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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Revision der I I in W, vertreten durch Mag. Georg Konrad, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Parkring 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Dezember 2015, I403 2000119-2/9E, betreffend Versagung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 bekämpft, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 28. Juli 2011 mit dem Flugzeug, von Bangkok kommend, nach Österreich ein. Sie hatte sich bereits davor in Europa aufgehalten und war zweimal, 2008 und 2009, von Belgien nach Nigeria abgeschoben worden.
2 Noch am Tag ihrer Einreise stellte die Revisionswerberin einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag vollinhaltlich ab und wies die Revisionswerberin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 27. Februar 2014 in den Punkten Asyl und subsidiärer Schutz keine Folge. Im Übrigen verwies es gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.
3 In seinem Erkenntnis hielt das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung u.a. (Fehler im Original) Folgendes fest:
„2.6. Das Vorbringen der [Revisionswerberin], dass sie von einem Mann bedroht werde, der ihre Reise nach Belgien finanziert hatte, erscheint dagegen durchaus glaubhaft. Die Bedrohung durch eine einzelne Person, der die [Revisionswerberin] Geld schuldet, bildet allerdings keinen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention relevanten Fluchtgrund. Dass sie von diesem Mann in Richtung Prostitution gedrängt wurde, erscheint ebenfalls durchaus glaubwürdig.
2.7. Hinsichtlich ihrer aktuellen Situation hat die [Revisionswerberin] allerdings immer darauf beharrt, dass sie ihre Reise nach Österreich selbst finanziert hätte, hier freiwillig der Prostitution nachgehe und das damit erzielte Einkommen mit niemandem teilen müsse. Es ist allerdings offenkundig, dass sie bei der Organisation der Reise nach Wien wieder unterstützt wurde, diesmal durch einen Mann namens ‚Mohammed‘. Die Reise führte über Länder, die als ‚Route‘ im Frauenhandel durchaus bekannt sind: Malaysia und Thailand. Dass die [Revisionswerberin] ein Hotel in Wien gebucht hatte, obwohl sie erklärt hatte, in Asien keiner Arbeit nachgegangen zu sein, sondern nur von anderen Schwarzafrikanern etwas zu essen erhalten zu haben, scheint die These zu stützen, dass sehr wohl auch die Reise, welche die [Revisionswerberin] nach Wien geführt hatte, Teil eines ‚Frauenhandelsnetzwerks‘ ist.
Im ‚Ergebnisbericht des gemeinsamen Projekts von IOM, UNHCR und BAMF: Identifizierung und Schutz von Opfern des Menschenhandels im Asylsystem‘ von Mai 2012 wurden Indikatoren zur Erkennung von Menschenhandelsbetroffenen identifiziert (...): Nigeria wird als eines der wichtigsten Länder für den Menschenhandel genannt. Oftmals werde auf die Einbindung in übermächtige Tätersystem (Zauber, Magie, ...) verwiesen. Auch die [Revisionswerberin] hatte in einer Einvernahme Charles (der die Reise nach Belgien organisiert hatte) als ‚Wunderheiler‘ bezeichnet. Hinsichtlich des Mannes namens Mohammed, der laut Angaben der [Revisionswerberin] in der mündlichen Verhandlung ihr den Diplomatenpass der Elfenbeinküste (mit dem sie nach Österreich gekommen war) ohne Gegenleistung gegeben hätte, ist anzumerken, dass sich im Bericht folgendes findet: ‚Ebenso geben auch Angaben über eine zunächst unentgeltliche Ausreise Anlass davon auszugehen, dass es sich bei der Person um ein Menschenhandelsopfer handeln könnte. Da die Reisekosten im Normalfall sehr hoch sind, ist es unwahrscheinlich, dass eine fremde Person ohne Gegenleistung diese Kosten übernimmt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in diesen Fällen die Frauen nach Europa gelockt wurden, um sie dann zu zwingen, die Reisekosten im Gegenzug abzuarbeiten.‘ Es mag auch kein Zufall sein, dass es sich um eine Verbindung zur Elfenbeinküste handelt, da diese laut einem Bericht von Human Rights Watch vom 21.08.2010 ... Zielland für den nigerianischen Frauenhandel ist.
