TE Vwgh Erkenntnis 1950/7/11 1473/48

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Veröffentlicht am 11.07.1950
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Index

Sozialversicherung
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §45 Abs2
AVG §52

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsidenten Dr. Hirn und die Räte Dr. Mahnig, Dr. Dietmann, Dr. Seibt und Dr. Chamrath als Richter, im Beisein des Ministerialsekretärs Dr. Lehne als Schriftführer, über die Beschwerde des JD in B, gegen den Bescheid des Amtes der Vorarlberger Landesregierung vom 28. August 1948, Zl. IV a-Sprl. 15/23-1946, betreffend Unfallversicherung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird, soweit die Berufung hinsichtlich der Ansprüche auf Ersatz der Kosten der Krankenbehandlung abgewiesen wurde, wegen Gesetzwidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde, im übrigen wegen Gesetzwidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

Mit Bescheid der ehemaligen Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft A vom 19. November 1945 wurde dem Beschwerdeführer JD wegen des am 1. Oktober 1943 im landwirtschaftlichen Betriebe der MD in B Nr. 79 erlittenen Unfalles für die Zeit vom 1. Jänner 1944 bis 31. August 1947 eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 bis 40 v.H, und eines Jahresarbeitsverdienstes von über 1200 bis 1300 RM zuerkannt.

Mit dem angefochtenen Bescheide wurde der Berufung des JD teilweise Folge gegeben und der Versicherungsträger verurteilt, dem Berufungswerber ab 1. Jänner 1944 eine Dauerrente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 bis 40 v.H. und eines durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes von über 1200 bis 1300 S zu bezahlen. Das Mehrbegehren wurde abgewiesen.

Ausser Streit steht, dass D, geb. 1882 in der Landwirtschaft seiner Ehefrau beschäftigt ist, am 1. Oktober 1943 auf der Landstrasse vom Anhänger eines Kraftrades zur Seite geschleudert und an beiden Oberschenkeln verletzt worden war.

Auf Grund des durchgeführten Beweisverfahrens hat die belangte Behörde als erwiesen angenommen, dass beim Verletzten als Unfallsfolgen eine schwere Verbildung des rechten Hüftgelenkes und ein erheblicher Muskelschwund des rechten Beines bestehen, wobei das rechte Bein in einer ungünstigen Stellung muskulär fixiert ist.

Die Beschwerde vertritt die Auffassung, dass die vorliegende Angelegenheit gemäss § 93 Z. 1 des Sozialversicherungs-Ueberleitungsgesetzes, BGBl. Nr. 142/1947 (SV-UeG) im schiedsgerichtlichen Verfahren zu entscheiden gewesen wäre. Diese Auffassung ist unzutreffend, da der Tätigkeitsbeginn des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Vorarlberg auf Grund einer gemäss § 110 Abs. 2 SV-UeG erlassenen und in den Amtlichen Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung 1948, S. 297, veröffentlichten Kundmachung dieses Ministeriums mit 15. September 1948 festgesetzt worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkte hatte gemäss § 121 Abs. 2 SV-UeG das bisher vorgeschriebene Verfahren Platz zu greifen. Nach der dieses Verfahren regelnden Vorschrift des § 2 Abs. 1 der Verordnung über die weitere Vereinfachung des Verfahrens in der Reichsversicherung und der Arbeitslosenversicherung, D.RGBl. I. S 581, war aber die Anordnung einer mündlichen Verhandlung im Spruchverfahren der Unfallversicherung dem behördlichen Ermessen anheimgestellt. Wenn daher die Beschwerde in der Unterlassung der Anordnung einer mündlichen Verhandlung einen Verfahrensmangel zu erblicken vermeint, so kann dem nicht zugestimmt werden.

Der Beschwerdeführer hat weiters geltend gemacht, dass ihm die Akten des Verwaltungsverfahrens nur unvollständig zur Kenntnis gebracht worden seien; insbesondere aber, dass ihm ein vom Arzte Dr. O in B abgegebenes Gutachten nicht vorgehalten worden sei. Hiezu muss festgestellt werden, dass das Amt der Vorarlberger Landesregierung dem Rechtsanwalt Dr. JR als bevollmächtigtem Vertreter des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 2. März 1948 das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen Dr. S vom 19. September 1947 sowie eine Abschrift der die Behandlung im Jahre 1946 betreffenden Krankengeschichte des Krankenhauses Feldkirch übermittelt, ferner mit Schreiben vom 18. März 1948 die Aeusserung des Arztes Dr. O bekanntgegeben hat. Rechtsanwalt Dr. JR hat die Empfangnahme dieser beiden Schreiben mit den Eingaben vom 22. März 1948 und vom 13. April 1948 bestätigt. Aus den Akten des Verwaltungsverfahrens ist weiters zu entnehmen, dass das Amt der Vorarlberger Landesregierung dem Rechtsanwalt Dr. JR mit Schreiben vom 24. Juli 1948 das vom ärztlichen Sachverständigen Dr. S erstattete Ergänzungsgutachten vom 9. Juni 1948 zur Kenntnis, gebracht und Dr. R hiezu mit Eingabe vom 5. August 1948 eine Gegenäusserung erstattet hat. Im übrigen muss festgestellt werden, dass die belangte Behörde im Zuge des Verwaltungsverfahrens laufend die Verbindung zum Vertreter des Beschwerdeführers aufrecht erhalten ( vgl. die Schreiben der belangten Behörde vom 13. März 1946, 8. April 1946, 15. Mai 1946 und 17. April 1948) und ihm zu wiederholten Malen Gelegenheit zur Aeusserung gegeben hat. Wenn daher der Beschwerdeführer der belangten Behörde die Verletzung des Grundsatzes des Parteiengehörs zum Vorwurf machte so ist dies ungerechtfertigt.

