Entscheidungsdatum
27.09.2021Norm
ASVG §18aSpruch
W209 2236519-1/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Reinhard SEITZ als Einzelrichter in Erledigung der Beschwerde der XXXX , XXXX , vertreten durch Mag. Brunner, Mag. Stummvoll Rechtsanwälte OG, Volksgartenstraße 1, 8020 Graz, gegen den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt, Hauptstelle Wien, vom 09.09.2020, GZ: HVBA- XXXX , betreffend Selbstversicherung in der Pensionsversicherung gemäß § 18a Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes beschlossen:
A)
Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Mit beschwerdegegenständlichem Bescheid vom 09.09.2020 lehnte die belangte Behörde (im Folgenden: PVA) den Antrag der Beschwerdeführerin vom 22.03.2020 auf freiwillige Selbstversicherung in der Pensionsversicherung gemäß § 18a ASVG für Zeiten der Pflege ihres behinderten Sohnes, XXXX , geb. XXXX , ab. Begründend wurde ausgeführt, dass kein Bezug einer erhöhten Familienbeihilfe iSd § 8 Abs. 4 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) vorliege. Darüber hinaus habe eine fachärztliche Begutachtung ergeben, dass die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin durch die Pflege ihres behinderten Kindes nicht überwiegend beansprucht worden sei.
2. Dagegen richtet sich die vorliegende, binnen offener Rechtsmittelfrist erhobene Beschwerde, in der zunächst ausgeführt wurde, dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Behörde davon ausgehe, dass die Beschwerdeführerin keine erhöhte Familienbeihilfe bezogen habe. In diesem Zusammenhang werde zwar zugestanden, dass der Originalbescheid, mit welchem die erhöhte Familienhilfe gewährt worden sei, nicht mehr vorhanden sei und deshalb auch nicht vorgelegt werden könne. Es seien jedoch weitere Nachweise vorgelegt worden, insbesondere ein Bescheid über die Rückforderung zu Unrecht bezogener Bezüge, der sich zwar auf einen Zeitraum beziehe, welcher nicht antragsrelevant sei, aus dem jedoch eindeutig hervorgehe, dass Familienbeihilfe, einschließlich des Erhöhungsbetrages wegen erheblicher Behinderung, bezogen worden sei. Weiters werde eine Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe des Finanzamtes vom 08.10.2003 vorgelegt, in welcher ebenfalls ein Erhöhungsvermerk hinsichtlich des behinderten Sohnes der Beschwerdeführerin ausgewiesen sei.
Schließlich sei der Bescheid aber auch deswegen mangelhaft, weil sich die belangte Behörde hinsichtlich der gemäß § 18a ASVG erforderlichen ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege des behinderten Kindes lediglich auf ein fachärztliches Gutachten gestützt habe, wobei das Gutachten weder Bescheidinhalt noch der Beschwerdeführerin jemals zur Verfügung gestellt worden sei. Die Beantwortung der Frage, ob die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin durch die ständige persönliche Hilfe und besondere Pflege des Kindes überwiegend beansprucht wurde, sei in erster Linie eine medizinische Frage, die eben nicht ohne Zuhilfenahme eines Gutachtens einschlägiger Sachverständiger gelöst werden dürfe, in dem insbesondere zu klären sei, in welchen Belangen das Kind der ständigen persönlichen Hilfe oder besonderer Pflege bedarf und ob bei Unterbleiben der Betreuung durch den pflegenden Elternteil das Kind in Verhältnis zu einem ähnlich behinderten Kind, dem diese Zuwendung zuteilwurde, in seiner Entwicklung benachteiligt und gefährdet wäre. Eine derartige Auseinandersetzung sei nicht erkennbar.