Die [Revisionswerberin] kommt aus Benin City, laut dem Bericht von IOM, UNHCR und BAMF ‚einer der Hauptknotenpunkte für Menschenhandel‘. Typisch ist auch, dass die [Revisionswerberin] keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen war und dass sie nach dem Tod ihrer Mutter in das Menschenhandelsnetzwerk geriet, das sie zunächst nach Belgien brachte: ‚Auffallend ist, dass viele Frauen der Gruppe möglicher Menschenhandelsbetroffener angaben, vor der Flucht ihre Familie verloren oder mit dieser gebrochen zu haben.‘ (...) Die Untersuchung von IOM, UNHCR und BAMF ergab auch, dass typischerweise nicht sofort Asyl gestellt wird und dass oftmals vorher andere europäische Staaten schon besucht worden waren.
2.8. Die [Revisionswerberin] hatte hinsichtlich ihrer früheren Aufenthalte erklärt, dass diese unter Zwang erfolgt sei, dass sie damals zur Prostitution gezwungen worden sei. ;All die Jahre die ich nach Europa gekommen bin und wieder abgeschoben worden bin, alle diese Geschichten ich war immer unter der ‚Hand‘ von diesem Charles. Dieser hat mich auch zu Dingen getrieben.‘ Sie widerspricht allerdings einem Zwang bezüglich ihrer aktuellen Situation. Alle genannten Indizien sprechen aber dafür, so dass sich aus der Gesamtschau ergibt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass der aktuelle Aufenthalt in Österreich oder zumindest die Reise nach Wien unter Zwang und im Rahmen von Menschenhandel erfolgt ist. Dass die [Revisionswerberin] diesbezüglich ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkommt, mag der Angst um ihr Leben und ihre Sicherheit geschuldet sein. (...). Ebenso kann davon ausgegangen werden, dass der psychische Druck und etwaige Androhungen von Gewalt, wie sie in kriminellen Milieus und auch im Bereich des Frauenhandels üblich sind, entsprechende Aussageverweigerungen mit sich bringen.
2.9. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich die [Revisionswerberin] auch aktuell unter dem Zwang eines Frauenhandelsrings befindet. Nachdem die [Revisionswerberin] dies allerdings bestreitet, kann eine abschließende Feststellung nicht erfolgen und insbesondere auch keine damit verbundene Gefährdung durch mögliche Verfolgungshandlungen im Herkunftsstaat geprüft werden.“
4 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung betonte das BVwG in seinem Erkenntnis vom 27. Februar 2014 weiter, es sei durchaus glaubwürdig, dass die erste Reise der Revisionswerberin nach Belgien von jemandem organisiert worden sei, dem sie noch Geld schulde, der sie in die Prostitution gedrängt und sie auch bedroht habe. Der Bedrohung durch Privatpersonen komme allerdings keine Asylrelevanz zu. Die Revisionswerberin habe außerdem keine Verfolgung „auf Grund einer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe von systematisch organisiertem Frauenhandel“ vorgebracht, weswegen auch dieser Asylgrund nicht weiter zu verfolgen gewesen sei. Anlässlich seiner Überlegungen zur Versagung von subsidiärem Schutz hielt das BVwG dann schließlich noch fest, dass die Situation für alleinstehende Frauen in Nigeria unbestritten sehr schwer sei; es bestehe aber die Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt zu verdienen bzw. sich mit Hilfe von NGOs den Start in Nigeria zu erleichtern. Die Situation der Revisionswerberin sei dadurch erschwert, dass sie über keine familiären Bindungen verfüge und dass sie schon länger nicht mehr durchgehend in Nigeria aufhältig gewesen sei; diese „Argumente“ erreichten jedoch nicht die Schwelle von Art. 3 EMRK.
5 Das gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zurückverwiesene Verfahren beendete das BFA mit Bescheid vom 20. Oktober 2015. Es sprach aus, dass der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG werde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde außerdem die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
6 Die Revisionswerberin erhob Beschwerde, die das BVwG mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 FPG sowie §§ 52 Abs. 9 und 46 FPG als unbegründet abwies. Außerdem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:
7 1. Der den Verwaltungsgerichtshof nicht bindende (§ 34 Abs. 1a VwGG) Ausspruch des BVwG, dass eine Revision gegen sein Erkenntnis gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei, ist nur insoweit zutreffend, als es um die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 geht. Diesbezüglich zeigt auch die Revision nicht einmal ansatzweise eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, weshalb sie insoweit gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen war.
