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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §68 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Doblinger, Dr. Hofbauer und Mag. Feiel sowie die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die außerordentliche Revision des Stellvertreters der Disziplinaranwältin beim Bundesministerium für Inneres in 9020 Klagenfurt, Buchengasse 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. April 2021, Zl. W116 2235697-1/4E, betreffend Einstellung eines Disziplinarverfahrens nach dem BDG 1979 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Disziplinarkommission beim Bundesministerium für Inneres [nunmehr: Bundesdisziplinarbehörde]; weitere Partei: Bundesminister für Kunst, Kultur öffentlicher Dienst und Sport; mitbeteiligte Partei: AB in C, vertreten durch Stögerer Preisinger Rechtsanwälte OG in 1070 Wien, Mariahilfer Straße 76/2/23), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang der Einstellung des Disziplinarverfahrens hinsichtlich der Anschuldigungspunkte 2 und 3 wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der im Jahr 1960 geborene Mitbeteiligte steht als Bediensteter der Landespolizeidirektion Wien in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund; im hier relevanten Zeitraum war er in leitender Funktion im Bundesministerium für Inneres (BMI) tätig.
2 Mit dem angefochtenen, im Beschwerdeverfahren ergangenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes wurde gegenüber dem Mitbeteiligten die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gemäß § 123 Abs. 1 BDG 1979 wegen des Verdachts der Begehung eines näher beschriebenen Fehlverhaltens (Anschuldigungspunkt 1) verfügt; gleichzeitig stellte das Verwaltungsgericht hinsichtlich zwei weiterer Vorwürfe (tatsachenwidrige und vom Mitbeteiligten wider besseres Wissen dem Mitarbeiter Mag. X in einem Gespräch am 5. März 2018 zu dessen Besetzungsverfahren gegebene Information, wodurch dieser - in der Absicht ihn zur Demission zu bewegen - über die wahren Verhältnisse getäuscht worden sei [Anschuldigungspunkt 2] sowie in einer Besprechung mit Mag. X am 29. Jänner 2018 ohne sachlichen Grund gefragt zu haben, wo in einem näher ausgeführten Bereich verdeckte Ermittler eingesetzt seien, obwohl diese Information für eine zeitnahe Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates nicht relevant gewesen sei [Anschuldigungspunkt 3]) gemäß § 118 Abs. 1 Z 3 iVm § 94 Abs. 1 Z 1 BDG 1979 das Verfahren wegen Verjährung ein. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für nicht zulässig erklärt.
3 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen und soweit hier von Bedeutung aus, dass die Sachverhalte zu den Anschuldigungspunkten 2 und 3 der Öffentlichkeit und damit auch der Dienstbehörde am 13. März 2019 mit der Veröffentlichung des wörtlichen Protokolls über die öffentliche Befragung des Mag. X bekannt geworden seien. Hinsichtlich Anschuldigungspunkt 3 sei zudem bereits am 2. Oktober 2018 in einer näher bezeichneten Zeitung ein Aktenvermerk veröffentlich worden, dieser Sachverhalt sei der Dienstbehörde daher allenfalls schon zu diesem Zeitpunkt zur Kenntnis gelangt. Der Mitbeteiligte habe den Einleitungsbeschluss am 24. August 2020 persönlich in der Dienststelle entgegengenommen. Da gegen den Mitbeteiligten im Zusammenhang mit den Anschuldigungspunkten 2 und 3 kein strafgerichtliches Ermittlungsverfahren durchgeführt worden sei und es auch sonst keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Hemmungstatbestandes nach § 94 Abs. 2 BDG 1979 gebe, sei die Sechsmonatsfrist nach § 94 Abs. 1 Z 1 BDG 1979 zum Zeitpunkt der Erlassung des Einleitungsbeschlusses bereits abgelaufen gewesen. Aus diesem Grund sei die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Anschuldigungspunkte 2 und 3 berechtigt und das Verfahren einzustellen gewesen.
4 Die vorliegende außerordentliche Revision richtet sich inhaltlich gegen dieses Erkenntnis im Umfang der Einstellung des Disziplinarverfahrens hinsichtlich der Anschuldigungspunkte 2 und 3.
