TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/9 W262 2166041-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.08.2021
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Entscheidungsdatum

09.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W262 2166041-1/32E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia JERABEK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 22.06.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung mündlicher Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 20.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab er im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem, ledig und kinderlos sei. Er sei am XXXX geboren. Seine Eltern, fünf Schwestern und ein Bruder leben im Iran. Im Iran sei er zwei Jahre zuhause unterrichtet worden und habe als Hilfsarbeiter gearbeitet.

Nach seinem Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er legal im Iran gewesen sei, er aber als Afghane keine Möglichkeit zur Weiterbildung gehabt habe. Als Hilfsarbeiter habe er nichts verdient. Er habe Angst vor der Polizei gehabt, die ihn nach Afghanistan habe abschieben können. Er habe weder im Iran noch in Afghanistan eine Zukunft. In Afghanistan müsse er im Krieg kämpfen.

2. Am 16.02.2017 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden als „belangte Behörde“ oder BFA bezeichnet) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari. Er gab an, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören. Die Familie stamme aus der afghanischen Provinz Kunduz; er sei jedoch im Alter von ca. 8 Jahren mit seiner Familie in den Iran gegangen. In Afghanistan würde keiner seiner Verwandten mehr leben. Im Iran habe er 7 Onkel. Der Beschwerdeführer habe im Iran als Verkäufer in einem Supermarkt gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe Afghanistan verlassen, weil dort Krieg herrsche. Er habe in Afghanistan niemanden und sehe dort auch keine Zukunft.

Im Rahmen der Einvernahme durch das BFA legte der Beschwerdeführer eine Unterstützungserklärung vor.

3. Mit dem nunmehr angefochtenem Bescheid vom 22.06.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

4. Gegen oa. Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und wiederholte darin sein bisheriges Vorbringen. In der Beschwerde wurden Ausführungen zur Situation von Rückkehrern gemacht und auf Verwestlichung des Beschwerdeführers hingewiesen. Mit seiner Beschwerde legte er eine Deutschkursbestätigung, eine Bestätigung des freiwilligen Engagements sowie einen Zeitungsartikel und Fotos vor.

5. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 31.07.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6. Am 16.07.2019 und am 27.07.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertreterin sowie ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen.

Der Beschwerdeführer legte im Rahmen der Verhandlungen ein ÖSD A2 Prüfungszertifikat (bestanden) vom 08.03.2018, ÖSD B1 Prüfungszertifikat (nicht bestanden) vom 19.06.2018 sowie diverse weitere Bestätigungen, darunter eine Bestätigung über den Abschluss der Übergangsstufe an BMHS vom 29.06.2018, eine Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeit beim Roten Kreuz, eine Bestätigung über die Mitarbeit bei „ XXXX hilft“, eine Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs vom 26.01.2017, eine Deutschkursbestätigung Niveau B1 samt Integrationsteil vom 20.07.2021 sowie einen Vor-Arbeitsvertrag als Küchenhilfe vom 22.06.2021 vor.

Der Beschwerdeführer wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlungen wurden vom erkennenden Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren eingebracht.

7. Die belangte Behörde erstatte nach der mündlichen Beschwerdeverhandlung eine Stellungnahme vom 27.07.2021.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.1. Zu Person, Fluchtgründen, Rückkehrmöglichkeit und (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und führt den im Spruch dieses Erkenntnisses enthaltenen Namen und Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer spricht Dari, Farsi, Paschtu und Deutsch.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Er ist in Kunduz in Afghanistan geboren und zog in seinem achten Lebensjahr gemeinsam mit seiner Familie in den Iran. Der Beschwerdeführer hat im Iran keine offizielle Schule besucht, jedoch zwei Jahre lang zuhause Lesen und Schreiben gelernt. Danach arbeitete er als Verkäufer in einem Supermarkt.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, gesund und arbeitsfähig.

Die Eltern und vier Schwestern des Beschwerdeführers leben weiterhin im Iran; der Beschwerdeführer steht in Kontakt zu seiner Mutter.

Ein Bruder und eine Schwester des Beschwerdeführers sowie Onkel und Tanten ms leben in Deutschland; der Beschwerdeführer steht in Kontakt zu seinen Geschwistern in Deutschland.

Weitere Onkel und Tanten des Beschwerdeführers leben im Iran bzw. in Deutschland.

1.1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz im Zuge der Erstbefragung mit Schwierigkeiten mit den Behörden im Iran und Krieg in Afghanistan.