Zum "fachärztlichen Begutachtungsergebnis" sei festzuhalten, dass die begutachtende Ärztin eine "Allgemeinmedizinerin" und somit jedenfalls keine Fachärztin sei. Die Beschwerdeführerin habe daher die Beiziehung eines Facharztes für Neurologie beantragt, sodass die körperlichen Einschränkungen richtig beurteilt werden können, wobei dies von Seiten der Ärztin abgelehnt worden sei. Dabei komme die Beschwerdeführerin nicht umhin anzumerken, dass die Feststellung im Bescheid "kognitive Defizite sind nicht erhebbar" völlig dem Sachverhalt entbehre, zumal derartige Defizite nie behauptet worden seien und es für den vorliegenden Antrag irrelevant sei, ob zum heutigen Zeitpunkt kognitive Defizite erhoben werden können, da diese nur für den Antragszeitraum relevant seien und daher die Frage auch nur dahingehend zu beantworten wäre, ob zum damaligen Zeitpunkt kognitive Einschränkungen bestanden haben. Dies sei jedoch ohnehin nicht behauptet worden.
Das Erfordernis ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege des Kindes werde vom Verwaltungsgerichtshof (VwGH) so verstanden, dass das Kind aufgrund seiner Behinderung zwar nicht körperlich hinfällig sein müsse, aber aus anderen Gründen rund um die Uhr einen intensiven persönlich betreuten Bedarf habe, ohne die es gänzlich außer Stande wäre, seinen Tagesablauf zu bewältigen (VwGH 99/08/0053). Die Beschwerdeführerin habe diesbezüglich angegeben, dass es aufgrund der körperlichen Einschränkungen, nämlich der Spasmen, konkret der Hemiparese links, sowie des spastischen Spitzfußes mit Achillessehnenverkürzung, zu einem verzögerten Erlernen der Koordination des aktiven und passiven Bewegungsapparates links gekommen sei, was dazu geführt habe, dass das behinderte minderjährige Kind phasenweise sogar im Rollstuhl gesessen sei.
Konkret seien folgende therapeutische Maßnahmen notwendig gewesen:
? Das Tragen einer eigens angefertigten Tages- bzw. Nachtschiene zur Korrektur des Spitzfußes und der daraus entstandenen Achillessehnenverkürzung.
? Begleitend laufend physikalische Therapie an der Kinderchirurgie LKH Graz.
? Zusätzlich einmal jährlich eine Achillessehnendehnung in Narkose mit anschließender Gipsversorgung, wobei für diese Zeit die Mobilität eben nur im Rollstuhl möglich gewesen sei.
Durch die fehlende Koordination der Bewegungsabläufe habe sich das Kind eine komplizierte Oberschenkelfraktur mit Plattenversorgung und Verordnung eines Rollstuhles für Monate zugezogen. Zusätzlich habe eine Spastizität der oberen Extremitäten links und des linken Schultergürtels bestanden, die durch ständige physikalische Therapie gelindert werden habe können. Eine Stress-Spastizität, ein Mangel an Feinmotorik und eine deutliche Verkürzung der oberen Extremität bestehe heute noch. Seit der Geburt habe auch eine Spastizität der Adduktoren im linken Auge und ein Verlust des physiologischen Gesichtsfeldes bestanden. Aus diesem Grunde habe in der Augenklinik Graz eine operative Korrektur durchgeführt werden müssen. Aus diesen Gründen sei jedenfalls die ständige persönliche Hilfe und besondere Pflege gegeben, da der Begriff "ständig" so verstanden werde, dass ein ständiger Pflegebedarf vorliege, wenn dieser täglich oder zumindest mehrmals wöchentlich regelmäßig gegeben sei.
Wie die Beschwerdeführerin angegeben habe, sei aufgrund des Krankheitsverlaufs und der Therapien sowie der manuellen Hilfe durch die Beschwerdeführerin eine ständige Hilfe und besondere Pflege notwendig gewesen und hätte sich ein drittes Kind mit gleicher Krankheit/Behinderung anders entwickelt, wäre diesem nicht die Betreuung wie dem Sohn der Beschwerdeführerin zugekommen. Dazu sei auch die Entscheidung des VwGH 2003/08/0261 zu berücksichtigen, wonach ein behindertes Kind, dass eine ständige Betreuung rund um die Uhr benötigt habe und nur unter der Woche von Montag bis Freitagnachmittag in einem Heim untergebracht worden sei und am Wochenende, in den Ferien und im Krankheitsfall bei seiner Mutter zu Hause gepflegt worden sei, wobei auch während dieser Zeit eine ständige persönliche Hilfe und besondere Pflege notwendig gewesen sei, rechtlich beurteilt worden sei, dass die Arbeitskraft der Mutter durch das Betreuungserfordernis zur Gänze in Anspruch genommen worden sei und eine Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für die Zeiten der Pflege des behinderten Kindes möglich gewesen sei.
