TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/1 W257 2187196-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.07.2021
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Entscheidungsdatum

01.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch


W257 2187196-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Mario ZÜGER, Seilergasse 16, 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 24.01.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2021, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 27.11.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er in der Provinz Kabul geboren worden sei und er dort eine zwölfjährige Schulbildung erhalten habe. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sei ohne Glaubensbekenntnis. Er sei verheiratet und habe zuletzt Berufserfahrung als Verkäufer gesammelt. In seinem Heimatland habe er sich zuletzt im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Balkh aufgehalten. In Afghanistan würden noch sein Bruder, seine Ehefrau sowie ein Sohn und drei Töchter leben. Eine Schwester sei in Frankreich aufhältig. Afghanistan habe illegal über Pakistan, den Iran und die Türkei verlassen, ehe er in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist sei. Danach sei er mit dem Flüchtlingsstrom nach Österreich gekommen, wo er gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er keine Religionszugehörigkeit habe und er deshalb von Religionsgelehrten und Nachbarn bedroht worden sei. Er sei aufgefordert worden, den Koran zu lesen, in die Moschee zu gehen und das Gebet zu verrichten. Dies habe er nicht gemacht. Seine Familie lebe versteckt in Kabul, seine Kinder würden keine Schule besuchen. Afghanistan habe er aus Angst um sein Leben verlassen.

3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 22.01.2016 gab der BF an, dass er gesund sei er aber ein Medikament gegen Schlaflosigkeit nehme. Er wäre aber arbeitsfähig.

Seine Identität könne er durch die Vorlage seiner Tazkira und seines afghanischen Führerscheins belegen. Er sei afghanischer Staatsbürger und Angehöriger der tadschikischen Volksgruppe, habe jedoch kein Glaubensbekenntnis. Bis zu seinem 13.Lebensjahr sei er sunnitischer Moslem gewesen. Damals sei das Nachbarhaus abgebrannt und sei gesagt worden, dass der Koran nicht abgebrannt sei, woraufhin er zwei Seiten herausgenommen und verbrannt habe. Sein Vater würde auch nicht an religiöse Wunder glauben, er selbst habe sich in Pakistan durch das Internet und Bücher informiert und seit dem Alter von 22 Jahren hätten sich seine Glaubensansichten verfestigt. Er habe das Beten und 40-tägige Trauerzeiten hinterfragt und in Pakistan Antworten in Büchern gefunden. Nach seiner Rückkehr aus Pakistan sei er überzeugt gewesen, dass es nichts Religiöses gäbe, weshalb er weder in Moschee gegangen sei noch er gebetet habe. Er habe danach noch sieben Jahre in Afghanistan leben können, weil er –abgesehen von nahen Angehörigen – niemanden etwas von seinem Glaubensabfall gesagt habe. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 2014 hätten weitere Verwandte von seinem Glaubensabfall erfahren. Seine Ehefrau habe ebenfalls davon gewusst, außenstehende Personen jedoch nicht. Sein Vater und seine Ehefrau hätten sich ebenfalls vom Islam abgewandt. Er selbst sei nicht aus der sunnitischen Religionsgemeinschaft ausgetreten, weil er nicht gewusst habe, dass man dies könne.

Er sei In Kabul geboren worden und aufgewachsen. Im Alter zwischen 19 und 22 habe er in Pakistan gelebt, ehe er wieder nach Kabul zurückgekehrt sei. Drei Monate vor seiner Ausreise habe er sich noch in XXXX aufgehalten. Er habe eine zwölfjährige Schulbildung und eine sechsjährige Berufserfahrung als Verkäufer in einem Möbelhaus. Seine Familie sei nach seiner Ausreise wieder zurück nach Kabul gezogen. Kabul hätten sie damals verlassen, weil er von den Söhnen seines Onkels und einem Mullah bedroht worden sei. Seine Frau lebe in Kabul mit den Kindern alleine in Kabul. Die zwei ältesten Kinder wären in der Schule. Das Leben sei dort aber nicht einfach, weil alleinstehende Frauen belästigt werden würden.

