TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/5 W229 2190785-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.08.2021
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Entscheidungsdatum

05.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W229 2190785-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU), Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. und V. wird stattgegeben und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 52 AsylG iVm. § 9 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt.

III. Dem Beschwerdeführer wird gem. §§ 54 Abs. 2 iVm. 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

IV. Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der damals minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 11.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.05.2016 gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in der Provinz Nangarhar, Afghanistan, geboren. Seine Muttersprache sei Paschtunisch (Paschtu). Er habe vier Jahre lang die Grundschule besucht und keine Berufsausbildung.

Von seinen Familienangehörigen sei sein Vater von den Taliban getötet worden, seine Mutter, seine zwei Schwestern und seine zwei Brüder seien nach Kabul gereist als der Beschwerdeführer nach Europa aufgebrochen ist. Ein Onkel mütterlicherseits sei mit seiner Familie in Kabul wohnhaft. In Österreich oder einem anderen EU-Staat wohnten keine Familienangehörigen. Die letzte Wohnsitzadresse in Afghanistan sei in XXXX gewesen.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, sein Vater habe als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle in Kabul gearbeitet. Auf dem Weg nach Hause sei der Vater von den Taliban angehalten und beschuldigt worden, für Ausländer zu arbeiten, weshalb er umgebracht worden sei. Zwei Tage nach der Ermordung seines Vaters sei der Beschwerdeführer ausgereist. Ein Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers habe dessen Reise organisiert. Die Familie des Beschwerdeführers sei von dessen Onkel mütterlicherseits nach Kabul gebracht worden. Der Beschwerdeführer antwortete auf die Frage, was er bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, dass er vor den Taliban Angst habe und sich in Österreich ein besseres Leben aufbauen möchte. Konkrete Hinweise, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe oder eine sonstige Sanktion drohe, gebe es dem Beschwerdeführer zufolge keine.

2. Im weiteren Verfahrensverlauf gab der Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 07.07.2017 auf die Frage, ob er bis jetzt immer die Wahrheit und alle Ausreisegründe bzw. Rückkehrbefürchtungen genannt habe, an, dass er bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.05.2016 müde gewesen sei und Konzentrationsschwierigkeiten gehabt habe, da er zuvor vier Tage nicht geschlafen und gegessen habe. Zudem habe der Dolmetscher einen speziellen Akzent gehabt, den der Beschwerdeführer nicht gut verstanden habe. Der Beschwerdeführer sagte in weiterer Folge aus, dass in der Niederschrift der Erstbefragung festgehalten sei, seine Mutter sei 27 Jahre alt, obwohl sie in Wirklichkeit 35 Jahre alt sei. Weiters sei in der Niederschrift der Erstbefragung angeführt, dass der Beschwerdeführer in Kabul gewohnt habe, obwohl er nie in Kabul gelebt habe. In der Niederschrift der Erstbefragung stehe zudem, dass die Familie des Beschwerdeführers bei dessen Ausreise nach Kabul gereist sei. Vielmehr sei es aber so, dass der Onkel des Beschwerdeführers, welcher aus Kandahar zur Familie des Beschwerdeführers gekommen sei, gesagt habe, dass diese vielleicht in Kabul leben werde. Der Onkel des Beschwerdeführers habe in Kandahar als Physik- und Chemielehrer gearbeitet.

In Afghanistan habe der Beschwerdeführer vier Jahre die Schule besucht, diese aber aus Gründen, die seinen Ausreisegrund betreffen, nicht weiter besuchen können. Er habe nicht gearbeitet und vom Einkommen seines Vaters gelebt. Die letzten fünf Jahre vor der Ausreise aus Afghanistan habe sich der Beschwerdeführer in XXXX in der Provinz Nangarhar aufgehalten.