5 Das Verwaltungsgericht legte die Verfahrensakten vor. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, die belangte Behörde verzichtete auf eine solche.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die vorliegende Revision richtet sich erkennbar ausschließlich gegen die Einstellung des Verfahrens hinsichtlich der Anschuldigungspunkte 2 und 3. In der Zulässigkeitsbegründung wird dazu vorgebracht, dass das Verwaltungsgericht bei seiner Verneinung von Anhaltspunkten für das Vorliegen eines Hemmungstatbestandes nach § 94 Abs. 2 BDG 1979 nicht berücksichtigt habe, dass auch die Sachverhalte zu diesen Anschuldigungen bzw. bezughabenden Berichte und die Kommuniqués des Untersuchungsausschusses Teil jenes Strafverfahrens gewesen seien, zu welchem die Mitteilung über dessen Einstellung erst am 27. Februar 2020 bei der Dienstbehörde eingelangt sei, und im Ergebnis ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren bzw. das Vorliegen von Begründungsmängeln moniert. Damit erweist sich die Revision als zulässig; sie ist auch berechtigt:
8 Gemäß § 94 Abs. 1 des Beamten-Dienstrechtsgesetzes 1979 (BDG 1979) darf der Beamte wegen einer Dienstpflichtverletzung nicht mehr bestraft werden, wenn gegen ihn nicht (Z 1) innerhalb von sechs Monaten, gerechnet von dem Zeitpunkt, zu dem der Disziplinarbehörde die Dienstpflichtverletzung zur Kenntnis gelangt ist, oder (Z 2) innerhalb von drei Jahren, gerechnet von dem Zeitpunkt der Beendigung der Dienstpflichtverletzung, eine Disziplinarverfügung erlassen oder ein Disziplinarverfahren vor der Bundesdisziplinarbehörde (Anmerkung: hier war das noch die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) eingeleitet wurde. In Abs. 2 Z 3 dieser Bestimmung ist normiert, dass der Lauf der in Abs. 1 genannten Fristen für die Dauer eines Strafverfahrens nach der StPO oder eines bei einem Verwaltungsgericht oder einer Verwaltungsbehörde anhängigen Strafverfahrens gehemmt wird, sofern der der Dienstpflichtverletzung zugrundeliegende Sachverhalt Gegenstand der Anzeige oder eines dieser Verfahren ist.
9 Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung judiziert, führt der im Einleitungssatz des § 94 Abs. 2 BDG 1979 genannte „zugrundeliegende Sachverhalt“ als Gegenstand einer Anzeige oder eines Strafverfahrens oder weiteren in § 94 Abs. 2 BDG 1979 genannten Verfahrens zur Hemmung der in § 94 Abs. 1 und 1a genannten Fristen, wenn der Beamte - in Idealkonkurrenz - durch ein und dieselbe Tat sowohl eine Dienstpflichtverletzung nach dem BDG 1979 als auch ein Delikt, das strafrechtlich oder verwaltungsstrafrechtlich zu ahnden ist, begangen haben könnte. Die Voraussetzung der Identität des Sachverhalts bedeutet, dass es sich um dieselbe Tat handeln muss, nicht jedoch, dass sich die entsprechenden Sachverhaltselemente vollständig decken müssen. Auch auf die verbale Umschreibung des Verhaltens und auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Benennung der Tat kommt es nicht an. Umgekehrt tritt bei Realkonkurrenz zwischen den genannten Delikten (wenn also z.B. eine Verfolgung wegen eines anderen Verhaltens erfolgt) eine Hemmung jedenfalls nicht ein (vgl. VwGH 26.4.2016, Ro 2015/09/0014; 17.12.2013, 2013/09/0085; 25.1.2013, 2012/09/0112). Im zuletzt zitierten Erkenntnis vom 25. Jänner 2013 hat der Verwaltungsgerichtshof außerdem die Ansicht der dort belangten Behörde, es reiche, dass ein Sachverhalt in der Strafanzeige erwähnt sei, selbst wenn dieser Sachverhalt den konkreten strafrechtlichen Vorwurf nicht betreffe, verworfen (vgl. VwGH 25.10.2018, Ro 2018/09/0005, und noch einmal VwGH 17.12.2013, 2013/09/0085).
