Entscheidungsdatum
30.07.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W241 2210278-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hafner als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2018, Zahl 15-1098467008/151962067, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.07.2021
A)
I. den Beschluss gefasst:
Hinsichtlich der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird das Verfahren wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1, 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.
II. zu Recht erkannt:
1. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
2. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär in Österreich ein und stellte am 09.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am 10.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und die Taliban seine Heimatstadt erobert hätten.
1.3. Am 05.12.2017 langte ein Strafantrag des Landesgerichts XXXX beim BFA ein, welcher auf die Tatbestände der §§ 28a Abs. 1 5. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 1. Fall, 27 Abs. 2 SMG lautete.
Am 02.01.2018 wurde dem BF mittels Verfahrensanordnung gemäß § 13 AsylG der Verlust seines Aufenthaltsrechts mit 27.11.2017 mitgeteilt.
Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 23.01.2018 wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 1., 2. und 5. Fall, Abs. 2 SMG zu einer Geldstrafe in der Hohe von 180 (einhundertachtzig) Tagessätzen zu je vier Euro, im Uneinbringlichkeitsfall 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 24.07.2018 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, machte der BF Angaben zu seinen Lebensumständen in Afghanistan und seinen Integrationsbemühungen in Österreich. Ferner brachte er vor, mehrere Jahre lang in Afghanistan an Drogensucht gelitten zu haben und obdachlos gewesen zu sein, auch aktuell sei er noch drogensüchtig.
Vor dem BFA legte der BF eine Bestätigung des Flüchtlingsheimes, diverse ärztliche Unterlagen und eine Bestätigung über die Grundversorgung vor.
1.5. Am 01.08.2018 langte ein Schreiben, ein Verlaufsbericht und eine Stellungnahme einer Mitarbeiterin der Tiroler Sozialen Dienste beim Bundesamt ein.
1.6. Mit Urteilen des Landesgerichts XXXX vom 26.06.2018 und 25.09.2018 wurde der BF wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 StGB und des Vergehens der versuchten Begünstigung nach den §§ 15, 299 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten bedingt und einer Geldstrafe von 180 Tagesätzen zu je vier Euro bzw. zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwei Monaten bedingt verurteilt.
1.7. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 25.10.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V). Gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG habe der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 27.11.2017 verloren (Spruchpunkt VI.) und bestehe gemäß § 55 Abs. 1a AsylG keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VII.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 und 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VIII.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen den ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IX.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Seine Fluchtgeschichte habe der BF aufgrund der unplausiblen und unstimmigen Schilderung nicht glaubhaft machen können.
In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass die Begründung des Antrages keine Deckung in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) finde.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan nicht drohe.
1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben vom 26.11.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG ein und beantragte die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
In der Beschwerdebegründung wurde die Beweiswürdigung der belangten Behörde kritisiert und auf die schlechte Situation in Afghanistan hingewiesen.
1.9. Die Beschwerde samt Verwaltungsakt langte am 28.11.2018 beim BVwG ein und wurde am 03.03.2021 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.
1.10. Das BVwG führte am 28.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein seines gewillkürten Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Im Folgenden legte der BF ärztliche Schreiben und Integrationsbelege vor und machte Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen, seiner Drogensucht und der in Österreich erfolgten Behandlung.
Abschließend wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides durch den gewillkürten Vertreter nach Rücksprache mit dem BF zurückgezogen.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA sowie die Beschwerde
? Einsicht in verschiedene Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF
? Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 28.07.2021
? Einsicht in die vom BF vorgelegten Schriftstücke und ärztlichen Befunde.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht ein wenig Deutsch.
Der BF ist ledig und stammt aus dem Dorf XXXX XXXX Provinz Parwan. Seine Eltern sind bereits verstorben, in Afghanistan leben noch ein Bruder, eine Schwester und eine Tante, deren Aufenthaltsorte dem BF aktuell nicht bekannt sind.
In Österreich hält sich ein weiterer Bruder mit seiner Familie sowie ein Neffe des BF auf.
Der BF hat acht Jahre eine Schule besucht und danach verschiedene Arbeiten auf Baustellen verrichtet. Nach Beginn seiner Drogensucht und einem gescheiterten Entzug wurde der BF obdachlos und verdiente seinen Unterhalt durch das Sammeln von Plastikflaschen und Metalldosen.