Er sei seit dem Jahr 2005 traditionell verheiratet. Nach der Geburt des ersten Kindes habe er seiner Frau offenbart, dass er vom Islam abgefallen sei. Sie wäre überrascht gewesen, habe es aber eingesehen. In Österreich habe er keine Verwandten. Hier lebe er von der Grundversorgung. Er sei weder in Österreich noch in Afghanistan vorbestraft oder inhaftiert gewesen. In Afghanistan sei er auch nicht politisch aktiv oder Mitglied einer Partei gewesen und habe auch keine Probleme mit den Behörden gehabt.

Afghanistan habe er im August 2015 verlassen. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er bei den Trauerfeierlichkeiten seiner Mutter nicht teilgenommen habe. Der Mullah und die Söhne seiner Tante und seines Onkels hätten ihn bedroht. Danach wären diese Verwandten in der Nacht zu ihm gekommen und hätten ihn geschlagen. Diese hätten auch sein Auto und die Haustür zum Hof zerstört. Er sei dann sofort in ein Dorf bei Mazar-e Sharif gezogen. Jedoch wären dort die Leute sehr religiös gewesen, sodass er auch nicht länger hätte dortbleiben können. Ein Freund, der von den familiären Problemen im Zuge der Trauerfeierlichkeiten der Mutter gewusst habe, habe ihm schließlich geraten, das Land zu verlassen. Er korrigierte die Jahreszahl diese Vorfälle, die sich nicht im Mai 2014, sondern im Mai 2015 ereignet hätten. Er habe sein Heimatland im August 2015 verlassen.

Nach dem Begräbnis seiner Mutter, wären die Verwandten aufgebracht zu ihm gekommen, weil er daran nicht teilgenommen habe, Der Mullah habe beschwichtigt, jedoch gemeint, dass er den BF nicht in der Moschee, beim Beten oder im Fastenmonat sehe. Mit der Nichtteilnahme an der Beerdigung seiner Mutter sei es offensichtlich geworden, dass er vom Islam abgefallen sei, wie er eben auch nie in der Moschee gewesen sei und er auch nicht gefastet oder gebetet hätte. Sein Bruder habe diesen Verwandten jedoch nicht von seinem Glaubensabfall erzählt. Zuletzt sei er nach dem Tod seiner Mutter in einer Moschee gewesen, weil es schon schlecht für einen wäre, wenn man nicht hingehen würde. Zuvor sei er zuletzt in seiner Kindheit in einer Moschee gewesen. Warum er dann aber nicht zu Beerdigung gegangen sei, begründete der BF dahingehend, dass diese sinnlos wäre, weil da nur Leute kämen, die essen würden. Außerdem müsse er bei einer solchen Zeremonie aus dem Koran vorlesen und auch Lesungen zuhören, obgleich er nicht daran glaube. Bei der Beerdigung seines Vaters sei er anwesend gewesen, weil er sich damals noch nicht so viele Gedanken gemacht habe. Deshalb sei er auch damals in die Moschee gegangen. In Pakistan sei er auch ein bis zwei Mal in einer Moschee gewesen.

Die Angehörigen hatten damals in der Nacht nach dem BF gerufen und auf sein Auto eingeschlagen. Sie wären im Dunkeln leise gewesen und dann wären sie unverrichteter Dinge abgezogen. Nach dem Vorfall habe er weder von den Angehörigen noch vom Mullah etwas gehört. Zu seinem Bruder habe er keinen Kontakt mehr, weil dessen Ehefrau streng gläubig wäre. Sein Bruder habe auch gemeint, dass er ihn entehrt hätte und alle darüber Bescheid wüssten.

Danach legte der BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Nach Erörterung der Länderfeststellungen und seines Vorbringens führte der BF aus, dass keine Angst wegen der Sicherheitslage habe. Er fühle sich hier mit der Religion, die er sich ausgesucht habe, frei.