Zu den vorgebrachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht im Einzelnen Folgendes festgestellt:

Weder war der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan keinen gegen seine Person gerichteten Bedrohungen oder Übergriffen ausgesetzt. Im Falle einer Rückkehr drohen ihm als Person in Afghanistan weder Probleme mit den Taliban noch droht ihm sonst eine Verfolgung.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet) durch Private aufgrund seiner Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Volksgruppe (Paschtunen), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Rückkehrer aus Europa) oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Auch wäre der Beschwerdeführer, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, aufgrund der Tatsache, dass er sich mehrere Jahre in Europa (und so als „verwestlicht“ gelten würde) aufgehalten hat, keiner psychischen und/oder physischen Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass jedem aus Europa nach Afghanistan zurückkehrenden Afghanen derartige Gewalt oder Eingriffe drohen würden. Allein aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer nicht betet und nicht fastet, kann nicht auf eine asylrechtlich relevante Verfolgung in Afghanistan geschlossen werden.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.1.3. Eine Rückkehr in die Heimatprovinz Kunduz scheidet aus, weil ihm dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohen würde, zumal die Erreichbarkeit der Provinz (etwa von Kabul aus) auf sicherem Weg nicht gewährleistet werden kann.

Dem Beschwerdeführer ist es auch nicht zumutbar, sich in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif oder an einem anderen Ort Afghanistans niederzulassen.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Er ist zwar in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen, hat aber angesichts der Tatsache, dass er ab seinem 8. Lebensjahr im Iran gelebt hat, keine örtlichen Kenntnisse in Afghanistan und auch sonst keine aufrechten Bindungen mehr zu seinem Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer hat weder im Iran noch in Afghanistan Vermögenswerte, über welche er im Falle der Rückkehr verfügen könnte: daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Familie ursprünglich ein Grundstück in Kunduz besessen hat, zumal bereits über 15 Jahre vergangen sind, seit die Familie Afghanistan verlassen hat und der Beschwerdeführer keine Informationen über das Grundstück verfügt. Der Beschwerdeführer wäre daher unter äußerst schwierigen Bedingungen völlig auf sich gestellt. Angesichts dieser Umstände kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die (im Iran und in Deutschland aufhältigen) Verwandten den Beschwerdeführer derart unterstützen könnten, dass er nicht in eine unzumutbare Lage geraten würde.

Der Beschwerdeführer spricht zwar Dari/Farsi sowie Paschtu und weist Lese- und Schreibkompetenzen, jedoch keine darüberhinausgehende Ausbildung bzw. Berufserfahrung auf. Sohin handelt es sich beim Beschwerdeführer um eine besonders vulnerable Person. Es bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung und damit einer Verletzung der nach Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er im Iran in einem Supermarkt gearbeitet hat, zumal diese berufliche Erfahrung als Minderjähriger außerhalb Afghanistans erworben wurde (siehe dazu auch die Ausführungen der rechtlichen Beurteilung). Auch die in Österreich erworbene Basisbildung (Pflichtschulabschluss) ändert nichts an den mangelnden Berufserfahrungen in Afghanistan.

Die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie stellt zwar grundsätzlich kein Rückkehrhindernis dar. Vor dem Hintergrund der andauernden COVID-19-Pandemie ist jedoch festzuhalten, dass – obwohl der Beschwerdeführer gesund ist und im Hinblick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht hinreichend wahrscheinlich eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen in einem Krankenhaus erleiden würde– die ohnehin angespannte Lage für besonders vulnerable Personen wie den Beschwerdeführer zusätzlich erschwert wird.

In Anbetracht der festgestellten individuellen Situation des Beschwerdeführers war seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Lichte einer ganzheitlichen Bewertung der zu gewärtigenden Rückkehrsituation festzustellen, dass der Beschwerdeführer bei einer Ansiedelung in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif bzw. an einem anderen Ort Afghanistans einem realen Risiko ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten.

1.1.4. Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten in Österreich.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Asylantragstellung am 20.09.2015 als knapp 18-jähriger in Österreich. Er wird im Rahmen der Grundversorgung versorgt und ist bisher in Österreich keiner bezahlten Erwerbstätigkeit nachgegangen.

Der Beschwerdeführer nahm an Deutschkursen teil, hat die Prüfung ÖSD Niveau A2 bestanden und besucht derzeit einen Deutschkurs Niveau B1 samt Integrationsteil.

Der Beschwerdeführer hat an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen. Am 29.06.2018 schloss er die Übergangsstufe an BMHS ab.

Der Beschwerdeführer lebt in einer privaten Wohnung mit einem afghanischen Asylsuchenden.

Er pflegt freundschaftliche Kontakte zu verschiedensten Nationalitäten, lernt in seiner Freizeit Deutsch, arbeitete beim Roten Kreuz und hilft älteren Menschen im Altersheim.