3.1.2. Zum Bruder und zur Schwester in Afghanistan besteht sporadisch Kontakt, den Bruder in Österreich trifft der BF regelmäßig.
3.1.3. Der BF ist im erwerbsfähigen Alter, hat in Afghanistan eine Schulbildung genossen und war dort berufstätig.
Der BF leidet seit ca. 15 Jahren an einer Opiatabhängigkeit (ICD-10: F11.2) und hat dabei von Marihuana über Kokain und Heroin verschiedenste Drogenstoffe konsumiert. Ein in Afghanistan versuchter Entzug scheiterte, der BF lebte zuletzt auf der Straße und verdiente durch das Sammeln von Plastikflaschen und Dosen seinen Lebensunterhalt.
In Österreich begab sich der BF in ärztliche Behandlung und befindet er sich aktuell in einem Substitutionsprogramm, wobei er täglich zwei Mal je eine Tablette des Substitutionsmittels Compensan einnehmen muss.
Der BF verfügt in Afghanistan zwar über familiäre Anknüpfungspunkte, allerdings ist eine Unterstützung durch diese Familienmitglieder als nicht gesichert anzusehen. Darüber hinaus ist eine Fortführung der Opioid-Substitutionstherapie laut den vorgelegten ärztlichen Unterlagen dringend indiziert und kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan dort ohne Unterbrechung eine entsprechende Fortführung der Therapie möglich sein wird. Ferner ist den Länderberichten zu Afghanistan und diversen Anfragebeantwortungen bezüglich der dort in Verwendung stehenden Substitutionsmitteln nicht zu entnehmen, dass das vom BF benötigte Medikament Compensan in Afghanistan verfügbar wäre.
3.1.4. Der BF verließ nach seinen Angaben 2015 Afghanistan und reiste nach Österreich, wo er am 09.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.1.5. Der BF hält sich seit Dezemberi 2015 in Österreich auf und spricht ein wenig Deutsch. Er befindet sich in der Grundversorgung.
Der BF wurde in Zusammenhang mit seiner Drogensucht am 23.01.2018 wegen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften zu einer Geldstrafe und bedingten Gefängnisstrafe verurteilt, ferner wurde er in Zusammenhang mit diesem Verfahren wegen einer falschen Beweisaussage und einer versuchten Begünstigung zu einer weiteren Geldstrafe und einer bedingten Zusatzfreiheitsstrafe verurteilt.
Bei den Verurteilungen des BF handelt es sich um Vergehen iSd § 12 Abs. 2 StGB.
Seit seinen Verurteilungen im Jahr 2018 und dem Beginn seines Drogenentzugs ist der BF nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten.
3.2. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Die Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF (Parwan) stellt sich – wie den Länderberichten zu entnehmen ist – im Entscheidungszeitpunkt als nicht stabil dar. Dem BF ist aber auch eine Neuansiedlung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, aufgrund seiner individuellen Umstände und Merkmale in Verbindung mit der aktuell wegen der COVID-19 Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation derzeit nicht zumutbar.
So verfügt der BF zwar über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan, allerdings ist es als nicht gesichert anzusehen, dass diese dem BF eine ausreichende finanzielle Unterstützung zukommen lassen können bzw. wollen. So beschrieb der BF sein Verhältnis zu seinem Bruder als schlecht, welcher ihn nach einem gescheiterten Entzug des Hauses verwiesen haben und somit für seine Obdachlosigkeit verantwortlich gewesen sein soll. Auch wurde die finanzielle Lage der Schwester vom BF als nicht gut beschrieben, zur Tante besteht keinerlei Kontakt.
Für das erkennende Gericht ist, ungeachtet der grundsätzlich in Afghanistan, insbesondere in Herat oder Mazar-e-Sharif vorhandenen allgemeinen Existenzmöglichkeiten für Rückkehrer, bei einer Rückkehr des BF in die Heimat mittels Abschiebung angesichts der bei ihm ärztlich diagnostizierten Opiatabhängigkeit, welche zu einer Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit führt, und der medizinisch indizierten Notwendigkeit einer Fortführung der Opioid-Substitutionstherapie davon auszugehen, dass der BF, der alleine für seinen Lebensunterhalt aufkommen müsste, in eine sehr unsichere wirtschaftliche Situation geraten würde, welche negativen Einfluss auf seinen Gesundheitszustand haben könnte.