Wieso im vorliegenden Fall, wenn de facto täglich intensive Betreuungsleistungen, insbesondere durch Mobilisationstherapien und Hilfe bei der täglichen Lebensführung des Kindes, notwendig gewesen seien, keine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft vorliegen soll, sei nicht nachvollziehbar und finde sich diesbezüglich im Bescheid auch keine Begründung.
Es sei nämlich die Frage der Zumutbarkeit der Aufnahme einer Beschäftigung nicht nur nach der zeitlichen Dimension der Inanspruchnahme zu prüfen, sondern sei an der Schwere der Behinderung typisierend anzuknüpfen und das Ausmaß der psychischen und physischen Belastung der Pflegeperson als Reflexwirkung der Schwere der Behinderung zu verstehen. Vor diesem Hintergrund dürfe nicht übersehen werden, dass aufgrund der Spastizitäten des Kindes dieses in der Schule ständig gemobbt worden sei. Obwohl vor allem die Volksschule (die Privatschule der Schulschwestern in XXXX ) und der Großteil der Pflichtschule (BG XXXX ) mit der Beschwerdeführerin konformgegangen sei, das Kind zu unterstützen, sei immer wieder von Seiten einiger Lehrer angedacht worden, das Kind in einer Sonderschule unterrichten zu lassen. Nur durch die Hartnäckigkeit und besondere Pflege und ständige Hilfe der Beschwerdeführerin sei es gelungen in der Schule zu verbleiben. Dadurch habe das behinderte Kind ein relativ normales Leben führen können, wobei gerade auch die psychische Belastung der Beschwerdeführerin jedenfalls zu berücksichtigen sei. Dazu habe die Beschwerdeführerin angeführt, dass die Spastizitäten des Kindes durch den Stress in der Schule vermehrt ausgelöst worden seien und es deshalb zu Einschränkungen hinsichtlich der Informationsaufnahme in der Schule gekommen sei. Die Beschwerdeführerin habe die gesamte Schulzeit hindurch jeden Tag den gesamten Schulstoff des Vortages mit dem Kind durchgearbeitet und so dafür gesorgt, dass dieses einen geregelten Schulabschluss erzielen habe können. Zum Kind sei anzumerken, dass es zwischenzeitig Professor an einer Fachhochschule sei und dies ohne die Leistungen der Beschwerdeführerin jedenfalls nicht möglich gewesen wäre, sondern es ohne die Betreuungsleistungen der Mutter ein Pflegefall wäre.