Sein Vater sei Maurer gewesen und habe für Freunde gearbeitet, die bei den Amerikanern beschäftigt gewesen seien. Der Vater des Beschwerdeführers sei auf Grund dessen von den Taliban beobachtet und mitgenommen worden. Kurz darauf habe die Polizei die Leiche des Vaters gefunden und diese nach XXXX zum Bazar zwecks Identifikation und Feststellung des Wohnsitzes gebracht. Zwei Tage nach der Beerdigung des Vaters sei der Beschwerdeführer im Jahr 2016 aus Afghanistan ausgereist, da er vermutet habe, die Taliban würden ihn in weiterer Folge auffordern, für sie zu arbeiten. Diese Vermutung habe daher gerührt, dass die Taliban im Dorf des Beschwerdeführers in der Vergangenheit schon in ähnlicher Weise vorgegangen seien. Eine entsprechende Aufforderung seitens der Taliban an den Beschwerdeführer, für sie zu arbeiten, habe es aber nicht gegeben. Auch sei der Beschwerdeführer niemals persönlich bedroht worden.

Seine Reise habe er in seinem Heimatort XXXX begonnen, wo zu diesem Zeitpunkt auch noch seine Familie und sein Onkel gewesen seien. Seine Mutter sei im Krankenhaus, der Beschwerdeführer, dessen Geschwister und sein Onkel seien daheim gewesen. Bei der Abreise seien die Geschwister beim Onkel geblieben, da die Mutter noch im Krankenhaus gewesen sei. Wo die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers in Afghanistan lebten, wisse er nicht und er habe keinen Kontakt. Seit der Ausreise aus Afghanistan habe zur Mutter kein Kontakt bestanden, zum Onkel habe drei oder vier Mal via Internet Kontakt bestanden, zuletzt vor etwa vier oder fünf Monaten. Zum damaligen Zeitpunkt habe der Onkel in Kandahar gelebt, die Familie des Beschwerdeführers sei bei ihm gewesen. Außer seiner Mutter, seinen zwei Schwestern, seinen zwei Brüdern und seinem Onkel und dessen Familie habe der Beschwerdeführer keine weiteren Angehörigen in Afghanistan.

Zu seinem Leben in Österreich befragt gab der Beschwerdeführer an, nicht arbeitstätig sowie als nicht arbeitslos gemeldet zu sein und sich nicht um einen Arbeitsplatz beworben zu haben. Der Beschwerdeführer lebe von der Grundversorgung, erhalte EUR 40,00 im Monat und verfüge über kein Vermögen. Er gab an, in Österreich Krankenpfleger oder Polizist werden zu wollen oder auf einer Baustelle oder in einem handwerklichen Beruf zu arbeiten. In Österreich bestünden keine engeren familiären oder privaten Anbindungen, der Beschwerdeführer sei nicht verheiratet/verpartnert bzw. auch früher nicht verheiratet/verpartnert gewesen und habe keine Kinder. Der Beschwerdeführer besuche einen A2-Deutschkurs und gehe ins Fitnesscenter. Weder in Österreich noch in Afghanistan sei der Beschwerdeführer in Krankenhausbehandlung oder medizinischer Behandlung gewesen, er sei immer gesund gewesen und benötige auch zum Zeitpunkt der Einvernahme keine medizinische Behandlung.

3. Mit Bescheid vom 14.02.2018 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den oben genannten Bescheid im Wege seiner nunmehrigen Rechtsvertreterin fristgerecht Beschwerde, welche am 16.03.2018 beim BFA einlangte und in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 29.03.2018).

5. Am 28.01.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen, in welcher zwei Zeugen einvernommen und der ein Dolmetscher für die Sprache Paschtu beigezogen wurden. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil.

Der Beschwerdeführer legte mehrere Integrationsunterlagen vor.

In der Verhandlung wurden Länderinformationen vorgelegt und dem Beschwerdeführer sowie dem BFA für eine allfällige schriftliche Stellungnahme eine Frist von zwei Wochen eingeräumt.

6. Am 12.02.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur Verhandlung vom 28.01.2021 ein.

7. Am 21.04.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, mit der eine Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit des Beschwerdeführers für das Österreichische Rote Kreuz übermittelt wurde, mit der auf einen Termin des Beschwerdeführers beim Psychosozialen Dienst XXXX am 04.05.2021 hingewiesen wurde und mit der mitgeteilt wurde, dass es zu einer Verlängerung des bestehenden Arbeitsverhältnisses komme und eine entsprechende Bestätigung nachgereicht werde.