Der BF müsste im Falle einer Rückkehr nicht nur grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, er müsste sich auch die für den Entzug notwendigen Medikamente, die er täglich einnehmen muss, verschaffen. Im Angesicht des schlechten afghanischen Gesundheitssystems und der Auswirkungen der aktuellen COVID-19 Pandemie erscheint es nicht gesichert, dass dem BF in Afghanistan eine entsprechende Drogentherapie zukommen wird, die benötigten Medikamente verfügbar sein werden bzw. der BF in der Lage sein wird, sich diese Medikamente auch finanziell leisten zu können. Es besteht daher die große Gefahr eines Rückfalls und einer erneuten Drogensucht samt Obdachlosigkeit, was zu einer existenzbedrohlichen Lage bzw. zu einer für Leib und Leben „prekären“ Situation führen würde.
Es ist dem BF deshalb aufgrund seiner persönlichen Umstände und der aktuellen schwierigen wirtschaftlichen Lage in Afghanistan nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten in seiner Heimatprovinz bzw. nach einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif bzw. Herat oder in ähnlich sicheren Gebieten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Auf Grundlage von aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 11.06.2021:
Administrative Einheiten (Distrikte und Provinzen von Afghanistan):
NSIA - National Statistics and Information Authority [Afghanistan] (1.6.2020): Estimated Population of Afghanistan 2020-21, https://www.nsia.gov.af:8080/wp-content/uploads/2020/06/??????-????-????-????-????-???.pdf
Angaben zur Anzahl der Distrikte, den Distriktgrenzen und der administrativen Zugehörigkeit der Distrikte variieren mitunter. 2020 veröffentlichte die afghanische National Statistics and Information Authority (NSIA) eine Publikation mit der Anzahl der Distrikte (insg. 388). Da es sich hierbei mit Stand Juni 2020 um die aktuellste und umfassendste Publikation zur Anzahl und Einordnung der Distrikte in ganz Afghanistan handelt, stützt sich die Darstellung der Sicherheitslage in den Provinzen auf diese Einteilung. Sogenannte "temporäre" Distrikte werden eigens ausgewiesen, ebenso wie kürzlich erfolgte Änderungen der Distrikt- oder Provinzgrenzen (NSIA 1.6.2020).
Die Transkription afghanischer Eigennamen erfolgt im Allgemeinen nicht nach universell angewandten Regeln. Im Folgenden wurde im Sinne einer Einheitlichkeit weitgehend die Schreibweise der NSIA übernommen. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass Variationen möglich und üblich sind.
Sicherheitsrelevante Vorfälle:
ACLED – Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data http://www.acleddata.com/data/, Zugriff 26.2.2021
ACLED erfasst sicherheitsrelevante Vorfälle und Todesopfer mittels Medienbeobachtung, d.h. es werden online verfügbare Nachrichtenberichte über sicherheitsrelevante Vorfälle gesammelt und die relevanten Ereignisse anhand eines vorgegebenen Codierschemas in den Vorfallsdatensatz aufgenommen (ACLED 3.2020). Nicht alle Gebiete in Afghanistan können jedoch gleichermaßen von Journalisten besucht werden (HE 5.5.2019). ACLED berücksichtigt bei der Datensammlung unter anderem auch Berichte von Voice of Jihad, der Website der Taliban (ACLED 3.2020). Angaben der Taliban zu den Opferzahlen sind oftmals übertrieben (FAZ 19.10.2017). ACLED verwendet bei der Zählung der Todesopfer die kleinste in den Quellen zu findende Anzahl an Todesopfern. Sind die Angaben zu den Todesopfern in den Quellen ungenau (z.B. „zahlreiche Tote“) oder unbekannt, so codiert ACLED automatisch zehn Todesopfer - oder drei Todesopfer, sofern bekannt ist, dass es sich um weniger als zehn Todesopfer handelt (ACLED 3.2020). Die Angaben zu den Todesopfern sind somit Schätzungen von ACLED.
ACLED erfasst die folgenden gewaltsamen Vorfälle: Kampfhandlungen ohne Gebietsveränderungen, Kampfhandlungen, bei denen ein nichtstaatlicher Akteur ein Gebiet einnimmt, Kampfhandlungen, in denen eine Regierung Gebiete zurückgewinnt, Gewalt gegen Zivilisten, so genannte „remote violence“ - Gewalt ohne die physische Anwesenheit des Gewaltausübenden (z.B. Bombenanschläge, IEDs, Raketenangriffe etc.), wie auch Demonstrationen und Aufstände. Die folgenden gewaltlosen Ereignisse werden erfasst: gewaltfreie Gebietsübernahmen, Aufbau von Hauptquartieren oder Stützpunkten sowie strategische Entwicklungen (ACLED 3.2020).