3. Am 02.11.2020 einlangend legte die PVA die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zur Entscheidung vor. In einer beigefügten Stellungnahme wies sie darauf hin, dass laut einer Mitteilung des Finanzamtes XXXX vom 10.07.2020 nicht bekannt sei, ab wann der Anspruch auf erhöhte Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 4 FLAG bestanden habe. Erst ab 04/94 habe der Anspruch auf erhöhte Familienbeihilfe bestätigt werden können. Inhaltlich decke sich diese Bestätigung mit der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe vom 08.10.2003. Das Kind sei nicht von der Schulpflicht gemäß § 15 Schulpflichtgesetz befreit gewesen und habe die Schulausbildung in Regelschulen absolviert. Im maßgeblichen Zeitraum von 01.01.1988 bis 31.12.1997 habe der Sohn der Beschwerdeführerin die Volksschule bzw. das Gymnasium besucht. Danach sei ein Soziologiestudium mit positivem Abschluss abgelegt worden. Das Kind leide an einem Zustand nach frühgeburtlichem Atemnotsyndrom mit armbetonter spastischer Halbseitenlähmung links. Es seien keine intensiven Betreuungsmaßnahmen im Sinne einer ständigen persönlichen Hilfe bzw. ein besonderer Pflegebedarf erforderlich gewesen, sodass die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin nicht überwiegend beansprucht worden sei. Eine aufwendige Lernförderung durch die Beschwerdeführerin sei aufgrund der vorliegenden Befunde und der ärztlichen Begutachtung nicht nachvollziehbar und seien kognitive Defizite nicht erhebbar. Auch habe das Kind im maßgeblichen Zeitraum kein Pflegegeld bzw. eine gleichartige Leistung bezogen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Entscheidung wird folgender Sachverhalt zu Grunde gelegt:
Die Beschwerdeführerin bezog im beschwerdegegenständlichen Zeitraum für ihr behindertes Kind, XXXX , geb. XXXX , erhöhte Familienbeihilfe iSd § 8 Abs. 4 FLAG.
Mit ärztlichem Gutachten vom 24.08.2020 wurde festgestellt, dass das – nicht von der Schulpflicht befreite und auch nicht bettlägrige – Kind im beschwerdegegenständlichen Zeitraum keiner ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege bedurft habe. Ermittlungen und darauf basierende Feststellungen zu der entscheidungswesentlichen Frage, ob die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin trotz Verneinung eines ständigen Betreuungs- und Pflegebedarfs überwiegend in Anspruch genommen wurde, traf die Behörde nicht, obwohl dies, wie der rechtlichen Würdigung weiter unten zu entnehmen ist, erforderlich gewesen wäre.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellung, dass im beschwerdegegenständlichen Zeitraum erhöhte Familienbeihilfe iSd § 8 Abs. 4 FLAG bezogen wurde, gründet auf den von der Beschwerdeführerin vorgelegten und von der belangten Behörde eingeholten Unterlagen, die den Bezug erhöhter Familienbeihilfe ab April 1994 belegen. Dies lässt darauf schließen, dass für das Kind, dessen Behinderung unstrittig seit der Geburt besteht, auch schon vor diesem Zeitpunkt erhöhte Familienbeihilfe geleistet wurde. Schließlich wurde seitens des zuständigen Finanzamtes eingeräumt, über keine Unterlagen mehr zu verfügen, die dieser Annahme entgegenstehen.
Das Fehlen von Ermittlungen und Feststellungen zu Frage, ob die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin trotz Verneinung eines ständigen Betreuungs- und Pflegebedarfs nicht auf andere Weise überwiegend in Anspruch genommen wurde, steht aufgrund der Aktenlage fest. Weder die Behörde noch das von ihr eingeholte Gutachten haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche konkrete Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Betreuung des behinderten Kindes verrichtet wurden und welcher zeitliche Aufwand damit jeweils verbunden war, was an Hand der Regelungen des Bundespflegegeldgesetzes und der dazu ergangenen Einstufungsverordnung – EinstV, BGBl. II Nr. 37/1999, zu beurteilen gewesen wäre. So hält das Gutachten ausdrücklich fest, dass die Beurteilung der erforderlichen Pflegetätigkeiten ohne Bezugnahme zu den im Bundespflegegesetz und der Einstufungsverordnung angeführten Mindest-, Richt-, und Fixwerten erfolgte. Näheres dazu ist der folgenden rechtlichen Beurteilung zu entnehmen.