10 Im vorliegenden Fall ist entscheidend für die Frage der Verjährung der Anschuldigungspunkte 2 und 3, ob diese Vorwürfe auch Gegenstand der strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Disziplinarbeschuldigten waren, weil bejahendenfalls die Verjährung gehemmt und dementsprechend die Einleitung des Disziplinarverfahrens zulässig wäre. Das angefochtene Erkenntnis verneint dies und führt in der Beweiswürdigung dazu aus, dass sich der Umstand, dass diese Vorwürfe nicht Gegenstand der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gewesen seien, aus der Mitteilung über die Einleitung eines Strafverfahrens sowie über die Bekanntgabe der Einstellung des Strafverfahrens aus dem Jahr 2020 und 2019 ergebe. Der Umstand, dass Kommuniqués und Berichte des Untersuchungsausschusses von der Staatsanwaltschaft zu den Akten genommen wurden, rechtfertige nicht den Schluss, dass alle in diesen Unterlagen angesprochenen Sachverhalte auch Gegenstand eines gegen den Beschwerdeführer geführten strafgerichtlichen Ermittlungsverfahrens gewesen wären.
11 Demgegenüber ergibt sich aus den im disziplinarbehördlichen Verfahren festgestellten Sachverhalt, dass die Vorwürfe 2 und 3 in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss als strafrechtlich relevant erörtert wurden und dass auch der Disziplinarbeschuldigte selbst sich im Zusammenhang mit einer Entschlagung auf ein anhängiges Strafverfahren bezog. Auch wenn der Umstand, dass diese Protokolle von der Staatsanwaltschaft zum Akt genommen wurden, für sich allein nicht zwingend den Schluss rechtfertigt, dass die Staatsanwaltschaft diesbezüglich auch Ermittlungen angestellt hat, ist der umgekehrte Schluss, dass sich kein Anhaltspunkt für den Umstand findet, dass diese Vorwürfe Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens waren, in dieser Allgemeinheit und ohne nähere Begründung nicht tragfähig. Unter diesen Umständen wäre das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die auch für sein Verfahren geltenden Grundsätze der Amtswegigkeit und der materiellen Wahrheit verpflichtet gewesen, weitere Erhebungen anzustellen, wie insbesondere Anfragen bei der Staatsanwaltschaft Korneuburg, was nun konkret Gegenstand des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens gewesen ist. Das hat das Verwaltungsgericht allerdings nicht getan.
12 Indem das Verwaltungsgericht in Verkennung dessen weitere diesbezügliche Ermittlungen und darauf aufbauende, für eine abschließende rechtliche Beurteilung notwendige Feststellungen zur Begründung seiner Entscheidung unterlassen hat, erweist sich somit das angefochtene Erkenntnis als mit relevanten Verfahrensmängeln belastet.
13 In diesem Zusammenhang ist das Verwaltungsgericht für das fortzusetzende Verfahren zu seiner Begründung zum Absehen von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung auch auf Folgendes hinzuweisen:
14 Nach § 24 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß Abs. 4 kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
15 Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird durch einen rechtskräftig ergangenen und bezüglich der Vorwürfe ausreichend konkreten Einleitungsbeschluss - ungeachtet seiner allfälligen Fehlerhaftigkeit - die Verjährungsfrist im Disziplinarverfahren wirksam unterbrochen. Bereits bei Erlassung des durch ein ordentliches Rechtsmittel bekämpfbaren Einleitungsbeschlusses war die Frage der Verjährung zu beurteilen und kann daher nicht neuerlich aufgeworfen werden (vgl. z.B. VwGH 25.9.2019, Ro 2019/09/0006, zum K-GBG, VwGH 22.2.2018, Ra 2017/09/0050, und VwGH 23.2.2017, Ra 2016/09/0113, zum HDG 2002 bzw. HDG 2014, sowie VwGH 14.11.2002, 2001/09/0008, VwGH 17.11.1994, 94/09/0112, und VwGH 27.4.1989, 88/09/0004, zum BDG 1979).
16 Wenn demnach im Stadium der Entscheidung über die Einleitung oder Nichteinleitung eines Disziplinarverfahrens abschließend die Frage der Verjährung zu klären ist, kann sich vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Ermittlung von diesbezüglich notwendigen Sachverhaltselementen nicht nur über Antrag sondern auch von Amts wegen ergeben.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Wien, am 22. September 2021
Schlagworte
Allgemein Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5 Rechtsgrundsätze Verjährung im öffentlichen Recht VwRallg6/6 Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde Verfahrensbestimmungen AllgemeinEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021090146.L00Im RIS seit
18.10.2021Zuletzt aktualisiert am
18.10.2021