8. Am 10.06.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme ein, mit der ein Schreiben des Psychosozialen Dienstes XXXX und ein Bescheid des Arbeitsmarktservice XXXX übermittelt wurde.

9. Mit am 17.06.2021 zugestelltem Schreiben wurde dem Beschwerdeführer die Länderinformation der Staatendokumentation vom 11.06.2021 ins Parteiengehör gesendet.

10. Am 21.06.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, XXXX , wurde am XXXX in Jalalabad/Afghanistan geboren und lebte vor seiner Ausreise aus Afghanistan in XXXX Provinz Nangarhar. Der Beschwerdeführer ist Paschtune und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari, Urdu und Deutsch. Die Familie des Beschwerdeführers umfasst seine Mutter, zwei Schwestern und zwei Brüder. Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben. Ein Onkel mütterlicherseits hat eine eigene Familie.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan fünf Jahre lang die Schule, absolvierte in Afghanistan keine Berufsausbildung, war erwerbslos und lebte vom Einkommen seines als Maurer tätigen Vaters.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2016 aus Afghanistan in den Iran, weiter über die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich.

Die Familie des Beschwerdeführers sowie sein Onkel mütterlicherseits leben weiterhin in Afghanistan. Zur Mutter des Beschwerdeführers bestand bis zu dessen Ausreise Kontakt. Der Beschwerdeführer hatte mit seinem Onkel mütterlicherseits, während dieser in Kandahar war, via Internet Kontakt.

Der Beschwerdeführer befindet sich beim Psychosozialen Dienst XXXX – Zentrum für seelische Gesundheit seit Mai 2021 in psychiatrischer Behandlung wegen Reaktion auf schwere psychische Belastung F 43.9 sowie Verdacht auf F 43.1 (posttraumatische Belastungsstörung). Die Inanspruchnahme einer psychotherapeutischen Behandlung wurde dem Beschwerdeführer vom Psychosozialen Dienst XXXX – Zentrum für seelische Gesundheit empfohlen, der Besuch einer solchen bis dato nicht mitgeteilt, ebenso wenig ist eine aktuell bestehende Medikation ersichtlich.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer stellte am 11.05.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der Beschwerdeführer im Wesentlichen damit, dass sein Vater für die Amerikaner gearbeitet habe und dieser deshalb von den Taliban getötet worden sei. Der Beschwerdeführer geht aus diesem Grund davon aus, dass er von den Taliban dazu aufgefordert und gezwungen werden könnte, sich ihnen anzuschließen und für sie zu arbeiten.

Das erkennende Gericht hält dazu Folgendes fest:

Der Beschwerdeführer persönlich ist in Afghanistan keiner Verfolgung und damit einhergehenden physischen und/oder psychischen Gewalt durch die Taliban auf Grund der Arbeit seines Vaters ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer wuchs in einem islamisch geprägten Land eingebettet in den afghanischen Familienverband als Angehöriger der muslimischen Religion auf. Derzeit ist der Beschwerdeführer allerdings religiös nicht interessiert. Er betet nicht und hält sich gegenwärtig nicht an alle Vorgaben der islamischen Religion. Er hat sich jedoch weder aus tiefer innerer Überzeugung vom Islam abgewendet noch ist er aus tiefer innerer Überzeugung Atheist oder Anhänger einer anderen religiösen Überzeugung geworden. Er wäre in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines Abfalls vom Islam einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt.