3. Rechtliche Beurteilung:
§ 414 Abs. 1 ASVG normiert die Zuständigkeit des BVwG zur Entscheidung über Beschwerden gegen Bescheide eines Versicherungsträgers.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. § 414 Abs. 2 ASVG sieht in den in § 410 Abs. 1 Z 1, 2 und 6 bis 9 ASVG aufgezählten Angelegenheiten die Entscheidung durch einen Senat unter Laienrichterbeteiligung vor, wenn dies von einer Partei beantragt wird. Im gegenständlichen Fall handelt es sich um eine derartige Angelegenheit (Z 1). Mangels eines derartigen Antrages liegt jedoch Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
Vorliegend gelangen folgende maßgebende Bestimmungen zur Anwendung:
§ 18a ASVG idF BGBl. I Nr. 2/2015:
„Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten
der Pflege eines behinderten Kindes
§ 18a. (1) Personen, die ein behindertes Kind, für das erhöhte Familienbeihilfe im Sinne des § 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376, gewährt wird, unter überwiegender Beanspruchung ihrer Arbeitskraft in häuslicher Umgebung pflegen, können sich, solange sie während dieses Zeitraumes ihren Wohnsitz im Inland haben, längstens jedoch bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres des Kindes, in der Pensionsversicherung selbstversichern. Der gemeinsame Haushalt besteht weiter, wenn sich das behinderte Kind nur zeitweilig wegen Heilbehandlung außerhalb der Hausgemeinschaft aufhält. Eine Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes kann jeweils nur für eine Person bestehen.
(2) Die Selbstversicherung ist für eine Zeit ausgeschlossen, während der
1. (Anm.: aufgehoben durch BGBl. I Nr. 2/2015)
2. eine Ausnahme von der Vollversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Z 3 besteht oder auf Grund eines der dort genannten Dienstverhältnisse ein Ruhegenuß bezogen wird oder
3. eine Ersatzzeit gemäß § 227 Abs. 1 Z 3 bis 6 oder § 227a vorliegt.
(3) Eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft im Sinne des Abs. 1 wird jedenfalls dann angenommen, wenn und so lange das behinderte Kind
1. das Alter für den Beginn der allgemeinen Schulpflicht (§ 2 des Schulpflichtgesetzes 1985, BGBl. Nr. 76/1985) noch nicht erreicht hat und ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf,
2. während der Dauer der allgemeinen Schulpflicht wegen Schulunfähigkeit (§ 15 des Schulpflichtgesetzes 1985) entweder von der allgemeinen Schulpflicht befreit ist oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf,
3. nach Vollendung der allgemeinen Schulpflicht und vor Vollendung des 40. Lebensjahres dauernd bettlägrig ist oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf.
(4) Die Selbstversicherung ist in dem Zweig der Pensionsversicherung nach diesem Bundesgesetz zulässig, in dem der (die) Versicherungsberechtigte zuletzt Versicherungszeiten erworben hat. Werden keine Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung nach diesem Bundesgesetz nachgewiesen oder richtet sich deren Zuordnung nach der ersten nachfolgenden Versicherungszeit, so ist die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung der Angestellten zulässig.
(5) Die Selbstversicherung beginnt mit dem Zeitpunkt, den der (die) Versicherte wählt, frühestens mit dem Monatsersten, ab dem die erhöhte Familienbeihilfe (Abs. 1) gewährt wird, spätestens jedoch mit dem Monatsersten, der auf die Antragstellung folgt.
(6) Die Selbstversicherung endet mit dem Ende des Kalendermonates,
1. in dem die erhöhte Familienbeihilfe oder eine sonstige Voraussetzung (Abs. 1) weggefallen ist,
2. in dem der (die) Versicherte seinen (ihren) Austritt erklärt hat.
Ab dem erstmaligen Beginn der Selbstversicherung (Abs. 5) gelten die Voraussetzungen bis zum Ablauf des nächstfolgenden Kalenderjahres als erfüllt; in weiterer Folge hat der Versicherungsträger jeweils jährlich einmal festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Selbstversicherung nach Abs. 1 gegeben sind. Der Versicherte ist verpflichtet, den Wegfall der erhöhten Familienbeihilfe dem Träger der Pensionsversicherung binnen zwei Wochen anzuzeigen.