ACLED empfiehlt mit Stand Februar 2021, die Daten zur Gewalt bzw. zu den Todesopfern in Afghanistan in den Jahren 2019 und 2020 nicht miteinander zu vergleichen, da ein Wandel in der Berichtspraxis der Taliban (bzw. von Voice of Jihad) und der afghanischen Regierung (bzw. dem afghanischen Verteidigungsministerium) zum Anschein einer Gewaltreduktion beigetragen haben könnte. ACLED überprüft derzeit Veränderungen in der Berichterstattung und ergänzt die Daten durch weitere Quellen (ACLED o.D.).
Anmerkung: Detaillierte Informationen zu diesem Thema finden Sie im Kapitel "Sicherheitslage".
Weitergehende Informationen zur Vorgehensweise von ACLED können der aktuellen Methodologie von ACLED entnommen werden: https://acleddata.com/acleddatanew/wp-content/uploads/dlm_uploads/2019/01/ACLED_Methodology-and-Coding-Decisions-Around-the-Conflict-in-Afghanistan_Mar2020_update.pdf.
Im Folgenden wird bei der Beschreibung der Sicherheitslage in den Provinzen auf Daten von ACLED zurückgegriffen, da sie eine Betrachtung von sicherheitsrelevanten Vorfällen auf Distriktebene zulassen. Die Staatendokumentation stellt Tabellen über Vorfälle zur Verfügung, die ACLED als sicherheitsrelevant einschätzt und bei denen ACLED mindestens ein Todesopfer zählte.
GIM - Globalincidentmap: Globalincidentmap displaying Terrorist Acts, Suspicious Activity, and General Terrorism News, www.globalincidentmap.com, Zugriff 26.2.2021
Globalincidentmap nutzt internetbasierte globale Nachrichtenmedien, um weltweit sicherheitsrelevante Vorfälle im Zusammenhang mit Terrorismus zu sammeln und georeferenzierte Darstellungen solcher Vorfälle unter Kategorien auf einer Online-Karte darzubieten. Jeder sicherheitsrelevante Vorfall wird immer mit einem Verweis auf die Quelle angezeigt. Die Klassifizierung von GIM nach Vorfalltyp wird von der Staatendokumentation beibehalten, mit Ausnahme der beiden Kategorien „Sonstige verdächtige Aktivitäten“ und „Allgemeine Terrorismus-Nachrichten“, welche die Staatendokumentation der breiteren Kategorie „Sonstige, undefiniert“ zuordnet, da sie sich keiner spezifischen Gruppierung zurechnen lassen. Es werden nur Vorfälle registriert und dargestellt, die Globalincidentmap Aufständischen zuschreibt bzw. mit deren Handlungen verbindet, einschließlich Bombenanschläge (erfolgreiche oder versuchte), gezielte Tötungen oder Mordversuche, Entführungen, Brandanschläge, Feuerüberfälle und Schießereien. Kriminelle Vorfälle, die nicht mit terroristischen Handlungen verbunden sind, werden nicht erfasst. Aktivitäten staatlicher Akteure werden unter der Kategorie „Verhaftungen, Tötungen“ eingeordnet.
Im Folgenden wird bei der Beschreibung der Sicherheitslage in den Provinzen auf Daten von Globalincidentmap zurückgegriffen, da der Datensatz eine Betrachtung von sicherheitsrelevanten Vorfällen auf Distriktebene zulässt. Die Staatendokumentation stellt Tabellen über Vorfälle zur Verfügung, die Globalincidentmap als sicherheitsrelevant einschätzt. Dabei wurden Doppeleinträge händisch herausgefiltert.
UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (2.2021a): Afghanistan Annual Report On Protection Of Civilians In Armed Conflict: 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/afghanistan_protection_of_civilians_report_2020.pdf, Zugriff 24.2.2021
Im Folgenden wird auf Informationen zur Anzahl an zivilen Opfern zurückgegriffen, die UNAMA in ihren Berichten zum Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt bereitstellt. UNAMA verifiziert Vorfälle durch Mehrfachprüfung und führt unter anderem vor-Ort-Recherchen durch. Zur Verifizierung von zivilen Opfern verwendet UNAMA mindestens drei verschiedene unabhängige Quellen. Unverifizierte Vorfälle werden nicht in die Berichte aufgenommen. UNAMA weißt darauf hin, dass eine lückenhafte Erfassung von zivilen Opfern aufgrund von Einschränkungen, welche mit dem Rechercheumfeld einhergehen, möglich ist (UNAMA 2.2021a).
Bevölkerungsdaten:
NSIA - National Statistics and Information Authority [Afghanistan] (1.6.2020): Estimated Population of Afghanistan 2020-21, https://www.nsia.gov.af:8080/wp-content/uploads/2020/06/??????-????-????-????-????-???.pdf
Im Folgenden wird auf Informationen zur Bevölkerungsanzahl in Afghanistan zurückgegriffen, welche die National Statistics and Information Authority bereitstellt. Aufgrund von mehr als drei Jahrzehnten Krieg und Konflikt im Land war es seit 1979 nicht möglich, eine Volkszählung durchzuführen. Die Bevölkerungszahlen von 2020-21 wurden daher auf der Grundlage der Daten aus den Haushaltslisten von 2003-05 geschätzt (NSIA 1.6.2020).
Covid-19
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (3.2021) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.
Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.
Weitere Produkte der Staatendokumentation zu Afghanistan
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Rasuly-Paleczek Gabriele - Österreich] (10.2020): Die aktuelle sozioökonomische Lage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038971/AFGH_THEM_Die+aktuelle+sozio%C3%B6konomische+Lage+in+Afghanistan+%28Rasuly-Paleczek%29_2020-09.pdf
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Heugl, Katharina- Österreich] (21.7.2020): Informationen zu sozioökonomischen und sicherheitsrelevanten Faktoren in der Provinz Balkh auf Basis von Interviews im Rahmen der FFM Mazar-e Sharif 2019, https://www.ecoi.net/en/document/2034796.html
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian- Österreich] (14.7.2020): Afghanistan: IOM-Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Latek, Dina- Österreich] (25.6.2020): Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2032976.html
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Durante, Xenia- Österreich] (13.6.2019): Analyse der Staatendokumentation: Afghanistan - Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum November 2018 bis Jänner 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (4.2018) : Fact Finding Mission Report Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1430912/5818_1524829439_03-onlineversion.pdf
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf
STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (3.7.2014): Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1216171/4236_1415347452_analy-afgh-frauen-in-afghanistan-2014-02-07-as.doc
Quellen:
ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (3.2020): ACLED Methodology and Coding Decisions around the Conflict in Afghanistan, https://acleddata.com/acleddatanew/wp-content/uploads/dlm_uploads/2019/01/ACLED_Methodology-and-Coding-Decisions-Around-the-Conflict-in-Afghanistan_Mar2020_update.pdf Zugriff 29.10.2020
ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data https://acleddata.com/data-export-tool/, Zugriff 26.2.2021
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.10.2017): Talibanangriff in Kandahar fordert zahlreiche Tote, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kandahar-taliban-angriff-auf-militaerbasis-fordert-zahlreiche-tote-15253597.html,
HE - Heise (5.5.2019): Afghanistan: Brutale CIA-Schattenmilizen, https://www.heise.de/tp/features/Afghanistan-Brutale-CIA-Schattenmilizen-4413419.html, Zugriff 22.8.2020
NSIA - National Statistics and Information Authority [Afghanistan] (1.6.2020): Estimated Population of Afghanistan 2020-21, https://www.nsia.gov.af:8080/wp-content/uploads/2020/06/??????-????-????-????-????-???.pdf,
UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (2.2021a): Afghanistan Annual Report On Protection Of Civilians In Armed Conflict: 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/afghanistan_protection_of_civilians_report_2020.pdf, Zugriff 24.2.2021
Primär- und Sekundärquellen, die in Berichten von nach europäischen Standards arbeitenden COI (Country of Origin Information)-Einheiten anderer EU-Staaten zitiert werden, werden nicht separat ausgewiesen.
COVID-19
Letzte Änderung: 10.06.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021, HRW 13.1.2021, UNOCHA 19.12.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, Martins/Parto 11.2020, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).
Quellen:
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