Die belangte Behörde hat in die Einschätzung der durch den Unfall bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit u.a. eine beim Beschwerdeführer festgestellte Arthrose der Wirbelsäule mit der Begründung nicht einbezogen, dass dieses Leiden mit dem Unfalle nicht ursächlich zusammenhänge. Der Beschwerdeführer war wegen dieses Leidens in der Zeit vom 7. September 1945 bis 26. September 1945 bei dem Arzte Dr. O in B seine im Stadtspital Bludenz in Behandlung gestanden, worauf er mit seiner Berufung hingewiesen hatte. Im Laufe des Berufungsverfahrens hatte er geltend gemacht, dass dieses Leiden durch den Unfall verursacht worden sei. Die belangte Behörde hatte mit Schreiben vom 13. März 1946 zwar versucht, die diese Spitalsbehandlung betreffende Krankengeschichte beizuschaffen, sie hatte dieses Schreiben jedoch offenbar versehentlich an das Stadtspital Feldkirch adressiert, während die Behandlung im Stadtspital Bludenz durchgeführt worden war. So kam es, dass die Krankengeschichte im Ermittlungsverfahren nicht vorgelegt wurde. Die belangte Behörde liess es dabei bewenden, richtete aber am 2. März 1948 an den Arzt Dr. O das Ersuchen, sich als Zeuge zu äussern, ob die von ihm behandelte Arthrose der Lendenwirbelsäule mit dem Unfalle ursächlich zusammenhänge. Dieses Ersuchen beantwortete Dr. O mit Schreiben vom 11. März 1948 wie folgt:

„D leidet an einer schweren Arthrose der Wirbelsäule, wodurch die Beschwerden geklärt. Ein ursächlicher Zusammenhang der Beschwerden mit dem angegebenen Unfall ist nicht anzunehmen.“ Unter Hinweis auf diese Aeusserung ersuchte die belangte Behörde mit Schreiben vom 7. Mai 1948 den ärztlichen Sachverständigen Dr. S - der sich bereits am 19. September 1947 gutachtlich geäussert hatte - um Abgabe eines Ergänzungsgutachten über den ursächlichen Zusammenhang der Arthrose mit dem Unfall. Dieser Sachverständige äusserte sich am 9. Juni 1948 lediglich auf Grund der Aktenlage, jedoch ohne Kenntnis des Inhaltes der Krankengeschichte des Stadtspitales Bludenz folgendermassen: „Hinsichtlich der Behandlung durch Dr. O im Stadtspital in Bludenz in der Zeit vom 7. September bis 26. September 1945 liegt dem Akt, bereits eine gutachtliche Aeusserung des behandelnden Arztes bei, in der ausdrücklich festgestellt wird, dass D wegen einer schweren Arthrose der Wirbelsäule behandelt wurde und dass zwischen diesen Beschwerden und dem angegebenen Unfall vom 1. Oktober 1943 ein ursächlicher Zusammenhang nicht anzunehmen ist. Vom Standpunkt der heutigen Begutachtung liegt kein Grund vor, diese ärztliche Aeusserung zu bezweifeln und steht die Behandlung, die damals durchgeführt wurde, somit in keinem Zusammenhang mit dem in Frage stehenden Unfall.“