4. Mit Bescheid vom 24.01.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF glaubwürdige Angaben über seinen Bildungsstand und seine Familienangehörigen getätigt habe, jedoch er nicht glaubhaft darlegen habe können, dass er sich in Pakistan aufgehalten habe. Hierbei hätten seine Angaben insbesondere über die Aufenthaltsdauer divergiert und wären in sich widersprüchlich gewesen. Dies habe auch aus dem Gesichtspunkt gesehen werden müssen, dass er sich darauf berufen habe, in Pakistan vom Islam abgefallen zu sein. Bezüglich des Schlüsselerlebnis eines Abfalles vom Islam sei der BF ebenfalls nicht glaubwürdig gewesen, zumal er einerseits einmal das Verbrennen zweier Seites des Korans, andererseits er in Pakistan gelesenen Bücher dafür angeführt habe. Gegen eine Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des BF spreche es auch, dass er unterschiedliche Angaben über die Anzahl der Kenntnis der Personen, die von seinem Glaubensabfall gewusst hätten, sowie die völlig unterschiedliche Anzahl der Besuche in einer Moschee. Hierbei habe sich der BF auch dahingehend widersprochen, dass er gemeint habe, er sei mit 22 Jahren schon vom Islam abgefallen, er sich aber beim zeitlich viel später liegenden Tod seines Vaters keine Gedanken über die Religion gemacht habe. Aus diesen Gründen sei die Fluchtgesichte auch als absolut unglaubwürdig zu werten gewesen. Diese habe der BF lediglich konstruiert, um die belangte Behörde zu täuschen.

Das Vorbringen über die Beerdigung seiner Mutter sei ebenfalls konstruiert erschienen. Einerseits sei diese vage und oberflächlich gewesen, andererseits sei dieses auch in wesentlichen Punkten widersprüchlich gewesen. Gegen eine Glaubwürdigkeit würde es auch sprechen, dass der im Zuge der Erstbefragung auch nicht die Angehörigen als Verfolger genannt hätte, obgleich er vor der belangten Behörde diese Vorfälle als ausreisekausal geschildert habe.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre dem BF eine Ansiedlung in Kabul zumutbar, zumal er dort auf ein soziales Netz an Verwandten zurückgreifen könne. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF sei jung, gesund und arbeitsfähig. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

5. Mit Verfahrensanordnung vom 24.01.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrecht Österreich für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 24.01.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

6. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 22.02.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung, nunmehr die die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass sich das BFA aufgrund eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens und mangelhafter Länderfeststellungen die Verfahrensvorschriften verletzt habe. Die in der Beschwerde angeführten Länderberichte würden die prekäre Sicherheitslage und Versorgungslage in Kabul und ganz in Afghanistan nicht richtig darstellen. Diese sei derart schlecht, dass dem BF auch keine Rückkehr nach Kabul zumutbar sei. Ebenso habe die belangte Behörde mangelhafte Feststellungen und eine mangelhafte Beweiswürdigung dem bekämpften Bescheid zu Grunde gelegt, zumal der BF durch sein Vorbringen einer konkreten und gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt sei. Die angeführten Widersprüche würden einerseits leicht entkräftigt werden können, andererseits wären diese auch nur von bedingter Relevanz, zumal der BF glaubhaft seinen Abfall vom Islam darlegen habe können, weshalb er aufgrund dessen eine staatliche Verfolgung aus religiösen und politischen Gründen als Apostat zu fürchten habe.

Die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan würde ein Rückkehrhindernis für den BF darstellen. Außerdem habe sich der BF trotz kurzer Aufenthaltsdauer gut integriert, weshalb die Rückkehrentscheidung sohin für dauerhaft unzulässig erklärt hätte werden müssen. Ebenfalls wurde das Durchführen einer mündlichen Verhandlung beantragt.

7. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 23.02.2018 vom BFA vorgelegt, wobei die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichtet und die Abweisung der Beschwerde angeregt habe.

8. Mit Schreiben vom 08.01.2019, 19.02.2019 und 21.01.2020 wurden integrationsbegründende Unterlagen und ein Schreiben des Präsidenten der Atheistischen Religionsgemeinschaft vorgelegt.

9. Mit Schriftsatz vom 24.04.2020 erfolgte die Vollmachtsbekanntgabe, dass der BF nunmehr in gegenständlichem Verfahren von RA Dr. Mario ZÜGER rechtsfreundlich vertreten werde.

