insbesondere in den südlichen Provinzen als Selbstmordattentäter, menschliche Schutzschilde oder Bombenleger eingesetzt (USDOS 11.3.2020; vgl. UNAMA 7.2020). Obwohl die Taliban eine interne Richtlinie haben, keine Kinder zu rekrutieren, gibt es Hinweise auf Kinderrekrutierungen, insbesondere postpubertärer Buben (EASO 6.2018). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2019 waren es laut UNAMA insgesamt 64 Jungen vor allem im Norden des Landes, welche durch die Taliban sowie durch afghanische Sicherheitskräfte rekrutiert wurden (UNAMA 7.2020; vgl. AA 16.7.2020). Während die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte

bei der Verhinderung der Rekrutierung von Kindern Fortschritte gemacht haben, gibt der Einsatz von Kindern durch die afghanische Lokalpolizei und in geringerem Maße durch die afghanische Nationalpolizei weiterhin Anlass zur Sorge (UNAMA 7.2020).

Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 29.6.2017). Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).

1.5.2. Relevante ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 6.10.2020). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 6.10.2020). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.3.2020).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.3.2020). […]

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze (USDOS 11.3.2020). Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (STDOK 7.2016).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Passhtunwali zusammengefasst werden (STDOK 7.2016; vgl. NYT 10.6.2019) und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (STDOK 7.2016).

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung (BBC 26.5.2016; vgl. RFE/RL 13.11.2018, EASO 9.2016, AAN 4.2011), werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen (EASO 9.2016). Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen (RFE/RL 13.11.2018; vgl. AAN 4.2011, EASO 9.2016). Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (EASO 9.2016).

1.5.3. COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die sich als Pandemie weltweit verbreitet hat. In Afghanistan wurden mit Stand 01.09.2021, 153,260 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 7,123 Todesfälle bestätigt wurden.

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Besonders gefährdet sind Menschen über 65, Personen mit chronischen Atemwegserkrankungen, erhöhtem Blutdruck, Herzkreislauferkrankungen oder Diabetes und solche, deren Immunsystem durch eine Therapie geschwächt ist. Bei diesen Personen kann Covid-19 einen lebensbedrohenden Verlauf nehmen.

Auszug aus dem Länderinformationsblatt betreffend COVID:

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.09.2020; vgl. WB 28.06.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.09.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.09.2020; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

1.5.4. Bewegungsfreiheit

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 11.03.2020) [Anmerkung: siehe dazu auch Artikel 39 der afghanischen Verfassung (CoA 26.01.2004; vgl. FH 04.02.2019)]. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg (AA 16.07.2020). Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen (AA 16.07.2020; vgl. USDOS 11.03.2020, FH 04.02.2019). In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht (FH 04.02.2019). Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein (USDOS 11.03.2020; vgl. STDOK 6.2020).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.07.2020).

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten sie ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (AAN 19.03.2019).

Auch in größeren Städten erfolgt in der Regel eine Ansiedlung innerhalb von ethnisch geprägten Netzwerken und Wohnbezirken. Die Absorptionsfähigkeit der genutzten Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan bereits stark in Anspruch genommen. Dies schlägt sich sowohl in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch in einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (AA 16.07.2020).

Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangharhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr (AA 02.09.2019).

1.5.5. Aktuelle Lage in Afghanistan

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord-sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge. Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Verfahrensgang:

