TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/3 W265 2222638-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.08.2021
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Entscheidungsdatum

03.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W265 2222638-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.07.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. VERFAHRENSGANG:

1. Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 26.06.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Er gab dabei an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Muslim und stamme aus der Provinz Daikundi. Er habe acht Jahre die Grundschule besucht und als Tischler gearbeitet. Seine Eltern und seine zwei Schwestern würden in Afghanistan leben. Ein Onkel wohne in Österreich und hätte einen Asylstatus (IFA Zahl XXXX ). Befragt dazu, warum er sein Land verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, er hätte aufgrund der Taliban und des IS Afghanistan verlassen. In seinem Wohngebiet herrsche Bürgerkrieg. Er habe Angst um sein Leben. Wenn er in sein Wohngebiet zurückkehren müsste, wisse er nicht, wie lange er noch leben würde.

3. Am 15.07.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Zulassungsverfahren niederschriftlich einvernommen. Ergänzend gab er an, dass er im Ort XXXX geboren und aufgewachsen sei. Sein Vater habe dort eine Landwirtschaft, wo er mitgeholfen habe. Im Alter von 15 Jahren sei er in den Iran gegangen und habe dort drei Jahre als Tischler gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, dass er von einer Person verfolgt worden sei, die zu einer Gruppe unter der Führung des Generals namens XXXX gehöre. Der General stamme aus Daikundi, aus dem Distrikt XXXX . Er sei überall in der Provinz aktiv. Sein Vater habe schon vor der Geburt des Beschwerdeführers Probleme mit dieser Gruppe gehabt. Die Person habe von ihm verlangt, dass er sich der Gruppe anschließen und mit dieser in den Krieg ziehen solle. Der Beschwerdeführer habe sich geweigert, da er noch in die Schule gegangen sei. Daraufhin hätten diese gemeint, dass sie ihn umbringen würden, wenn er sich weigern würde. Der Ehemann und Bruder seiner Tante mütterlicherseits seien beide von diesen getötet worden, da sie sich geweigert hätten. Alle, die sich weigern würden, würden von der Gruppe getötet werden. Der Beschwerdeführer habe auch persönlich mit dem General gesprochen und dieser sagte, dass er keine Wahl habe. Daraufhin habe er diesem gesagt, dass er sich anschließen würde, er vorher aber noch etwas zu erledigen habe. Am nächsten Tag sei er in den Iran geflüchtet, wo er illegal drei Jahre gelebt habe. Er sei in keine andere Stadt in Afghanistan geflüchtet, weil sie herausfinden würden, wo er sich befinde und außerdem hätte er von den Taliban oder IS getötet werden können. Außerdem kenne er niemanden in den anderen Städten. In Kabul gäbe es keine Sicherheit, es sei sehr gefährlich dort. Auch nach seiner Flucht sei jemand von der Gruppe zu seinem Vater gekommen und habe nach dem Beschwerdeführer gefragt. Derjenige hätte angedroht, dass sie den Beschwerdeführer töten würden.

4. Am 17.07.2019 wurde der Beschwerdeführer nochmals vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. In dieser wies das Bundesamt darauf hin, dass es den General XXXX tatsächlich gebe. Er sei ein Mitglied der Hazarapartei „ XXXX “ und für einige Entführungen verantwortlich. Seine Aktivitäten seien jedoch auf die Provinz Daikundi beschränkt. Es gäbe keine landesweiten kriminellen Aktivitäten dieser Person. Dazu legte das Bundesamt zwei Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation vom 21.10.2016 und vom 29.09.2014 vor. Dem hielt der Beschwerdeführer entgegen, dass dieser immer noch mit den Taliban arbeite und seine Anhänger überall in Afghanistan seien, auch in Kabul und Herat. Sowohl die Anhänger des Generals als auch die Taliban würden ihn finden und töten.

5. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 21.07.2019 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan eine Verfolgung drohe. Er sei in seinem Heimatstaat weder vorbestraft, noch inhaftiert gewesen. Er habe auch keine Probleme mit den Behörden gehabt. Es würden auch keine Fahndungsmaßnahmen gegen ihn bestehen und er sei auch weder politisch tätig, noch Mitglied einer Partei. Auch aus sonstigen Gründen könne keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen einer politischen Überzeugung festgestellt werden. Aufgrund der Sicherheitslage sei eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Daikundi nicht möglich. Mazar- e Sharif sei relativ stabil und sicher über den Flughafen zu erreichen. Er hätte Verwandte in seiner Heimatprovinz und Kontakt zu diesen. Seine Familie könne ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan unterstützen. Er verfüge über eine mehrjährige Berufserfahrung als Tischler und Feldarbeiter, daher könne nicht festgestellt werden, dass er in Afghanistan in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, dort einer realen Gefahr des Todes, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung oder der Gefahr der Folter ausgesetzt wäre oder sein Leben auf sonstige Weise gefährdet wäre. Der Beschwerdeführer befinde sich seit Juni 2019 in Österreich, ihm sei der unsichere Aufenthaltsstatus bewusst gewesen und sein Privat- und Familienleben sei auch in diesem Zeitraum entstanden. Ein Onkel lebe in Österreich, zu welchem er nur telefonischen Kontakt habe, weitere Verwandte habe er nicht in Österreich und auch keine engen Kontakte zu anderen Personen, die ihn an Österreich binden würden.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, mit Eingabe vom 19.08.2019 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. In dieser brachte er im Wesentlichen vor, dass sich die Behörde auf unvollständige und teilweise unrichtige Länderfeststellungen gestützt habe. Diese würden sich zwar mit den allgemeinen Aussagen über Afghanistan befassen, jedoch kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers. Die Behörde habe es unterlassen, sich mit den aktuellen Berichten betreffend die Versorgungslage in Afghanistan, speziell in Mazar-e Sharif auseinanderzusetzen. Der Beschwerdeführer verfüge außerdem nicht über die finanziellen Mittel, sich selbstständig eine neue Existenz aufzubauen. Weiters hätte das Bundesamt feststellen müssen, dass aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage jedenfalls eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK drohe. Des Weiteren sei die Beweiswürdigung mangelhaft gewesen. Er habe derzeit keinen Kontakt zu seiner Familie, da die Verbindung derzeit gestört sei und nur, weil die Berichtslage zu wenig detailreich über Zwangsrekrutierungen in Daikundi sei, beweise dies nicht, dass Zwangsrekrutierungen nicht vorkommen würden. Der General XXXX hätte ein sehr gutes Netzwerk und eine innerstaatliche Fluchtalternative sei daher nicht möglich. Dem Beschwerdeführer wäre jedoch zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen, da dieser keine nennenswerte Unterstützung in Afghanistan durch seine Familie bekäme und auch sonst kein soziales Netzwerk dort habe. Zumindest wäre ihm ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG zu gewähren gewesen.

Er beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

7. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 20.08.2019 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 21.08.2019 einlangten (vgl. OZ 1).

8. Mit Eingabe vom 11.11.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor (vgl. OZ 5).

9. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W178 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 neu zugewiesen, wo diese am 03.02.2021 einlangte (vgl. OZ 6).

10. Mit Schreiben vom 11.12.2020 legte die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH ihre Vollmacht mit 31.12.2020 zurück (vgl. OZ 7).

11. Mit Eingabe vom 11.03.2021 gab der Beschwerdeführer seine neue bevollmächtigte Vertretung, die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, bekannt (vgl. OZ 8).