10. Mit Schriftsatz vom 15.12.2020 erfolgte seitens der Rechtsvertretung des BF eine Beschwerdeergänzung samt Urkundenvorlage. In dieser wurde festgehalten, dass sich der BF integriert habe und er sich im April 2020 als Botenfahrer selbstständig gemacht habe, wodurch er seine Selbsterhaltungsfähigkeit erlangt habe. Durch seinen langjährigen Aufenthalt in Österreich habe sich seine fluchtauslösende und religionskritische Haltung verfestigt. Diese könne dadurch bewiesen werden, weil sich der BF mit vielen Gleichgesinnten austauchen würde und er dies auch in sozialen Netzwerken öffentlichkeitswirksam zur Schau stellen würde. Es wurde in diesem Zusammenhang auch zwei Zeugen für eine Zeugenaussage namhaft gemacht.

Da er sich mehr an religiöse Bräuche halte und auch an kein höheres Wesen glaube, sei er daher in Afghanistan einer erhöhten Gefährdung durch seinen offenkundigen Abfall vom Islam ausgesetzt. Dass Apostaten in Afghanistan seitens des Staates verfolgt werden würden, sei aus den UNHCR-Richtlinien, zahlreichen ACCORD-Anfragen und der Statusrichtlinie zu entnehmen. Dass diese zur Gefährdung zur Gewährung von Asyl führe, könne auch aus zahlreichen Judikaten des BVwG entnommen werden. Der BF habe durch das Ausleben seines Nichtglaubens in Österreich auch einen Nachfluchtgrund gesetzt. Des Weiteren wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen zum Bewies seiner außergewöhnlichen Integration dieser Beschwerdeergänzung beigefügt.

11. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 06.05.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung sowie ein Zeuge persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, wie in der Beschwerdevorlage mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Er nehme Tabletten wegen hoher Cholesterinwerte. Die Tabletten wegen seiner Schlaflosigkeit müsse er seit Arbeitsbeginn weniger oft einnehmen. Er stellte richtig, dass seine Mutter 2015 gestorben sei. Er sei Tadschike und ohne religiöses Bekenntnis. Er sei in Kabul aufgewachsen und für drei Jahre in Pakistan, glaublich zwischen 20 und 23, gewesen. Er habe eine zwölfjährige Schulbildung und Berufserfahrung als Verkäufer. Drei Jahre sei er in Pakistan in die Schule gegangen, wo er diese auch im Jahr 1999 beendet hätte. In Österreich habe die Deutschprüfung auf dem Niveau B1 abgelegt. In Afghanistan sei er sechs Jahre lang Dekorateur gewesen. In Österreich habe er auf einem Weingut von 2017 bis 2020 geringfügig und seit 21.04.2020 als Bote selbstständig gearbeitet. Er helfe auch noch freiwillig bei der Caritas in einer Küche aus. Seine Familie und sein Bruder würden noch in Kabul leben. Er unterstütze seine Familie finanziell und habe täglich Kontakt zu dieser. Zu seinem Bruder habe er wegen dessen strenggläubiger Frau den Kontakt abgebrochen. Eine Schwester würde in Frankreich leben. Zu weiteren in Ausland lebenden Onkel und Tanten habe er keinen Kontakt. Auf mehrmalige Nachfrage führte der BF aus, dass er in Afghanistan leben können würde, wenn er den Islam akzeptieren würde. Er sorge sich um seine Kinder, die mittlerweile alle in die Schule bzw. Vorschule gehen würden.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er bei der Beerdigung seiner Mutter zwar dabei gewesen sei, er jedoch danach nicht zum Gottesdienst in die Moschee habe gehen wollen. Seine Cousins hätte ihn als Ungläubigen geschimpft und der Mullah habe gemeint, dass er ihn bei den Gelehrten anzeigen werde. Am selben Abend wären Leute vom Mullah und seine Cousins gekommen, hätten mit den Füßen gegen die Türe getreten und sein Auto kaputt gemacht. Sie hätten sich ruhig verhalten und wären zeitig am nächsten Morgen nach Mazar-e Sharif aufgebrochen. Dort habe er sich mit seiner Familie drei Monate in der leerstehenden Wohnung der Schwiegermutter aufgehalten, ehe er diese Region wieder verlassen hätte, weil sie ihm zu konservativ gewesen sei. Über einen Freund habe er dann einen Schlepper organisiert.

Er vermeinte, dass er nicht mehr in Moschee gehen habe wollen, weil dies alles eine Lüge sei und es keinen Gott geben würde. Ebenso wären die Begräbniskosten so hoch gewesen und er habe nicht unnötig Geld ausgeben wollen.