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, den gesprochenen Sprachen, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seiner Schulbildung, seiner fehlenden Berufsausbildung sowie seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Nicht gefolgt werden konnte der erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Behauptung des Beschwerdeführers, sein Vater sei vor ca. zweieinhalb Jahren gestorben (vgl. Verhandlungsschrift Seite 6f). Diesbezüglich führte der Beschwerdeführer an, ein Freund von ihm (der ebenfalls aus seinem Heimatdorf stamme und nunmehr in Italien sei), welcher vor ca. zweieinhalb Jahre nach Afghanistan gereist sei, habe ihm den Tod seines Vaters mitgeteilt. Zum einen erläuterte der Beschwerdeführer nicht, wie sein Freund konkret an die betreffende Information gelangt sei. Zum anderen ist nicht nachvollziehbar, dass sein Freund ihm zwar über den Tod seines Vaters berichtet hätte, ihm aber über die am gleichen Ort ansässige Schwester keinerlei Informationen liefern habe können (vgl. Verhandlungsschrift Seite 8). Angesichts dessen, dass sich nach der Beschreibung des Beschwerdeführers in seinem Heimatdorf lediglich „30-50 Häuser“ befinden würden, ist zudem - unter Berücksichtigung der überschaubaren Größe des Dorfes - nicht plausibel, dass der Beschwerdeführer den betreffenden Freund erstmals im Iran getroffen hätte (Verhandlungsschrift Seite 8f). Hinzu kommt, dass sein Freund angeblich dieselben Fluchtgründe habe, insofern erscheint auch unter diesem Blickwinkel eine Rückreise des Freundes nach Afghanistan bzw. in den Heimatort unplausibel (vgl. Verhandlungsschrift Seite 9; siehe dazu auch unter 2.3.2.). Vor dem Hintergrund seiner widersprüchlichen Schilderungen zur Gestaltung des Kontaktes zu seinem Vater (OZ 1 AS 86: „VP: Ich telefoniere ca. alle 2 Monate mit meinem Vater in Afghanistan.“; versus Verhandlungsschrift Seite 12: „RI: Hatten Sie während Ihrer Zeit im Iran bzw. in Österreich, noch Kontakt mit Ihrem Vater? BF: Ich war in Griechenland, als ich 1-Mal mit meinem Vater telefoniert habe. RI: Wie erklären Sie sich dann, dass Sie beim BFA (AS 86) angegeben haben, mit Ihrem Vater alle 2 Monate telefoniert zu haben? BF: Ich glaube nicht, dass ich diese Aussage getätigt habe. Vielleicht hat mich der Dolmetscher falsch verstanden. Ich habe seit meiner Flucht aus Afghanistan, 1-Mal mit meinem Vater telefoniert, ich war damals in Griechenland.“), mutet die Angabe zum Tod seines Vaters in Zusammenhalt mit den oben dargelegten Erwägungen unglaubwürdig an. Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass sein Vater nach wie vor im Heimatdorf lebt.

Die Feststellung zur Sozialisierung des Beschwerdeführers nach den afghanischen Gepflogenheiten, ergibt sich daraus, dass er in Afghanistan im Kreis seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand gründet auf die diesbezüglichen Angaben in der mündlichen Verhandlung (Verhandlungsschrift Seite 4) und vor der belangten Behörde (OZ 1 AS 82). Seine Arbeitsfähigkeit ergibt sich aus seinem Alter und seinem Gesundheitszustand.

Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, insbesondere zu seinen Deutschkenntnissen, seinen sozialen Anknüpfungspunkten und seiner Integration, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die von ihm im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen.

Die Feststellungen zum vorläufigen Rücktritt der StA XXXX gemäß § 35 Abs. 9 SMG von der Strafverfolgung gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG folgen aus der Aktenlage.

Dass der Beschwerdeführer in Österreich strafrechtlich unbescholten ist, ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.3. Zu den Fluchtgründen:

2.3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Das Asylverfahren bietet, wie der VwGH in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

2.3.2. Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt gewesen zu sein. Aufgrund von diversen Inkonsistenzen und Widersprüchen konnte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen nicht glaubhaft machen. Die Schilderungen waren auch auffällig oberflächlich und vage und nicht plausibel im Sinne der Länderinformationen. Zudem waren auch Steigerungselemente in seinem Vorbringen zu erblicken.