(7) Das Ende der Selbstversicherung steht hinsichtlich der Berechtigung zur Weiterversicherung in der Pensionsversicherung dem Ausscheiden aus der Pflichtversicherung im Sinne des § 17 Abs. 1 Z 1 lit. a gleich.“
§ 669 Abs. 3 ASVG idF BGBl. I Nr. 125/2017:
„Schlussbestimmungen zu Art. 5 des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 3/2013 (78. Novelle):
§ 669. (1) bis (2) …
(3) Die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung nach § 18a kann auf Antrag von Personen, die irgendwann in der Zeit seit dem 1. Jänner 1988 die zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Voraussetzungen für diese Selbstversicherung erfüllt haben, nachträglich beansprucht werden, und zwar für alle oder einzelne Monate, längstens jedoch für 120 Monate, in denen die genannten Voraussetzungen vorlagen. § 18 Abs. 2 ist sinngemäß anzuwenden.
(4) bis (8) …“
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer eheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat.
Diese Voraussetzungen treffen im gegenständlichen Fall zu.
Die Beschwerde richtet sich (u.a.) gegen die mit der nicht erforderlichen ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege begründete Abweisung des Antrages der Beschwerdeführerin auf freiwillige Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege ihres behinderten Kindes.
Gemäß § 669 Abs. 3 ASVG idF BGBl. I Nr. 125/2017 kann die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung iSd § 18a Abs. 1 ASVG auf Antrag von Personen, die irgendwann in der Zeit zwischen dem 1. Jänner 1988 und dem 31. Dezember 2012 die zum Zeitpunkt der Antragstellung (hier: 22.03.2020) geltenden Voraussetzungen für diese Selbstversicherung erfüllt hätten, nachträglich beansprucht werden.
§ 669 Abs. 3 ASVG in der genannten Fassung stellt darauf ab, dass die betreffenden Personen die zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung geltenden Voraussetzungen für diese Selbstversicherung erfüllen müssen, im vorliegenden Fall sohin die im § 18a ASVG in der Fassung BGBl. I Nr. 2/2015 festgelegten Voraussetzungen. Auf die im zu erwerbenden Zeitraum der betreffenden Selbstversicherung früher in Geltung gestandenen Voraussetzungen für eine Selbstversicherung kommt es gemäß § 669 Abs. 3 ASVG nicht an (vgl. VwGH 05.06.2019 Ra 2019/08/0051).
Gemäß § 18a Abs. 1 ASVG (in der gegenständlich anzuwendenden Fassung des BGBl. I Nr. 2/2015) muss die Arbeitskraft überwiegend beansprucht werden, um den Anspruch anerkennen zu können. Dies ist gemäß § 18a Abs. 3 Z 2 ASVG jedenfalls dann der Fall, solange das behinderte Kind während der Dauer der allgemeinen Schulpflicht wegen Schulunfähigkeit (§ 15 des Schulpflichtgesetzes 1985) entweder von der allgemeinen Schulpflicht befreit ist oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf. Nach Vollendung der allgemeinen Schulpflicht und vor Vollendung des 40. Lebensjahres setzt dies voraus, dass das behinderte Kind entweder dauernd bettlägrig ist oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf.
Der am XXXX geborene Sohn der Beschwerdeführerin war im verfahrensgegenständlichen Zeitraum von 01.01.1988 bis 31.12.1997 unbestrittenermaßen nicht von der allgemeinen Schulpflicht befreit und augenscheinlich auch nicht bettlägrig. Aus diesem Grund hatte die belangte Behörde daher im Wege eines Sachverständigengutachtens zu klären, ob (und in welchem Umfang) unter Berücksichtigung des Alters und der spezifischen Behinderung des Kindes dessen ständige Betreuung (auch außerhalb der Zeit des Schulbesuches) erforderlich war und ob bei Unterbleiben dieser Betreuung die Entwicklung des Kindes im Verhältnis zu einem ähnlich behinderten Kind, dem diese Zuwendung zuteilwurde, benachteiligt oder gefährdet gewesen wäre (vgl. VwGH 16.11.2005, 2003/08/0261).