In eine Moschee zu gehen oder den Koran zu lesen würde ihm nicht gefallen zumal er zu diesen Tätigkeiten gezwungen worden sei. Er wolle auch nicht dort hineingehen und die Lügen des Korans hören. Auch wenn es das Begräbnis seiner Mutter gewesen wäre, habe er nicht beim Gottesdienst dabei sein wollen. Zuletzt sei er beim Tod seines Vaters in der Moschee gewesen. Damals sei er schon verheiratet gewesen. Auf Vorhalt von divergierenden Angaben vermeinte der BF, dass dies falsch protokolliert worden sei und er bei der Beerdigung, aber nicht bei der Segnung gewesen sei. Er habe auch bei Überführen der Leiche von der Moschee zum Friedhof vor der Moschee gewartet. Drei Tage nach dem Begräbnis sei die Segnung gewesen. Bei dieser sei man zwei Stunden in der Moschee und müsse danach die Leute verköstigen. Er hätte aber das Geld dafür lieber spenden wollen. Er sei nicht bei dieser Zeremonie gewesen. Er habe nicht einmal wollen, dass diese stattfinde. Er halte dies für sinnlos, weil der Verstorbenen davon nichts mehr erfahren könne. Er denke noch an seine Eltern, aber das käme von seinem Herzen aus. Er verneinte auch, dass es lediglich aus monetären Gründen nicht zu dieser Zeremonie gegangen sei.

Vom Islam habe er sich begonnen zu distanzieren als 13 gewesen sei. Sein Vater habe ebenfalls nicht an den Islam geglaubt. Mit 22 habe er nicht mehr an Gott geglaubt. Mit 36 habe er Afghanistan verlassen. In der Zeit bis 2015 habe er dies für sich behalten. Warum es bis dahin nicht aufgefallen sei, dass es nicht in die Moschee gehen, konnte der BF nach mehrmaliger Nachfrage nicht darlegen und vermeinte, dass der Mullah schon gesagt hätte, dass er ihn nie bei einem Gebet sehen würde. Daraufhin vermeinte die Rechtsvertretung des BF, dass der Nichtglaube laut ACCORD-Berichten erst bestraft werde, wenn man sich öffentlich äußern und den Propheten auf diesem Weg kritisieren würde.

Zu den Cousins, die ihn aufgesucht hätten, habe er keinen Kontakt. Seine Familie hätten diese nach ihrer Rückkehr nach Kabul noch gesehen und binnen kürzester Zeit dreimal den Wohnsitz gewechselt. Ob die Mullahs den BF dann tatsächlich angezeigt hätten, wisse er nicht. Er sei dann nach Europa geflohen, weil er sich vom Islam abgewandt habe und er in Afghanistan nicht mehr hätte leben können. Er sei außerdem nach Mazar-e Sharif gegangen, wo man ihn schon gefragt hätte, warum er nicht in die Moschee gehe. Außerdem hätte man ihn leicht in Mazar-e Sharif finden können. Er habe wegen diese Lüge nicht mehr in Afghanistan leben können und seine Familie zurücklassen müssen.

Er sei von Islam abgefallen, weil sich informiert habe und dabei herausgefunden hätte, dass alles eine Lüge sei. Er selbst habe aber frei entscheiden und frei leben wollen. Es gäbe keine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Ebenso hätten die Religionen die Menschen erschaffen, jedoch existiere die Welt schon viel länger. Er habe als Kind Seiten aus dem Koran gerissen und verbrannt und ihm sei nichts passiert. Auch sei es für ihn nicht nachvollziehbar, warum es ein Paradies für Männer, aber keines für Frauen geben würde. Er glaube auch generell an keinen Gott. In Europa könne er diese Freiheit ohne religiösen Zwang ausleben. Er habe dies durch Geld und Verstand geschafft. Außerdem müsse man sich den Regeln hier anpassen, um nicht wieder zurückgeschickt zu werden. Glück würde es geben, aber auch dies sei nicht von so gewollt, sondern es wäre immer die Menschen dafür verantwortlich. Manchmal sei es eben nicht im eigenen Einflussbereich. Der Sinn des Lebens bestehe darin ein guter Mensch zu sein und in Freiheit zu leben. Ein Geistlicher würde dies so nicht sagen, sondern immer der Weg zu Gott und Mohammed sowie das Gebet einfordern. Er wolle aus einer religiösen Lüge keine Vorteile ableiten, sondern sich lediglich menschlich benehmen. Ihm missfalle es auch, dass Mohammed eine Ehe mit einem Kind geschlossen habe und Gott ihm auch gesagt haben soll, dass er zwei Jahre später mit diesem Kind den Beischlaf vollziehen könne. Mohammed sei Analphabet gewesen, habe aber die Bibel lesen können. In dieser würde geschrieben stehen, dass man im Bauch eines Fisches drei Tage überleben können würde. Der Koran würde auch zum größten Teil auf der Bibel basieren. Ein Mann dürfe vier Frauen haben, eine Frau müsse aber zu Hause bleiben. Dies sei ungerecht.