Unter Anknüpfung an die Ausführungen zum Freund des Beschwerdeführers (2.2.), welcher in Italien sei und angeblich nach Afghanistan zurückgereist sei und den Tod des Vaters des Beschwerdeführers in Erfahrung gebracht habe, ist zu konstatieren, dass laut den Angaben des Beschwerdeführers kein Unterschied zwischen ihren Fluchtgründen bestehen würde (Verhandlungsschrift Seite 9: „RI: Wie unterscheiden sich Ihre Fluchtgründen zu den Fluchtgründen Ihres Freundes? BF: Es gibt keinen Unterschied zwischen meinen Problemen und seinen Problemen.“). Zunächst ist auffallend, dass der Beschwerdeführer den betreffenden Freund nicht in sein Fluchtvorbringen in der niederschriftlichen Einvernahme einband, er führte lediglich an, dass bis auf 10 bis 12 Personen, alle jungen Männer - ohne auf seinen Freund Bezug zu nehmen - geflüchtet seien (vgl. OZ 1 AS 88: „LA: Wie viele junge Männer aus Ihrem Dorf wurden rekrutiert? VP: Ich schätze 10 bis 12. Alle anderen haben das Dorf verlassen.“), wiewohl er schon vor dem BFA anmerkte, dass er einen Freund in Italien habe (OZ 1 AS 83). Überdies erachtet der zur Entscheidung berufene Richter es als unplausibel, dass der betreffende Freund in Anbetracht eines solchen Verfolgungsszenarios als anerkannter Flüchtling nach Afghanistan zurückkehren würde, zumal der Beschwerdeführer nicht dartun konnte, wie dem Freund die Rückreise in den Heimatort gelungen sei. Auch konnte er keinen nachvollziehbaren Grund für die Rückkreise des Freundes anführen (Verhandlungsschrift Seite 10: „RI: Wie erklären Sie sich, dass Ihr Freund in den Heimatort zurückreisen konnte? BF: Mein Freund hat mir erzählt, dass er in Italien ein anerkannter Flüchtling ist. Zu seiner Reise nach Afghanistan hat er mir gesagt, dass er zuerst von Italien nach Frankreich reisen wird und von dort nach Afghanistan reisen wird. Wie er das genau gemacht hat bzw. wie es ihm möglich war, nach Afghanistan zu reisen, weiß ich nicht.“). Obendrein habe sich – laut der Erzählung seines Freundes – die Lage vor Ort noch verschlechtert und die Taliban würden Kinder und Jugendliche rekrutieren (Verhandlungsschrift Seite 10: „RI: Was hat er Ihnen von der Lage im Ort erzählt? BF: Ich habe diesen Freund nicht viel gefragt. Er hat mir erzählt, dass sich die Lage seit unserer Flucht verschlechtert hat und das die Anzahl der Taliban gestiegen ist, dass es den Menschen dort nicht gut geht. Er hat auch gesagt, dass von den Problemen mit den Taliban vor allem Kinder und Jugendliche betroffen sind, weil die Taliban diese dazu zwingen, sich ihnen anzuschließen und zur Waffe zu greifen und zu kämpfen.“). Insoweit sind zudem Steigerungselemente in den Ausführungen zu seinem Freund und dessen vermeintlichen Wahrnehmungen vor Ort enthalten. Der zur Entscheidung berufene Richter geht daher davon aus, dass es sich bei den Schilderungen zu den Taliban vor Ort und der Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen um bloße Ausschmückungen handelt, die eine drohende Rekrutierung auch des Beschwerdeführers naheliegender erscheinen lassen sollten.

Besonders befremdlich und widersprüchlich muten seine Angaben zu seinen Familienangehörigen in Zusammenhang mit seinem Fluchtvorbringen an. Vor der belangten Behörde brachte er vor, dass er zwei Onkel mütterlicherseits und zwei Onkel väterlicherseits (einer in Iran und einer in Afghanistan) habe (OZ 1 AS 85). Außerdem sei der Sohn seines Onkels mütterlicherseits von den Taliban enthauptet worden (OZ 1 AS 87). Im Gegensatz dazu gab er in der Beschwerdeverhandlung an, einen Onkel väterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits zu haben. Der Onkel väterlicherseits sei schon verstorben, dessen Sohn (der Cousin des Beschwerdeführers) sei im Iran bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen (Verhandlungsschrift Seite 10: „RI: Hatte Ihr Vater Geschwister? BF: Ja, er hatte einen Bruder. RI: Wo lebt dieser Bruder? BF: Dieser Onkel ist verstorben. Sein Sohn hat im Iran gearbeitet. Ich habe mit ihm telefoniert und er hat mir erzählt, dass sein Vater gestorben ist. Was ich weiß, ist mittlerweile auch dieser Cousin gestorben. Er hat in einer Fabrik gearbeitet und er ist bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. RI: Wie viele Onkel hatten Sie denn? BF: Ich hatte einen Onkel vs und zwei Onkel ms. Ich weiß nicht, ob sie noch leben.“). Im Anschluss daran verneinte er unschlüssigerweise die Frage, ob er noch andere Cousins – abgesehen von jenem im Iran – hatte. Auf die in der Einvernahme vorgebrachte Enthauptung seines Cousins durch die Taliban in Afghanistan, ging er bis dahin mit keinem Wort ein. Erst auf Vorhalt der entsprechenden Angabe vor dem BFA nahm er kurz Bezug auf den betreffenden Vorfall und versuchte in befremdlicher Manier unter Hinweis darauf, dass es sich hierbei um den Sohn s

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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