8 2. Im Übrigen erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt.
9 Das BVwG erließ gegen die Revisionswerberin eine Rückkehrentscheidung. Im Rahmen der dabei vorzunehmenden Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG räumte es zwar ein, dass die Revisionswerberin in Österreich erste Schritte in Richtung Integration gesetzt habe und dass ihre Bindungen an ihren Herkunftsstaat, zumal sie bereits in der Vergangenheit mehrmals im Gebiet der Europäischen Union aufhältig gewesen sei, im Laufe der Jahre entsprechend gesunken seien. Sie habe aber den Großteil ihres Lebens in Nigeria verbracht, weshalb davon ausgegangen werden könne, dass eine Reintegration in die nigerianische Gesellschaft möglich sei. Vor diesem Hintergrund überwögen die - näher dargestellten - öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der Revisionswerberin an einem Verbleib im Bundesgebiet.
10 Die dieser Beurteilung zu Grunde liegenden Überlegungen sind nicht vollständig und bedürfen daher einer Ergänzung. Unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens ist nämlich auch von Bedeutung, welche Verhältnisse die Revisionswerberin konkret bei ihrer Rückkehr nach Nigeria dort vorfinden wird (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ra 2015/21/0119, Punkt 2.3. der Entscheidungsgründe). Diesbezüglich ist auf die oben wiedergegebenen Annahmen des BVwG in seiner Entscheidung vom 27. Februar 2014 zu verweisen, die auf eine in mehrfacher Hinsicht problematische Situation hindeuten. Zwar ist infolge dieser Entscheidung nunmehr davon auszugehen, dass die Revisionswerberin keine asylrelevante Verfolgung zu gewärtigen habe und dass ihre Abschiebung nach Nigeria im Grunde des § 50 FPG nicht unzulässig sei (vgl. auch dazu das eben genannte Erkenntnis Ra 2015/21/0119). Der Umstand, dass sie - wie in der Entscheidung vom 27. Februar 2014 zum Ausdruck gebracht - von einem Mann bedroht werde, der sie in Richtung Prostitution gedrängt und ihre Reise nach Belgien finanziert habe und dem sie Geld schulde, hätte aber nicht ausgeblendet werden dürfen. Angesichts dessen, dass das BVwG weiter davon ausgegangen war, der aktuelle Aufenthalt der Revisionswerberin in Österreich oder zumindest die Reise nach Wien seien „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ unter Zwang und im Rahmen von Menschenhandel erfolgt, wäre - wie von der Revision letztlich zutreffend geltend gemacht - auch dieser Aspekt einzubeziehen gewesen (vgl. auch das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels, BGBl. III Nr. 10/2008; siehe weiters den Bericht „The Causes and Consequences of Re - trafficking: Evidence from the IOM Human Trafficking Database“). Dass die Revisionswerberin - allerdings nur bezüglich dieses zweiten Punktes - im Asylverfahren selbst abschlägige Auskünfte gegeben hatte, stand einer neuerlichen Beschäftigung mit dieser Frage im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht entgegen (vgl. in diesem Sinn, wenn auch unter dem Blickwinkel von Art. 2 und 3 EMRK, das Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 23. März 2016, F. G. gegen Schweden, Nr. 43611/11).
11 Es ist nicht ausgeschlossen, dass das BVwG bei Vornahme einer vollständigen Interessenabwägung im Sinn des eben Gesagten in diesem besonders gelagerten Fall in Bezug auf die Rückkehrentscheidung und damit auch in Bezug auf die Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zu einem anderen Ergebnis hätte kommen müssen. Das angefochtene Erkenntnis war daher in diesem Umfang samt den auf die Erlassung der Rückkehrentscheidung aufbauenden Absprüchen nach § 52 Abs. 9 und § 55 FPG wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
12 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und Z 5 VwGG abgesehen werden. Ein Zuspruch von Aufwandersatz kam mangels Geltendmachung von Kosten nicht in Betracht.
Wien, am 30. Juni 2016
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016210038.L00Im RIS seit
15.10.2021Zuletzt aktualisiert am
15.10.2021