Der Beschwerdeführer legte einen Vor-Arbeitsvertrag als Küchenhilfe vom 22.06.2021 vor.

Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

1.2.1. Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 11.06.2021 idF KI vom 19.07.2021, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO – EASO Country Guidance Afghanistan von Dezember 2020, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von August 2020 – enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga, dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Distrikträten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021) und mindestens zwei Frauen sollen aus jeder Provinz gewählt werden (insgesamt 68) (USDOS 30.3.2021).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlichen kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021) .

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

Heimatprovinz Kunduz

Die Provinz Kunduz liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan, im Osten an die Provinz Takhar, im Süden an die Provinz Baghlan und im Westen an die Provinz Balkh (UNOCHA Kunduz 4.2014). Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt) (OP Kunduz 1.2.1017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz und Qala-e-Zal (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kunduz 2019), sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa (NSIA 1.6.2020). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Kunduz im Zeitraum 2020-21 auf 1,136.677? Personen,

Strategisch wurde Kunduz als "Tor im Norden" zu den bodenschatzreichen Provinzen und nach Zentralasien bezeichnet. Es ist ein Knotenpunkt für Transport (REU 14.9.2020) und Drogenschmuggel (REU 14.9.2020; vgl. UNSC 27.5.2020). Ein Abschnitt des asiatischen Highway AH7 führt von Kabul aus durch die Provinzen Parwan und Baghlan und verbindet die Hauptstadt mit der Provinz Kunduz und dem Grenzübergang nach Tadschikistan beim Hafen von Sher Khan (auch Sher Khan Bandar) (MoPW 16.10.2015; vgl. LCA 24.4.2019, RFE/RL 26.8.2007). Der National Highway 93 (NH93) verläuft von Kunduz ostwärts durch den Distrikt Khanabad nach Takhar und Badakhshan (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA Kunduz 4.2014, AAN 12.10.2016). In Richtung Khulm in der Provinz Balkh im Westen befindet sich ein National Highway derzeit in Bau. Es wird erwartet, dass die Wegstrecke und -zeit zwischen Kunduz und Khulm durch seine Fertigstellung erheblich verkürzt wird (GAFG 23.8.2020, GIZ 7.2019).

Laut Bewohnern von Kunduz stellt die Unsicherheit auf den Landrouten in der Provinz eine große Herausforderung dar (FRP 30.9.2020; vgl. PAJ 22.6.2020). Die Strecke von Kunduz in Richtung Süden nach Baghlan wurde im Juni 2020 als "gut gepflastert und ruhig" beschrieben, wiewohl sie teilweise durch Taliban-Territorium führt (TEL 10.6.2020). Aufständische errichten dort (TEL 10.6.2020, PAJ 22.6.2020) wie auch auf der Strecke Takhar-Kunduz Kontrollpunkte (PAJ 22.6.2020, ST 8.6.2020, AAN 21.3.2020). Der NH93 zwischen Takhar und Kunduz war zudem im Jahr 2020 wegen Kämpfen vorübergehend gesperrt (XI 6.10.2020, MENAFN 15.8.2020, ST 8.6.2020).

Mit Stand Mai 2021 gibt es Linienflugverbindungen zwischen Kabul und Kunduz (Kam Air Kunduz o.D., F 24 o.D.).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteuren

Kunduz war die letzte Taliban-Hochburg vor deren Sturz 2001 (RFE/RL o.D.). Sowohl 2015 als auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz-Stadt durch die Taliban (UNAMA 24.2.2019) und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein (BAMF 2.9.2019): Keine andere Provinzhauptstadt ist von allen Seiten so nachhaltig unter Druck geraten. Die Taliban infiltrieren weiterhin ihre Außenbezirke (AAN 12.10.2020). Laut einer Quelle vom Oktober 2019 versuchen die Taliban, Kunduz-Stadt jährlich anzugreifen, um zu zeigen, dass sie dazu fähig sind (STDOK 21.7.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Distrikte Aqtash, Calbad, Dasht-e-Archi, Gultipa, Khan Abad und Qala-e-Zal mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während die übrigen Distrikte umkämpft sind (LWJ o.D.), wobei eine andere Quelle schätzte, dass im Oktober 2019 ganz Kunduz abseits seiner Verwaltungszentren unter der Kontrolle der Taliban stand (STDOK 21.7.2020).