Damit ist der ärztliche Sachverständige Dr. S vorbehaltslos und ohne nähere Begründung der Meinung des Arztes Dr. O beigetreten, was bedeutet, dass er die Aeusserung des Arztes zum Inhalte seines Sachverständigengutachtens erhob. Da aber die Aeusserung des Dr. O vom 11. März 1948 lediglich eine Feststellung beinhaltet, der keine wie immer geartete Begründung beigefügt und die weder durch Befundaufnahmen belegt ist noch sonst irgendwie erkennen lässt, auf welche Tatsachen sich das Wissen des Zeugen gründet, haftet die gleiche Unzulänglichkeit auch dem Gutachten des Dr. S an. Eine Behörde, die ein derartiges, jeder genaueren Begründung ermangelndes Gutachten ihrer Beweiswürdigung zugrundelegt, setzt sich dem Einwende der Verletzung von Verfahrensvorschriften aus, die auch das Gebiet der freien Beweiswürdigung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich macht. Ein solcher Verfahrensmangel wird dann von wesentlicher Bedeutung sein, wenn die Behörde bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einem anderen Bescheide hätte kommen können. Dies muss im vorliegenden Falle bejaht werden, weil die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich im Falle der Einbeziehung der Arthrose ein höherer Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben könnte. Der angefochtene Bescheid musste daher, soweit er den Anspruch auf Rente zum Inhalte hat, gemäss  § 42 Abs. 2 lit. c Z. 3 VwGG wegen Gesetzwidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben werden. Beigefügt wird, dass nach Auffassung des Gerichtshofes auch die Frage, ob und inwieweit die Beschwerden des Verletzten auf eine Entzündung des Ischiasnerven zurückzuführen seien, nicht restlos geklärt ist. Hinsichtlich des von der entscheidenden Stelle einzuhaltenden Vorganges bei Beurteilung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei auf das hiergerichtliche Erkenntnis vom 8. November 1949, P 59/49, verwiesen.

Die belangte Behörde hat mit dem angefochtenen Bescheide das über den Anspruch auf Zuerkennung einer Dauerrente hinausgehende Mehrbegehren des J D „als im Gesetze nicht begründet abgewiesen.“ Dieser Spruch des angefochtenen Bescheides umfasst auch die vom Verletzten in der Berufung und im Laufe des Berufungsverfahrens bei der belangten Behörde erhobenen Ansprüche auf Ersatz der Kosten der Krankenbehandlung. Bei Entscheidung über diese Ansprüche hat die belangte Behörde jedoch nicht beachtet, dass hierüber der Versicherungsträger noch nicht bescheidmässig abgesprochen hatte. Zur Frage des Anspruches auf Ersatz der Kosten von RM 100,-- ( Urteil des Landgerichtes Feldkirch vom 12. Oktober 1944 ), von RM 10,-- ( Rechnung des Dr. S) und von RM 20,-- ( Pflegekosten für die Zeit vom 4. bis 18. September 1944 ) hat der Versicherungsträger bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides in keiner Weise Stellung genommen. Hinsichtlich der Kosten von S 250.-- (Rechnung Dr. M) und von S 201,-- (Verpflegskosten im Krankenhaus Feldkirch ) teilte der Versicherungsträger diesem Krankenhause mit Schreiben vom 23. Mai 1947 mit, dass die Begleichung dieser Rechnung abgelehnt werde. Dieses Schreiben stellt sich jedoch nicht als eine der Rechtskraft fähige, förmliche Entscheidung dar, wie sie die Vorschrift des § 1583 der Reichsversicherungsordnung im Auge hat. Während ein Bescheid im Sinne dieser Vorschrift dem Anspruchswerber zu erteilen ist, handelte es sich hier lediglich um eine Mitteilung an das am Verfahren rechtlich nicht beteiligte Krankenhaus. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass die Berufsgenossenschaft zugleich dem Vertreter des Verletzten „eine Abschrift ihres Briefes an das Krankenhaus der Stadt Feldkirch zur geflg. Kenntnisnahme“ übersendet hat. Aus der Fassung dieses Schreibens ist vielmehr der mangelnde Bescheidwille des Versicherungsträgers erkennbar. Was aber den Betrag von RM 157,-- ( Rechnung des Dr. O) anlangt, dessen Ersatz die belangte Behörde im angefochtenen Bescheide ebenfalls abgelehnt hat, so muss festgestellt werden, dass der Versicherungsträger diese Rechnung laut dem an Rechtsanwalt Dr. R gerichteten Schreiben vom 11. Oktober 1946 während des Berufungsverfahrens beglichen hat. Im übrigen ermangelt es auch hinsichtlich dieses Betrages an einem Bescheid des Versicherungsträgers, der Anlass zur Einleitung eines Berufungsverfahrens hätte bieten können. Daraus ergibt sich, dass die belangte Behörde in diesen Punkten nicht berechtigt war, als Rechtsmittelbehörde abzusprechen. In diesem Umfange stellt sich ihre Entscheidung infolge Unzuständigkeit als gesetzwidrig dar, weshalb der angefochtene Bescheid insoweit gemäss § 42 Abs. 2 lit. b VwGG aufzuheben war.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäss § 39 Abs. 2 lit. a und b VwGG Abstand genommen.

Wien, am 11. Juli 1950

Schlagworte

Anforderung an ein Gutachten Beweismittel Sachverständigenbeweis Medizinischer Sachverständiger

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1950:1948001473.X00

Im RIS seit

18.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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