Er habe sich hier auch mit atheistische Literatur auseinandergesetzt und sei in einem atheistischen Verein gewesen. Dies könne in Afghanistan nicht tun. Zwölf Afghanen würden wissen, dass er sich vom Islam abgewandt habe. Er betreibe auch ein facebook-Profil, wo er islamkritischen Inhalt veröffentliche. Dieses Profil sei dem BF zuordenbar, habe 150 Freunde und beinhalte ein atheistisches Zitat.

Er habe auch einen Bekannten im Zuge eines Deutschkurses kennengelernt. Da dieser auch Atheist sei, habe ihn der BF zu seiner Atheistengruppe gebracht. Dieser Freund wurde danach als Zeuge einvernommen und bestätigte die Freundschaft zum BF. Sie wäre in den Kursen bei den Themen über Religion auf diese Gemeinsamkeiten gestoßen. Der BF sei dann kurz vor ihm Mitglied im Atheistenverein geworden. Jedoch habe sich der BF schon davor religionskritisch geäußert. Sie wären dann auf naturwissenschaftliche Fragen eingegangen. Dass er nur zum Schein vom Islam abgefallen wäre, sei für ihn unvorstellbar. Der BF habe in der kleinen Gruppe immer aufrecht diskutiert und seine deutlich islamkritische Meinung nie zurückgehalten. Ein konkretes Beispiel hierzu habe der Zeuge allerdings nicht nennen können.

In Österreich lebe er mit einem Freund zusammen. Er habe im Mai letzten Jahres zu arbeiten begonnen und verdiene als Fahrradbote im Schnitt € 1.400,- netto. Eine Verständigung mit dem BF sei auf Deutsch gut möglich.

Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

12. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Afghanische Tazkira

?        Afghanischer Führerschein

?        Teilnahmebestätigungen an Integrations- und Deutschkursen

?        Zahlreiche Bestätigungen über die Durchführung gemeinnütziger und freiwilliger Tätigkeiten

?        Zahlreiche Empfehlungsschreiben

?        Bestätigungsschreiben der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich

?        Zeugnis zur ÖSD Integrationsprüfung B1

?        Schreiben des Präsidenten der Atheistischen Religionsgemeinschaft

?        Einstellungszusage

?        Meldezettel und Mietvertrag

?        Verständigung von Gewerbeanmeldung vom 12.05.2021 (Güterbeförderung)

?        Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem Austria

?        Versicherungsdatenauszug

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und wurde Moslem sunnitischer Glaubensrichtung geboren. In Österreich gehört der BF keiner Religionsgemeinschaft an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist generell gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Afghanistan geboren. Abgesehen von einem dreijährigen Aufenthalt in Pakistan und einen wenige Monate andauernden Aufenthalt in der Provinz Balkh hat sich der BF vor seiner Ausreise nach Europa immer in der Provinz Kabul aufgehalten. Er hat eine zwölfjährige Schulbildung erhalten und jahrelange Berufserfahrung als Verkäufer und Dekorateur in einem Möbelhaus gesammelt. Der BF ist verheiratet. In seinem Heimatland sind noch seine Ehefrau und seine vier Kinder in Kabul aufhältig. Mit ihnen ist der BF regelmäßig in Kontakt. Zu einem in Kabul lebenden Bruder hat der BF, sowie zu sonstigen noch in Afghanistan aufhältigen weitschichtigen Verwandten, keinen Kontakt mehr. Anhaltspunkte dafür, dass der BF mit den im Ausland lebenden Familienangehörigen, insbesondere seiner in Frankreich lebenden Schwester, in Kontakt steht, sind nicht hervorgekommen.