Al Qaida ist in der Provinz verdeckt aktiv. Darüber hinaus operiert das unter dem Kommando und der finanziellen Kontrolle der Taliban stehende Islamic Movement of Uzbekistan (IMU, manchmal auch Jundullah genannt) und auch das Eastern Turkestan Islamic Movement (ETIM) in Kunduz (UNSC 27.5.2020). Nach afghanischen Militäroperationen in Kunduz in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 zerstreuten sich ausländische terroristische Kämpfer aus China, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan und anderswo in kleine Gruppen und flüchteten in andere Provinzen (UN-Sicherheitsrat 20.1.2020). 2019 wurde berichtet, dass Zellen des Islamischen Staates in Kunduz aufgetaucht seien (NYT 14.6.2019; vgl. JF 6.4.2018) [zu einer Präsenz des ISKP in Kunduz konnten jedoch keine aktuellen Informationen gefunden werden, Anm.].

Auf Regierungsseite befindet sich Kunduz im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) "Pamir" Corps (USDOD 1.7.2020, TST 17.6.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Ende November zog die Bundeswehr aus ihrem Stützpunkt in Kunduz ab. Die Soldaten wurden nach Mazar-e Sharif verlegt (BAMF 30.11.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 444 zivile Opfer (194 Tote und 250 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021a).

Ende August und im Mai 2020 starteten die Taliban Offensiven gegen die Stadt Kunduz, wobei sie im August mehrere Kontrollpunkte und zwei Stützpunkte an den Hauptverkehrsstraßen in die Stadt einnahmen und im Mai Außenposten im Sicherheitsgürtel um die Stadt aus mehreren Richtungen angriffen. Unterstützt von der afghanischen Luftwaffe konnten beide Offensiven schließlich abgewehrt werden (REU 14.9.2020; vgl. NYT 19.5.2020, FR24 19.5.2020, WP 19.5.2020). Auch fand ein Angriff auf Sicherheitspersonal auf dem Gelände des Gouverneursgebäudes in Kunduz-Stadt statt, bei dem möglicherweise ein an einer kleinen Drohne befestigter Sprengsatz verwendet wurde (NYT 1.11.2020b; vgl. TRT 24.11.2020).

Taliban-Angriffe auf Distriktzentren (XI 8.9.2020; NYTM 30.4.2020) und Sicherheitsposten in verschiedenen Distrikten werden gemeldet (GW 3.11.2020; NYTM 29.10.2020; XI 28.9.2020; PT 20.9.2020; NYTM 28.8.2020; VOA 20.7.2020; TST 17.6.2020; NYTM 30.4.2020; NYTM 27.2.2020; GW 16.1.2020) und die Regierungstruppen führen in Kunduz Operationen und Vergeltungsschläge aus der Luft durch (XI 6.10.2020; PT 20.9.2020; MENAFN 21.8.2020; KP 17.12.2019).

Es wurde über Vorfälle mit IEDs berichtet, wie z.B. Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 29.10.2020; NYTM 1.10.2020; AJ 2.6.2020; NYTM 27.2.2.2020; PAJ 14.2.2.2020) und eines an einem Fahrzeug befestigten IEDs (vehicle-borne IED, VBIED) in Kunduz-Stadt (FR24 19.5.2020). Weiters wird auch über Entführungen und Tötungen in der Provinz berichtet (NYTM 29.10.2020; NYTM 27.2.2020).

Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf

Kabul-Stadt - Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als "eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand Mai 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020; vgl. LWJ o.D.). Nach Schätzungen des Long War Journal sind die Distrikte Chahar Asyab, Dehsabz, Farza, Guldara, Kalakan, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi mit Stand Mai 2021 umkämpft (LWJ o.D.). Es finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel im März 2020 (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020) und auch im Mai 2021 bekannte sich niemand zu einem Anschlag mit einer Autobombe vor einer Mädchenschule im mehrheitlich von Hazara bewohntem Gebiet Dasht-e Barchi (AI 10.5.2021; vgl. AJ 9.5.2021, RFE/RL 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt, oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021a; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).

Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weitverbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).

Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit der Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. GN 15.7.2020) und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.7.2020).

Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 11.1.2020, AAN 11.2.2020, AAN 21.2.2020, TN 4.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr [Anm.: 2020] wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 11.1.2020; vgl. TN 24.7.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung "Security Charter" an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 1.7.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.9.2020; vgl. GW 14.7.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 3.2.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018; vgl. TN 27.9.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.9.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.7.2020).

Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.5.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören (LI 22.1.2020; vgl. UNGASC 4.2.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.1.2020, WP 9.2.2020, EASO 9.2020). UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45% im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL-KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (UNAMA 2.2021a).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (UNAMA 2.2021a).

Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020; USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020; KP 6.5.2020; RFE/RL 11.5.2020; TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020; KP 12.2.2020; BBC 11.5.2020; TN 11.5.2020;

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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