Konkret ist der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich in Europa aufgehalten hat und damit einhergehend „westlicher“ orientiert ist, in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt bzw. hat er – oder jeder derartige „Rückkehrer“ – eine solche im Falle seiner Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

Insgesamt ist der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit Mai 2016 in Österreich auf. Er wohnt gemeinsam mit einem Mitbewohner in einem Studentenheim.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutschkurse (unter anderem „Deutsch als Fremdsprache A2“ von 26.06.2017 bis 05.10.2017; „Deutsch als Fremdsprache A2 Grundstufe 6“ von 26.07.2017 bis 16.08.2017; „Deutsch als Fremdsprache A2 Grundstufe 5“ von 26.06.2017 bis 24.07.2017) sowie den Kurs „Basisbildung/Brückenmodul-Deutsch/Mathematik/Englisch“ von 02.10.2017 bis 22.12.2017) und absolvierte die Pflichtschulabschluss-Prüfung am 03.07.2019, die ein Nachweis von Deutschkenntnissen der Niveaustufe B1 ist. Der Beschwerdeführer konnte einen Deutschkurs für die Niveaustufe B2 in Präsenz aus finanziellen Gründen und auf Grund der COVID-19-Pandemie noch nicht besuchen, beabsichtigt dies aber zu tun, sobald dies möglich ist. Zu einem Online-Deutschkurs der Niveaustufe B2 ist der Beschwerdeführer angemeldet. Darüber hinaus nahm der Beschwerdeführer an der ASKÖ Fortbildung „Für Respekt und Sicherheit gegen sexualisierte Übergriffe im Sport, 01.02.2019, teil.

Der Beschwerdeführer geht und ging vor der COVID-19-Pandemie in seiner Freizeit regelmäßig in ein Fitnessstudio, spielte Fußball sowie Volleyball, geht Laufen, lernte zudem mit dem Vater eines österreichischen Freundes Deutsch und las Bücher, die er von diesem bekommen hatte. Er hat in Österreich zahlreiche Bekannte und enge Freunde, die er zum Teil im Fitnessstudio kennen gelernt hat und mit denen er sich traf und trifft, um gemeinsam Zeit zu verbringen, Deutsch zu lernen und Sport zu treiben. Während der COVID-19-Pandemie telefonierte er mit seinen Freunden und war auf diese Weise in Kontakt mit diesen. Er pflegt zu seinen Freunden eine intensive freundschaftliche Beziehung.

Von Anfang Februar 2020 bis Mitte März 2020 absolvierte der Beschwerdeführer bei einem in XXXX ansässigen, im Bereich Metalltechnik tätigen Unternehmen ein Praktikum und fügte sich durch sein freundliches Auftreten, seine ruhige Art, durch Fleiß, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft und Pünktlichkeit in das Montageteam, welchem er zugeteilt war, gut ein.

Im Oktober 2020 nahm der Beschwerdeführer über Vermittlung durch einen Betreuer des SOS-Kinderdorfs eine berufliche Tätigkeit (Vollzeit) als Saisonarbeitskraft und Facharbeiter bei einem in der Fischereiwirtschaft tätigen Unternehmen auf. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice XXXX vom 21.10.2020 wurde dem Unternehmen als Arbeitgeber eine Beschäftigungsbewilligung für den Beschwerdeführer für die Zeit vom 21.10.2020 bis 18.04.2021 für eine Ganztagsbeschäftigung im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von € 1.540,17 brutto erteilt. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice XXXX vom 31.05.2021 wurde dem Unternehmen als Arbeitgeber eine Beschäftigungsbewilligung für den Beschwerdeführer für die Zeit vom 01.06.2021 bis 10.09.2021 für eine Ganztagsbeschäftigung im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von € 1.540,17 brutto erteilt.

Der Beschwerdeführer integrierte sich schnell in das bestehende Team und war bei der Verrichtung der zu erledigenden Arbeiten zuverlässig, motiviert, interessiert und gut gelaunt. Die Tätigkeiten umfassten unter anderem die Fischbetreuung, das Schlachten, das Filetieren, das Räuchern und die Verpackung. Der Arbeitgeber möchte den Beschwerdeführer bei einer Ausbildung zum Fischereifacharbeiter und weiterführend zum Fischmeister unterstützen.