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.06.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu seiner Integration in Österreich befragt und ein Zeuge einvernommen wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Der Behörde wurde das Verhandlungsprotokoll übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor. Der Beschwerdeführer gab durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme ab und führte dazu aus, dass der Beschwerdeführer in Anbetracht der Dauer seines Aufenthaltes bereits beachtliche Integrationsschritte in Österreich gesetzt habe. Er habe bereits den Kurs sowie die Prüfungen zum Pflichtschulabschluss absolviert. Für die Zukunft würde er gerne selbsterhaltungsfähig sein und habe bereits erste Schritte dazu gesetzt. In Österreich lebe seine Tante, zu welcher er ein berücksichtigungswürdiges Privat- und Familienleben aufgebaut habe. Eine Rückkehrentscheidung könne in diesem Fall nicht verhältnismäßig sein. Zum Fluchtvorbringen sei anzumerken, dass sich der Beschwerdeführer der Aufforderung des Generals XXXX widersetzt habe und deshalb seine Familie in der Zwischenzeit gezwungen gewesen sei, Afghanistan in Richtung Iran zu verlassen. Aufgrund des großen Einflusses des Generals sei dem Beschwerdeführer jedenfalls eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Daikundi nicht zumutbar, da ihm, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, Zwangsrekrutierung oder der Tod drohe. Der General habe durch den intensiven Kontakt zu den Taliban seither sehr wohl Einfluss in ganz Afghanistan, deshalb sei auch keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer relevant. Der Beschwerdeführer verfüge zudem über keine Verwandten in Afghanistan, zu denen er Kontakt hätte. Er würde bei einer Rückkehr jedenfalls in eine existenzbedrohende Situation geraten. (vgl. OZ 12)

Er legte weitere Integrationsunterlagen, Unterstützungserklärungen und Berichte zu Afghanistan vor.

13. Am 26.07.2021 legte das Bundesverwaltungsgericht die Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11.06.2021 und die „Kurzinformation der Staatendokumentation zur Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan“ vom 19.07.2021 vor (vgl. OZ 13) und räumte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme ein.

14. Mit Eingabe vom 28.07.2021 gab der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme ab. Dazu führte er im Wesentlichen aus, dass laut „UNHCR Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative“ vom November 2018 auch längerfristige Folgen der Gewalt berücksichtigt werden müssten. Es müsse gewährleistet sein, dass der Beschwerdeführer im jeweiligen Gebiet auf Dauer sicher leben könne. Sei diese auf Dauer nicht gesichert, bestehe dort keine relevante innerstaatliche Fluchtalternative. Aufgrund des Abzugs der internationalen Truppen in Afghanistan sei die Instabilität des bewaffneten Konflikts wesentlich erhöht. Das Land drohe, vollständig unter die Kontrolle der Taliban zu fallen. Der Beschwerdeführer müsste dann unter ihrer Herrschaft leben und hätte mit noch stärkerer Verfolgung als jetzt schon zu rechnen. Der General XXXX habe intensiven Kontakt zu den Taliban, der Beschwerdeführer würde an keinem Ort mehr Schutz finden. Laut „Kurzinformation der Staatendokumentation zur Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan“ vom 19.07.2021 seien weitere Distrikte in den Provinzen Herat und Balkh durch die Taliban erobert worden. Dies bedeute, dass die Taliban in den Distrikten erstarkt seien, die sich in räumlicher Nähe zu den Städten befinden würden, die als mögliche innerstaatliche Fluchtalternative in Frage kommen würden (Herat und Mazar-e Sharif). Aus Medienberichten ginge hervor, dass die Taliban bereits 85 % des Landes kontrollieren würden. Mittlerweile seien die Taliban, laut Artikel von Bloomberg „Taliban besiege key afghan city with US troops set to exit“ vom 23.06.2021, militärisch bis nach Mazar-e Sharif vorgestoßen. Zudem würden die territorialen Gewinne der Taliban vielmehr in Richtung einer gewaltsamen Machtübernahme deuten. Laut Länderinformationsblatt vom 11.06.2021 würden die Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den Regierungstruppen stark zunehmen. Außerdem sei die Versorgungssituation der neuen Flüchtlinge katastrophal und die Zahl der zivilen Opfer sei angestiegen. Das Land sei zunehmend bedroht, in einen offenen Bürgerkrieg zu schlittern. Auch nach der neuen Studie der länderkundigen Sachverständigen Friederike STAHLMANN seien exakte Vorhersagen zur Sicherheitslage in Afghanistan nicht möglich. Magdalena KIRCHNER von der „Friedrich Ebert Stiftung“ habe im Interview in der „Zeit im Bild“ am 18.07.2021 gesagt, dass die humanitäre Lage und die Sicherheitslage in Afghanistan aktuell dramatisch seien und es aktuell keine langfristig sicheren Orte gebe. Ebenso fordere Amnesty International und die Regierung in Afghanistan einen Abschiebestopp nach Afghanistan. Finnland und Schweden hätten bereits die Abschiebungen nach Afghanistan gestoppt. (vgl. OZ 14).