Der BF ist daher in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich unbescholten.

Der BF ist nach seiner illegalen Ausreise aus Afghanistan über Pakistan, den Iran und die Türkei in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 29.10.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 29.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er keine Religionszugehörigkeit habe und er deshalb von Religionsgelehrten und Nachbarn bedroht worden sei. Er sei aufgefordert den Koran zu lesen, in die Moschee zu gehen und das Gebet zu verrichten. Dies habe er nicht gemacht. Seine Familie lebe versteckt in Kabul, seine Kinder würden keine Schule besuchen. Afghanistan habe er aus Angst um sein Leben verlassen. In Österreich habe sich seine atheistische Haltung im Zuge seines langjährigen Aufenthaltes weiter ausgeprägt.

Der BF wurde weder von Privatpersonen noch von den Religionsgelehrten entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens Privatpersonen, Religionsgelehrten weder angesprochen noch sonst in irgendeiner Weise bedroht und wird von diesen auch nicht gesucht.

Es kann festgestellt werden, dass der BF in Afghanistan nicht in diesem Maße von Islam abgefallen ist, dass dieser infolgedessen von Privatpersonen, Religionsgelehrten oder den staatlichen Behörden verfolgt wird.

Der BF ist in Österreich in einem atheistischen Verein aktiv. Es kann festgestellt werden, dass sich der BF mit den Glaubensinhalten der Religionslosigkeit auseinandergesetzt hat. Jedoch hat sich der BF nicht nachhaltig dem Atheismus zugewandt hat und es ist dieser Glaube für den BF nicht identitätsstiftend.

Es können keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der BF Gefahr liefe, in Afghanistan einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.

Es wird festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr nach Afghanistan weder in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würde noch als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen Konfliktes ausgesetzt wäre.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur zur Volksgruppe der Tadschiken oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Kabul, die als eine nicht volatile Provinz eingestuft wird, zumutbar. Da er in Kabul über Ortkenntnisse und familiäre Anknüpfungspunkte verfügt und diese Provinz nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt, ist eine Rückkehr in diese möglich. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist dem BF auch noch – neben einer Rückkehr nach Kabul – die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans, insbesondere der Stadt Herat und der Stadt Mazar-e Sharif, zumutbar. Bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde; er ist gesund. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF. Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Durch seinen Aufenthalt in Kabul ist der BF mit den örtlichen Gegebenheiten in dieser Stadt vertraut und er ist auch in der Lage, dort einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, wie er dies schon vor seiner Ausreise gemacht hat. Seine in Kabul lebende Familie kann ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorübergehend finanziell und mit Wohnraum unterstützen.

Der BF hat jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und er auch in Afghanistan zwölf Jahre in die Schule gegangen ist sowie er in seinem Heimatland auch Berufserfahrung als Verkäufer und Dekorateur in einem Möbelhaus gesammelt hat.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 29.10.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 29.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er, abgesehen von einem Atheistenverein, kein Mitglied in sonstigen Vereinen. Schließlich wird das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft durch Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird. Jedoch gilt es auch hier anzumerken, dass diese Schreiben ausschließlich aus dem sozialen Umfeld des BF stammen, das ein besonderes Interesse am Verbleib des BF im Bundesgebiet hat und von Organisationen (Personen), zu deren maßgeblichen Tätigkeitsfeld die Unterstützung von Asylwerbern zählt.

Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht darlegen. Er ist in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.

Er hat sich im April 2020 im Bereich des Gewerbes Botendienst selbstständig gemacht. Daraus erzielt der BF regelmäßige Einkünfte als Fahrradbote im Bereich der Essenszustellung. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF zwar gelungen, jedoch hat er diese Tätigkeit erst lange nach dem Zeitpunkt, seitdem er nicht mehr darauf vertrauen hat dürfen, im Bundesgebiet bleiben zu können, aufgenommen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 in der Aktualisierung vom 02.04.2021 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (3.2021) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl. UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.5.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 31.03.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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