Mit dem Wort „jedenfalls“ im Einleitungssatz des § 18a Abs. 3 ASVG idF BGBl. I Nr. 2/2015 hat der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck gebracht, dass neben den in Z 1 bis 3 aufgezählten, speziell für behinderte Kinder zugeschnittenen Kriterien eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft auch auf andere Weise gegeben sein kann (so auch Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 18a ASVG Rz 7/1, wonach die in Abs. 3 leg.cit. getroffenen Regelungen nicht mehr taxativ zu verstehen sind (so noch VwGH 99/08/0353, VwSlg 15.235 A), sondern gleichsam beispielhafte „Mindeststandards“ formulieren (arg „jedenfalls dann“), die – aber als solche wie bisher – als unwiderlegbare gesetzliche Vermutungen anzusehen sind (vgl. die ErläutRV zur Stammfassung dieser Bestimmung 324 BlgNR 17. GP 24 f.).
Insofern kann daher auch eine zeitliche Inanspruchnahme durch die Pflege in einem Ausmaß anspruchsbegründend wirken, das zwar nicht einer ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege iSd § 18a Abs. 3 ASVG entspricht, aber dennoch eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft der pflegenden Person bewirkt.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft bereits in einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 21 Stunden wöchentlich bzw. ab 90 Stunden monatlich (entspricht mehr als der halben Normalarbeitszeit) anzunehmen (vgl. VwGH 19.01.2017, Ro 2014/08/0084).
Wie die zeitliche Inanspruchnahme der Arbeitskraft in diesem Zusammenhang zu prüfen ist, hat der Verwaltungsgerichtshofes im zitierten Erkenntnis ebenfalls aufgezeigt. Demnach ist an Hand der Regelungen des Bundespflegegeldgesetzes und der dazu ergangenen Einstufungsverordnung – EinstV, BGBl. II Nr. 37/1999, zu beurteilen, um welche Verrichtungen es sich dabei handelt und welcher zeitliche Aufwand damit jeweils verbunden ist. Da auf den auch für die Ermittlung des Pflegegelds maßgeblichen Pflegebedarf abzustellen ist, wird als Grundlage für die Beurteilung in der Regel ein bereits im Verfahren über die Zuerkennung oder Neubemessung des Pflegegelds eingeholtes – soweit noch aktuelles bzw. sonst entsprechendes – Sachverständigengutachten (§ 8 EinstV) dienen können. Erforderlichenfalls wird ein weiteres Gutachten einzuholen sein.
Die PVA unterließ jedoch jegliche Ermittlungstätigkeit, um an Hand der Einstufungsverordnung (bis zum vollendeten 15. Lebensjahr nach der maßgeblichen Kinder-Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz – Kinder-EinstV, BGBl. II Nr. 236/2016) festzustellen, ob der Pflege- und Betreuungsaufwand der Beschwerdeführerin die maßgebliche Grenze von 90 Stunden monatlich überschritten hat. Auch dem von ihr eingeholten Sachverständigengutachten ist nichts zu dieser Frage zu entnehmen. Im Gegenteil wurde dort sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beurteilung der erforderlichen Pflegetätigkeiten ohne Bezugnahme zu den im Bundespflegegesetz und der Einstufungsverordnung angeführten Mindest-, Richt-, und Fixwerten erfolgte.
Dadurch hat die belangte Behörde keine für eine Entscheidung in der Sache nach § 28 Abs. 2 VwGVG ausreichenden brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung im Sinne des § 24 VwGVG bloß zu vervollständigen gewesen wären. Dies berechtigt das Verwaltungsgericht, von einer Entscheidung in der Sache abzusehen und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen (vgl. VwGH 20.10.2015, Ra 2015/09/0088). Auch Anhaltspunkte, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer eheblichen Kostenersparnis verbunden wäre, liegen nicht vor. Dementsprechend war der angefochtene Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (s. dazu die in den rechtlichen Erwägungen zitierte VwGH-Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Anspruchsvoraussetzungen Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Pensionsversicherung SelbstversicherungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W209.2236519.1.00Im RIS seit
15.10.2021Zuletzt aktualisiert am
15.10.2021