Dem Beschwerdeführer wurde im Jänner 2021 von einem österreichischen Baukonzern schriftlich mitgeteilt und zugesagt, dass er als Hilfsarbeiter im Bereich Hoch- und Verkehrswegebau Wiener Neustadt im Frühjahr 2021 (Mai) beschäftigt werden kann. Sollten die dem Beschwerdeführer im Rahmen dieser Beschäftigung aufgetragenen Arbeiten zur vollsten Zufriedenheit des Baukonzerns ausgeführt werden, ist dieser bereit, dem Beschwerdeführer in weiterer Folge eine Lehrstelle als Maurer- und Betonbauer anzubieten.

Im Jahr 2020 engagierte sich der Beschwerdeführer als Mitglied des Ehrenamtsteams der XXXX . Seit April 2021 ist der Beschwerdeführer an der Rotkreuz-Bezirksstelle XXXX im Bereit Team-Österreich Tafel ehrenamtlich tätig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörige.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB)

-        Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19, abgerufen am 04.06.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 04.06.2021 (WHO)

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        EASO, Kabul-City, Mazar-e Sharif and Herat-City

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15.06.2020 (ACCORD Apostasie)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020 (ACCORD Covid-19)

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020 (ECOI Oktober 2020)

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban- Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Behörden sind für die Sicherheit in Afghanistan zuständig: Das afghanische Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das Nationale Direktorat für Sicherheit (NDS). Die dem Innenministerium unterstellte Afghanische Nationalpolizei (ANP) trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die Afghan Local Police (ALP), eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht in der Lage ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Im Juni 2020 kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afghanische Lokalpolizei in andere Zweige der Sicherheitskräfte einzugliedern, vorausgesetzt, die Personen können eine Bilanz vorweisen, die frei von Vorwürfen der Korruption und Menschenrechtsverletzungen ist. Ende 2020 war die Umsetzung dieser Pläne im Gange. Die Major Crimes Task Force, die ebenfalls dem Innenministerium unterstellt ist, untersucht schwere Straftaten, darunter Korruption der Regierung, Menschenhandel und kriminelle Organisationen. Die Afghanische Nationalarmee (ANA), die dem Verteidigungsministerium untersteht, ist für die äußere Sicherheit zuständig, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Aufstandsbekämpfung im Inneren. Das NDS fungiert als Nachrichtendienst und ist für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen:

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4.2).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind.

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der afghanischen Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der afghanischen Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4.2).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten. Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB, Kapitel 4).

Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel 5).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht- Selbstmord-IEDs (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5).

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (LIB, Kapitel 5).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante – Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020. Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind. Frauenrechtlerinnen in Afghanistan haben jedoch seit vielen Jahren Bedenken geäußert, dass die Regierung die Rechte der Frauen eintauschen wird, um eine Einigung mit den Taliban zu erreichen. Die afghanische Regierung hat sich oft dagegen gewehrt, Frauen in Friedensgespräche einzubeziehen. Im Juni 2015 verabschiedete die afghanische Regierung einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrats für den Zeitraum 2015 bis 2022, der auch das Ziel enthielt, die effektive Beteiligung von Frauen am Friedensprozess zu gewährleisten, doch dem Plan fehlten Details und er wurde nicht sinnvoll umgesetzt (LIB, Kapitel 5.2).

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LIB, Kapitel 5).

1.4.1.2. Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan:

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (LIB, Kapitel 3).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (LIB, Kapitel 3).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen. Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen. Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an. Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (LIB, Kapitel 3).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (LIB, Kapitel 3).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (LIB, Kapitel 3).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel 3).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“, wenn wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (LIB, Kapitel 3).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen. Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (LIB, Kapitel 3).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht. Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (LIB, Kapitel 3).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (LIB, Kapitel 3).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (LIB, Kapitel 3).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt. Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (LIB, Kapitel 3).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (LIB, Kapitel 3).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (LIB, Kapitel 3).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (LIB, Kapitel 3).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten. Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019. Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs. Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (LIB, Kapitel 3).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden. Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt. Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (LIB, Kapitel 3).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (LIB, Kapitel 3).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (LIB, Kapitel 23.1).

In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, sind es in urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 23.1).

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (LIB, Kapitel 23).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen, ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (LIB, Kapitel 23.3).

Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich (LIB, Kapitel 23.3).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (LIB, Kapitel 23.3).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (LIB, Kapitel 23.3).

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und So

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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