II. DAS BUNDESVERWALTUNGSGERICHT HAT ERWOGEN:

1. FESTSTELLUNGEN:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und den Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, zu seiner Ausreise aus Afghanistan und zu seinem gesundheitlichen Zustand

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er spricht auch Deutsch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Daikundi, wo er bis zu seiner Ausreise in den Iran lebte. Er besuchte dort acht Jahre lange die Schule und arbeitete in der Landwirtschaft seines Vaters. Mit ca. 15 Jahren reiste er in den Iran, lebte dort illegal für drei Jahre, bis zu seiner Reise nach Europa, und arbeitete in einer Tischlerei.

Sein Vater heißt XXXX und seine Mutter heißt XXXX . Das Alter der Eltern ist unbekannt. Er hat zwei Schwestern, XXXX (ca. 18 Jahre) und XXXX (ca. 11 Jahre).

Seine Eltern und Schwestern leben im Iran. Sein Vater arbeitet in einem Obstgarten. Er hat Kontakt zu seiner Familie. Er hat sieben Onkel väterlicherseits und acht Tanten mütterlicherseits in Afghanistan, in seinem Heimatdistrikt, zu welchen er aber keinen Kontakt hat.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

1.2.1. Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan nicht konkret und individuell die Gefahr einer Zwangsrekrutierung oder Verfolgung durch den General namens XXXX oder durch die Taliban. Der Beschwerdeführer hätte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan insbesondere in der Stadt Mazar-e Sharif keine physische und/oder psychische Gewalt seitens des Generals namens XXXX und/oder der Taliban zu gewärtigen, weil er sich geweigert hat, sich ihnen anzuschließen.

1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Hazara und zu der Religionsgemeinschaft der Schiiten individuell und konkret weder physische noch psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls die Möglichkeit, in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und zu leben.

1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und ist seit seiner Antragstellung am 26.06.2019 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich einen Deutschkurs und den Pflichtschulabschluss am 28.05.2021 absolviert. Er verfügt über Deutschkenntnisse zumindest auf dem Niveau A1, die entsprechende Prüfung bestand er am 29.09.2020.

Im Jahr 2019 wirkte er ehrenamtlich bei Aktivitäten des Vereins „ XXXX “ in XXXX mit. Er half beim Kulturfest im Küchenteam mit, nahm am Workshop „Seilteppich knüpfen“ im „ XXXX “ teil und arbeitete beim Weihnachtsmarkt im Küchenteam und beim Essensstand mit. Er half auch ehrenamtlich bei der Lebensmittelausgabe im Rahmen der „Team Österreich Tafel“ der Rotkreuz-Bezirksstelle XXXX mit.

Im Juni 2021 erhielt er die Bestätigung, dass er ab 07.09.2021 die dreijährige, berufsbegleitende Ausbildung als Fachsozialbetreuer-Altenarbeit beginnen kann.

Er wird von Bekannten und Betreuern als strebsam, geradlinig, freundlich, selbstständig, geschickt, willig, nett, vorbildlich, pflichtbewusst, ruhig, brav, hilfsbereit, zuvorkommend, intelligent, lernwillig und sozial beschrieben.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen Onkel namens XXXX , der mit seiner Ehefrau und seinem Sohn in XXXX lebt. Sein Onkel hat einen Asylstatus (IFA: XXXX ). Er hat nur gelegentlich Kontakt mit ihnen und es besteht keine finanzielle Abhängigkeit. Des Weiteren hat er Freunde und Bekannte in Österreich, mit welchen er regelmäßig Kontakt hat. Mit XXXX trifft er sich des Öfteren, er hat ein sehr gutes Verhältnis mit diesem. In seiner Freizeit macht er gerne Sport und spielt Fußball.

Nach der Ankunft in Europa hat er damals unter sehr viel Stress gelitten und dagegen Medikamente eingenommen. Ab dem Schulbesuch ging es ihm besser. Aktuell geht es ihm psychisch und physisch gut.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Bei ihm handelt es sich um einen jungen Mann im arbeitsfähigen Alter, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Daikundi in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer steht jedoch als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm auch unter Berücksichtigung der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können, zu leben. Die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, besteht nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Er ist im afghanischen Familienverband aufgewachsen, sohin mit den sozialen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut, spricht einer der Landessprachen (Dari) und verfügt über eine achtjährige Schulbildung und Arbeitserfahrung als Arbeiter in der Landwirtschaft und in einer Tischlerei, welche er bei einem Leben in Mazar-e Sharif nutzen wird können.

Festgestellt wird, dass auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einer relevanten physischen Vorerkrankung keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 4 samt Kurzinformation vom 19.07.2021 (LIB)

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 30.07.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 30.07.2021 (WHO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Landinfo Report Afghanistan vom 29.06.2017: „Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“

-        Landinfo Report Afghanistan vom 23.08.2017: Organisation und Struktur der Taliban

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan (a-9737-V2) vom 02.08.2016: „Lage der Hazara“

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan (a-9869) vom 21.10.2016: Provinz Daikundi: Informationen zu einer Gruppe namens XXXX

1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage (LIB)

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht.

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt.

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte. Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden.

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak.

Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt.

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen.

Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen.

Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan.

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage (LIB)

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft.

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt.

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte.

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner.

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen.

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.

Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken.

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen.

Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch.

Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet.

1.5.3. Medizinische Versorgung (LIB)

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20.

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren.

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt, Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund zehn Mio. Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung.

Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung.

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden, was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen.

Nur eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen.

Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar, und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf.

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall. Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert.

1.5.4. Ethnische Gruppen (LIB)

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben.

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin.

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans.

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen.

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an.

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden.

1.5.5. Religionen (LIB)

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden.

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.

1.5.5.1. Schiiten (LIB)

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Vertreter der überwiegend schiitischen Hazara-Gemeinschaft sagen weiterhin, dass die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten unzureichend sind. Vertreter der Schiiten sagen, dass sie keine Erhöhung des Schutzes durch die Afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) festgestellt haben; sie sagen jedoch, dass die Regierung vor großen schiitischen Versammlungen direkt Waffen an die schiitische Gemeinschaft verteilt hat.

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige Schiiten haben weiterhin hochrangige Positionen in der Regierung inne, darunter der zweite Vizepräsident Sarwar Danish und eine Reihe von stellvertretenden Ministern, Gouverneuren und ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs, aber anders als in den Vorjahren keine Positionen auf Kabinettsebene. Schiitische Führer erklären weiterhin, dass der Anteil der von Schiiten besetzten offiziellen Positionen nicht ihrer Einschätzung der Demographie des Landes entspreche, was sie auf die Marginalisierung von Minderheitengruppen durch die Regierung und das Fehlen eines unterstützenden sozialen Umfelds zurückführen. Sunnitische Mitglieder des Ulema-Rates erklären jedoch weiterhin, dass Schiiten in der Regierung überrepräsentiert seien, basierend auf sunnitischen Schätzungen des Anteils der Schiiten an der Bevölkerung. Drei ismailitische Muslime waren Mitglieder des Parlaments, einer weniger als 2019, und der Staatsminister für Frieden, Sadat Mansoor Naderi, ist ebenfalls ein ismailitischer Muslim. Führer der ismailitischen Gemeinschaft berichten weiterhin von Bedenken über den, wie sie es nennen, Ausschluss von Ismailis aus anderen Positionen der politischen Autorität.

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30%. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern.

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage (LIB)

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2020 gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog.

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, die glaubwürdige Beschwerden überprüft und an die Generalstaatsanwaltschaft zur weiteren Untersuchung und Strafverfolgung weiterleitet. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte; das Komitee für Drogenbekämpfung, Rauschmittel und ethischen Missbrauch sowie der Justiz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss.

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten.

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Die Regierung erzielt Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumt es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen.

Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus.

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen. Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, hat die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen von 54 auf 14 Delikte reduziert. Vorgesehen ist die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt. Sie wird durch Erhängen ausgeführt. Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch sog. „Zina“, Straßenraub). In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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